Sozialismus von unten
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Tony Cliff

 

Studie über Rosa Luxemburg

(1959)


Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel Rosa Luxemburg, a Study 1959 als Nr.2 u. 3 der Zeitschrift International Socialism – Quarterly for Marxist Theory, London.
Meino Büning und Helmut Dahmer besorgten zum 50. Jahrestag der Ermordung von Rosa Luxemburg. Karl Liebknecht und Leo Jogiches die Übersetzung nach der 2. Auflage von 1968.
© 1959 by Tony Cliff, London.
© 2002 VGZA e.V., Ff/M.
Alle Rechte vorbehalten




Inhalt

Verzeichnis der Abkürzungen
Vorbemerkung zur englischen Ausgabe
I. Rosa Luxemburg: Biographischer Abriß
II. Sozialreform oder Revolution
III. Massenstreik und Revolution
IV. Kampf gegen Imperialismus und Krieg
V. Spontaneität, Bewußtsein und Organisation
VI. Rosa Luxemburg und die nationale Frage
VII. R. Luxemburgs Kritik der bolschewistischen Regierung
VIII. Die Akkumulation des Kapitals
IX. Rosa Luxemburgs historische Bedeutung






Vorbemerkung zur englischen Ausgabe

Am 15. Januar 1919 zertrümmerte der Gewehrkolben eines Soldaten den Schädel Rosa Luxemburgs, eines revolutionären Genies, einer Kämpferin und Denkerin. Als einzigartiges Beispiel für die Einheit von Theorie und Praxis verlangt Rosa Luxemburgs Leben eine Darstellung ihres Handelns und ihres Denkens – beide sind nicht voneinander zu trennen. Zwar kann man im Rahmen einer Broschüre kaum hoffen, beiden gerecht werden zu können. Um also nicht zwischen zwei Stühle zu geraten, konzentriert sich die vorliegende Arbeit hauptsächlich auf Rosa Luxemburgs Schriften, da diese ihren wichtigsten bleibenden Beitrag zur internationalen sozialistischen Bewegung darstellen.

Nur wenige ihrer Arbeiten sind bisher ins Englische übersetzt worden. Es ist deshalb angebracht, eine möglichst umfassende Auswahl ihres Werkes wiederzugeben.

Als wissenschaftliche Sozialistin, deren Motto es war, alles in Frage zu stellen, hätte Rosa Luxemburg sich gewiß nichts Besseres gewünscht, als eine kritische Wertung ihrer eigenen Arbeit. Die vorliegende Untersuchung ist im Geist der Bewunderung und Kritik geschrieben.

Tony Cliff, London 1959






I. Rosa Luxemburg:
Biographischer Abriß [1]

Rosa Luxemburg wurde am 5. März 1871 in der kleinen polnischen Stadt Zamosc geboren. Seit ihrer frühesten Jugend war sie in der sozialistischen Bewegung aktiv. Sie schloß sich einer revolutionären Partei namens Proletariat an, die 1882 gegründet worden war, ungefähr 21 Jahre bevor die Sozialdemokratische Partei Rußlands (Bolschewiki und Menschewiki) entstand. Von Anfang an war Proletariat den Grundsätzen und dem Programm nach der revolutionären Bewegung Rußlands um viele Schritte voraus. [2] Während sich die russische revolutionäre Bewegung noch auf den individuellen Terrorismus weniger heroischer Intellektueller beschränkte, organisierte Proletariat schon Tausende von Arbeitern und führte sie zum Streik. 1886 wurde Proletariat jedoch durch die Hinrichtung von vier Führern, die Verurteilung 23 anderer zu langjähriger Zwangsarbeit und die Verbannung von etwa 200 Mitgliedern praktisch paralysiert. Nur kleine Zirkel retteten sich über diesen Zusammenbruch, und einem von diesen schloß sich Rosa Luxemburg im Alter von 16 Jahren an. 1889 war die Polizei auf sie aufmerksam geworden, und sie mußte Polen verlassen, da ihre Genossen meinten, sie könne im Ausland wertvollere Arbeit leisten als im Gefängnis. Sie ging in die Schweiz, nach Zürich, dem wichtigsten Zentrum der polnischen und russischen Emigranten. Sie besuchte dort die Universität und studierte Naturwissenschaften, Mathematik und Volkswirtschaftslehre. Sie arbeitete aktiv in der örtlichen Arbeiterbewegung und nahm lebhaften Anteil am intensiven intellektuellen Leben der revolutionären Emigranten. Nur wenige Jahre später war Rosa Luxemburg bereits als führende Theoretikerin der revolutionären sozialistischen Partei Polens anerkannt. Sie wurde der wichtigste Mitarbeiter der Parteizeitung Sprawa Robotnicza (Sache der Arbeiter), die in Paris erschien. 1894 wurde der Name der Partei, Proletariat, in Sozialdemokratie des Königreichs Polens (SDKP) geändert; kurz darauf wurde noch Litauen in den Namen miteinbezogen. Rosa blieb bis ans Ende ihres Lebens die führende Theoretikerin dieser Partei (SDKPiL).

Im August 1893 vertrat sie die Partei auf dem Kongreß der sozialistischen Internationale. Sie mußte sich dort als junge 22jährige Frau mit bekannten Veteranen einer anderen polnischen Partei auseinandersetzen, der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS), deren wichtigster Programmpunkt die Unabhängigkeit Polens war und die von allen erfahrenen Führern des internationalen Sozialismus anerkannt wurde. Die Unterstützung der nationalen Bewegung in Polen hatte eine lange Tradition; auch Marx und Engels hatten ihr in ihrer Politik eine wichtige Rolle zugemessen. Dessen ungeachtet griff Rosa Luxemburg die PPS an und beschuldigte sie eindeutig nationalistischer Tendenzen und der Absicht, die Arbeiter vom Klassenkampf abzulenken. Und sie wagte es, eine andere Position als die Alten einzunehmen und sich der Parole „Unabhängigkeit für Polen“ entgegenzustellen. (Eine Darstellung von Rosa Luxemburgs Haltung zur nationalen Frage findet sich in Kapitel VI). Ihre Gegner überhäuften sie mit Schmähungen, und einige von ihnen, wie z.B. der alte Schüler und Freund von Marx und Engels, Wilhelm Liebknecht, ging gar soweit, sie als eine Agentin der zaristischen Geheimpolizei zu verdächtigen. Sie beharrte jedoch auf ihrem Standpunkt.

Sie machte eine sprunghafte geistige Entwicklung durch. Unwiderstehlich zog es sie nach Deutschland, dem Zentrum der internationalen Arbeiterbewegung, wohin sie 1898 übersiedelte.

Sie begann eifrig zu schreiben und wurde nach einiger Zeit einer der wichtigsten Mitarbeiter der bedeutendsten damaligen marxistischen theoretischen Zeitschrift, der Neuen Zeit. Unbeirrbar in Urteil und Kritik, ließ sie sich auch nicht von dem ungeheuren Prestige des Chefredakteurs Karl Kautsky, „dem Papst des Marxismus“, von ihren erarbeiteten Meinungen abbringen, wenn sie von deren Richtigkeit überzeugt war.

Rosa Luxemburg setzte sich mit Leib und Seele für die deutsche Arbeiterbewegung ein. Sie arbeitete regelmäßig an einer Reihe sozialistischer Zeitungen mit – in einigen Fällen als Redakteur –, sie sprach auf zahlreichen Massenveranstaltungen und widmete sich energisch jeder Arbeit, die die Bewegung von ihr forderte. Ihre Reden und Artikel waren durchweg originelle, schöpferische Arbeiten, in denen sie mehr die Vernunft als das Gefühl ansprach und in denen sie den Horizont ihrer Leser stets erweiterte.

Die deutsche Bewegung war damals in zwei Hauptrichtungen gespalten: in eine reformistische und eine revolutionäre, von denen die erste an Stärke zunahm. Deutschland hatte seit der Krise von 1873 steten Wohlstand genossen. Der Lebensstandard der Arbeiter war zwar langsam, aber ununterbrochen gestiegen; Gewerkschaften und Genossenschaften wurden stärker. Vor diesem Hintergrund entfernte sich die Bürokratie dieser Bewegung zusammen mit der wachsenden parlamentarischen Vertretung der sozialdemokratischen Partei mehr und mehr von jeder revolutionären Konzeption und unterstützte besonders diejenigen, die bereits den Gradualismus oder Reformismus zum Prinzip erhoben. Der wichtigste Sprecher dieser Richtung war Eduard Bernstein, ein Schüler von Engels. Zwischen 1896 und 1898 schrieb er in der Neuen Zeit eine Reihe von Artikeln über Probleme des Sozialismus, in denen er die Prinzipien des Marxismus immer offener angriff. Eine lange und heftige Diskussion schloß sich an. Rosa Luxemburg, die sich soeben erst der deutschen Arbeiterbewegung angeschlossen hatte, widmete sich sofort der Verteidigung des Marxismus. In glänzendem Stil und mit herrlichem Schwung attackierte sie das Krebsgeschwür des Reformismus in ihrer Broschüre Sozialreform oder Revolution? (eine Darstellung der Luxemburgschen Kritik am Reformismus findet sich in Kapitel II).

Bald darauf bildete 1899 der französische „Sozialist“ Millerand zusammen mit einer kapitalistischen Partei eine Koalitionsregierung. Rosa Luxemburg beobachtete dieses Experiment genau und analysierte es in einer Reihe glänzender Artikel über die Situation der französischen Arbeiterbewegung im allgemeinen und die Frage der Koalitionsregierungen im besonderen (siehe Kapitel II). Nach MacDonalds Fiasko in England, nach der Niederlage der Weimarer Republik in Deutschland, der Volksfront in Frankreich der dreißiger Jahre und der französischen Koalitionsregierungen nach dem Zweiten Weltkrieg ist es klar, daß die von Rosa Luxemburg gezogenen Lehren nicht nur von historischem Interesse sind.

In den Jahren 1903-04 stürzte sich Rosa Luxemburg in eine Polemik gegen Lenin, mit dem sie in der nationalen Frage zusammenstieß, (siehe Kapitel VI), aber auch in der Diskussion über die Konzeption der Partei und das Verhältnis von Partei und Massenaktivität (siehe Kapitel V). 1904 wurde sie wegen „Beleidigung des Kaisers“ zu drei Monaten Gefängnis verurteilt, von denen sie einen absaß.

1905, bei Ausbruch der ersten russischen Revolution, schrieb sie eine Reihe von Artikeln und Broschüren für die polnische Partei, in denen sie den Gedanken der permanenten Revolution entwickelte, der unabhängig von ihr auch schon von Trotzki und Parvus vorgetragen worden war, damals aber nur von wenigen Marxisten vertreten wurde. Während sowohl die Menschewiki als auch die Bolschewiki, trotz der tiefen Kluft, die sie trennte, glaubten die russischen Revolution müsse eine bürgerlich-demokratische Revolution sein, vertrat Rosa die Ansicht, sie würde sich über das Stadium der bürgerlichen Demokratie hinaus entwickeln und entweder zur Arbeitermacht oder zur vollständigen Niederlage führen. Ihre Parole hieß „revolutionäre Diktatur des Proletariats, unterstützt von der Bauernschaft“. [3]

Über die Revolution nur zu denken, zu schreiben und zu sprechen, konnte Rosa Luxemburg jedoch nicht genügen. Das Motto ihres Lebens hieß: „Am Anfang war die Tat“. Und obwohl sie damals bei schlechter Gesundheit war, fuhr sie, sobald ihr das möglich war, im Dezember 1905 nach Russisch-Polen. Der Zenit der Revolution war bereits überschritten. Die Massen waren zwar noch aktiv, aber sie zögerten nun, während die Reaktion ihr Haupt erhob. Alle Versammlungen waren verboten, aber die Arbeiter hielten noch immer in den Fabriken, ihren Stützpunkten, Meetings ab. Alle Arbeiterzeitungen waren verboten, aber Rosa Luxemburgs Parteizeitung erschien auch weiterhin täglich, obwohl sie im Untergrund gedruckt werden mußte. Am 4. März 1906 wurde sie verhaftet und vier Monate gefangengehalten, zuerst im Gefängnis, dann in einer Festung. Danach wurde sie wegen ihres schlechten Gesundheitszustandes und ihrer deutschen Staatsangehörigkeit entlassen und ausgewiesen. Die russische Revolution erfüllte einen Gedanken mit Leben, den Rosa Luxemburg schon einige Jahre früher entwickelt hatte: daß Massenstreiks – politische und ökonomische – ein entscheidendes Element im revolutionären Kampf der Arbeiter um die Macht bilden und die sozialistische von allen vorangegangenen Revolutionen unterscheiden. Nun arbeitete sie diesen Gedanken auf der Grundlage neuer historischer Erfahrungen aus (siehe Kapitel III).

Weil sie in diesem Sinne auf einer öffentlichen Versammlung gesprochen hatte, wurde sie wegen „Aufhetzens zur Gewalt“ angeklagt und kam für zwei weitere Monate ins Gefängnis, dieses Mal in Deutschland. 1907 nahm sie am Kongreß der Sozialistischen Internationale in Stuttgart teil. Sie sprach im Namen der russischen und der polnischen Partei und nahm eine konsequente revolutionäre Haltung gegenüber dem imperialistischen Krieg und dem Militarismus ein (siehe Kapitel IV).

Zwischen 1905 und 1910 verbreiterte sich die Kluft zwischen Rosa Luxemburg und der zentristischen Führung der SPD, deren theoretischer Sprecher Karl Kautsky war. Bereits 1907 hatte Rosa Luxemburg ihre Befürchtung geäußert, daß die Parteiführer trotz ihres Bekenntnisses zum Marxismus, in einer Situation, in der es auf entschlossenes Handeln ankäme, versagen würden. Der Höhepunkt war 1910 erreicht, als es zwischen Rosa Luxemburg und Karl Kautsky über die Frage des Weges der Arbeiter zur Macht zum offenen Bruch kam. Von nun an war die SPD in drei Richtungen gespalten: die Reformisten, die in zunehmendem Maße eine imperialistische Politik verfolgten: das sogenannte Marxistische Zentrum unter der Führung von Kautsky (den Luxemburg nun mit dem Spitznamen „Führer des Sumpfes“ bedachte), das seinen verbalen Radikalismus bewahrte, sich aber immer mehr auf parlamentarische Kampfmethoden beschränkte; und den revolutionären Flügel, der hauptsächlich von Rosa Luxemburg inspiriert wurde. 1913 veröffentlichte Rosa Luxemburg ihre wichtigste theoretische Arbeit: Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus. Sie ist ohne Zweifel seit dem Kapital einer der originellsten Beiträge zur marxistischen Wirtschaftstheorie. Mit seinem Wissensreichtum, seinem glänzenden Stil, seiner analytischen Genauigkeit und geistigen Unabhängigkeit kam dieses Buch wie Marx’ Biograph Mehring feststellte, dem Kapital von allen marxistischen Werken am nächsten. Sein zentrales Problem ist von großer theoretischer und politischer Bedeutung: Welche Auswirkungen hat die Expansion des Kapitalismus in neue, rückständige Gebiete auf die inneren Widersprüche des Kapitalismus, auf die Stabilität des Systems (eine Analyse dieses Werks findet sich in Kapitel VIII). Am 20. Februar 1914 wurde Rosa Luxemburg verhaftet, weil sie Soldaten zur Meuterei aufgehetzt habe. Die Anklage stützte sich auf eine Rede, in der Rosa Luxemburg auf einer Volksversammlung in Fechenheim bei Frankfurt am 25. September 1913 ausgerufen hatte: „Wenn uns zugemutet wird, die Mordwaffen gegen unsere französischen oder anderen ausländischen Brüder zu erheben, so erklären wir: ‚Nein, das tun wir nicht!‘.“ [4] Vor Gericht wurde die Angeklagte zum Ankläger und ihre Rede vor der Frankfurter Strafkammer, die später unter dem Titel Militarismus, Krieg und Arbeiterklasse [5] veröffentlicht wurde, ist eine der glänzendsten revolutionär-sozialistischen Verurteilungen des Imperialismus. Sie wurde zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, doch nicht sofort verhaftet. Nachdem sie das Gericht verlassen hatte, ging sie sogleich zu einer Massenveranstaltung, auf der sie ihre revolutionäre Propaganda gegen den Krieg fortsetzte.

Als der erste Weltkrieg ausbrach, wurden praktisch alle Führer der sozialdemokratischen Partei von der patriotischen Welle mitgerissen. Am 3. August 1914 entschloß sich die Parlamentsfraktion der deutschen Sozialdemokraten, für die Kriegskredite der kaiserlichen Regierung zu stimmen. Von den 111 Abgeordneten wollten nur 15 dagegen stimmen. Sie unterwarfen sich jedoch der Parteidisziplin, und am 4. August stimmte die gesamte sozialdemokratische Fraktion einstimmig für die Kredite. Wenige Monate später, am 2. Dezember, setzte sich Karl Liebknecht über die Parteidisziplin hinweg, um nach seinem Gewissen abzustimmen. Seine Stimme war die einzige gegen die Kriegskredite.

Diese Entscheidung der Parteiführung war ein schwerer Schlag für Rosa Luxemburg. Sie ließ sich jedoch nicht von Verzweiflung überwältigen. An demselben 4. August, an dem sich die sozialdemokratischen Abgeordneten um die Fahne des Kaisers scharten, traf sich eine kleine Gruppe von Sozialisten in ihrer Wohnung und beschloß, den Kampf gegen den Krieg aufzunehmen. Diese Gruppe, geführt von Luxemburg, Karl Liebknecht, Franz Mehring und Clara Zetkin, wurde schließlich zum Spartakusbund. Vier Jahre lang, meistens vom Gefängnis aus, führte, inspirierte und organisierte Rosa Luxemburg die Revolutionäre und hielt die Fahne des internationalen Sozialismus hoch (genauere Einzelheiten über ihre Anti-Kriegs-Politik in Kapitel IV).

Der Ausbruch des Krieges schnitt Rosa Luxemburg von der polnischen Arbeiterbewegung ab, aber die Tatsache, daß ihre eigene polnische Partei dem Gedanken des internationalen Sozialismus treu blieb, muß ihr tiefe Befriedigung verschafft haben.

Die Februarrevolution 1917 in Rußland war eine Verwirklichung ihrer Politik der revolutionären Opposition gegen den Krieg und ihres Kampfes für den Sturz der imperialistischen Regierungen. Fieberhaft verfolgte sie die Ereignisse vom Gefängnis aus und untersuchte sie genau, um daraus Lehren für die Zukunft zu ziehen. Ohne zu zögern, stellte sie fest, daß der Februar-Sieg nicht das Ende des Kampfes sei, sondern nur sein Anfang – daß nur die Macht der Arbeiterklasse den Frieden schaffen könne. Aus dem Gefängnis erließ sie einen Aufruf nach dem anderen an die deutschen Arbeiter und Soldaten, es ihren russischen Brüdern gleichzutun, die Junker und Kapitalisten zu stürzen, um so nicht nur die russische Revolution zu unterstützen, sondern sich auch gleichzeitig vor dem Verbluten unter den Ruinen der kapitalistischen Barbarei zu bewahren.

Als die Oktoberrevolution ausbrach, begrüßte Rosa Luxemburg sie enthusiastisch. Gleichzeitig glaubte sie aber nicht, daß eine unkritische Anerkennung der bolschewistischen Politik der Arbeiterbewegung diene. Sie sah klar voraus, daß, falls die russische Revolution isoliert bliebe, eine Reihe von Deformationen ihre Entwicklung beeinträchtigen würde; und schon frühzeitig wies sie auf solche Verzerrungen in der Entwicklung Sowjetrußlands hin, insbesondere in der Frage der allgemeinen Demokratisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse (siehe Kapitel VII).

Am 8. November 1918 befreite die deutsche Revolution Rosa Luxemburg aus dem Gefängnis. Mit Energie und Enthusiasmus warf sie sich sofort in die Arbeit. Unglücklicherweise waren die Kräfte der Reaktion sehr stark. Die rechten sozialdemokratischen Führer und die Generäle der alten kaiserlichen Armee verbanden sich, um das revolutionäre Proletariat zu unterdrücken. Tausende von Arbeitern wurden ermordet; am 15. Januar 1919 wurde Karl Liebknecht getötet; am gleichen Tag zertrümmerte der Gewehrkolben eines Soldaten den Schädel Rosa Luxemburgs.

Mit ihrem Tod verlor die internationale Arbeiterbewegung einen ihrer vortrefflichsten Führer. Der „genialste Kopf, der bisher unter den wissenschaftlichen Erben von Marx und Engels hervorgetreten ist ...“ [6], wie Franz Mehring sie genannt hatte, war nicht mehr. Im Leben wie im Tode gab sie alles für die Befreiung der Menschheit.

 

 

Anmerkungen

1. Vgl. die beiden großen Biographien von Paul Frölich, Rosa Luxemburg, Gedanke und Tat, Hamburg 1949, und Paul Nettl, Rosa Luxemburg, Köln/Berlin 1967 (Anm. d. Übersetzer)

2. Vgl. dazu Rosa Luxemburgs jetzt erstmals ins Deutsche übersetzte Arbeit: Der Partei Proletariat zum Gedächtnis (1903), in PS III, S.23-82 (Anm. d. Übersetzer)

3. Nicht umsonst hat Stalin Rosa Luxemburg 1931 posthum als „Trotzkistin“ disqualifizieren wollen. (Vgl. Stalin: Über einige Fragen der Geschichte des Bolschewismus. Brief an die Redaktion der Zeitschrift Proletarskaja Rewoluzija, Nr.6“ (113), 1931, Werke, Bd.13 (Juli 1930-Januar 1934), Berlin 1955, S.425-38.)

4. ARuS II, S.723, Anm.50.

5. ARuS II, S.491-504.

6. Franz Mehring, Historisch-materialistische Literatur, in: Die Neue Zeit, 25. Jg., II Bd., Nr.41 v. 10. Juli 1907, S.507.

 






II. Sozialreform oder Revolution

 

Verteidigung des Marxismus

Durch das gesamte Werk Rosa Luxemburgs zieht sich wie ein roter Faden der Kampf gegen den Reformismus, der die Ziele der Arbeiterbewegung im Zusammenspiel mit dem Kapitalismus beschränkt, statt ihn revolutionär zu stürzen. Der prominenteste Sprecher des Reformismus (oder Revisionismus, wie er damals hieß), war Eduard Bernstein; ihn bekämpfte Rosa Luxemburg als ersten. Sie widerlegte seine Ansichten mit besonderer Schärfe in ihrer Broschüre Sozialreform oder Revolution?, die aus zwei Artikelserien entstand, die in der Leipziger Volkszeitung veröffentlicht worden waren – die erste im September 1898 als Antwort auf Bernsteins Artikel in der Neuen Zeit, die zweite im April 1899 als Antwort auf sein Buch Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie.

Bernstein gab eine Neuinterpretation des Wesens der Arbeiterbewegung als einer „demokratisch-sozialistischen Reformpartei“ statt einer Partei der sozialen Revolution. Im Gegensatz zu Marx behauptete er, die Widersprüche im Kapitalismus verschärften sich nicht, sondern verlören ständig an Schärfe; der Kapitalismus werde ständig zahmer, annehmbarer. Kartelle, Trusts und Kreditinstitutionen unterwürfen schrittweise die anarchische Struktur des Systems festen Regeln, so daß anstelle der von Marx vorausgesehenen regelmäßigen Krisen eine Tendenz zu ständiger Prosperität bestehe. Auch die sozialen Widersprüche würden schwächer, und zwar, wie Bernstein meinte, auf Grund der Lebensfähigkeit der Mittelklassen und der demokratischeren Verteilung des kapitalistischen Eigentums durch Aktiengesellschaften. Die Anpassungsfähigkeit des Systems gegenüber den Bedürfnissen der Zeit zeige sich auch in der Verbesserung der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Stellung der Arbeiterklasse als eines Resultats der Tätigkeit der Gewerkschaften und Genossenschaften.

Aus dieser Analyse zog Bernstein den Schluß, daß sich die sozialistische Partei der schrittweisen Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse widmen müsse, nicht aber der revolutionären Übernahme der politischen Macht.

 

 

Widersprüche im Kapitalismus

Im Gegensatz zu Bernstein argumentierte Rosa Luxemburg, daß die kapitalistischen Monopolorganisationen (Kartelle und Trusts) und Kreditinstitutionen dazu tendierten, die Antagonismen im Kapitalismus zu vertiefen, nicht aber zu mildern. Sie beschreibt deren Funktion:

Im ganzen erscheinen also die Kartelle ... als bestimmte Entwicklungsphasen, die in letzter Linie die Anarchie der kapitalistischen Welt nur noch vergrößern und alle ihre inneren Widersprüche zum Ausdruck und zur Reife bringen. Sie verschärfen den Widerspruch zwischen der Produktionsweise und der Austauschweise, indem sie den Kampf zwischen den Produzenten und den Konsumenten auf die Spitze treiben ... Sie verschärfen ferner den Widerspruch zwischen der Produktions- und der Aneignungsweise, indem sie der Arbeiterschaft die Obermacht des organisierten Kapitals in brutalster Form entgegenstellen und so den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit aufs äußerste steigern.

Sie verschärfen endlich den Widerspruch zwischen dem internationalen Charakter der kapitalistischen Weltwirtschaft und dem nationalen Charakter des kapitalistischen Staates, indem sie zur Begleiterscheinung einen allgemeinen Zollkrieg haben und so die Gegensätze zwischen den einzelnen kapitalistischen Staaten auf die Spitze treiben. Dazu kommt die direkte, höchst revolutionäre Wirkung der Kartelle auf die Konzentration der Produktion, technische Vervollkommnung usw.

So erscheinen die Kartelle und Trusts in ihrer endgültigen Wirkung auf die kapitalistische Wirtschaft nicht nur als kein „Anpassungsmittel“, das ihre Widersprüche verwischt, sondern geradezu als eines der Mittel, die sie selbst zur Vergrößerung der eigenen Anarchie, zur Austragung der in ihr enthaltenen Widersprüche, zur Beschleunigung des eigenen Unterganges geschaffen hat. [1]

Auch der Kredit, sagte Rosa Luxemburg, beseitigt keinesfalls die kapitalistische Krise, sondern vertieft sie. Die beiden wichtigsten Funktionen des Kredits sind die Expansion der Produktion und die Erleichterung des Austausches, und beide Funktionen tragen zur Instabilität des Systems bei. Die kapitalistischen Wirtschaftskrisen entwickeln sich als Ergebnis der Widersprüche zwischen der ständigen Expansionsneigung der Produktion und der begrenzten Aufnahmefähigkeit des kapitalistischen Marktes. Der Kredit verstärkt, indem er die Produktion anheizt, die Tendenz zur Überproduktion und tendiert, da er selbst unter widrigen Umständen einer gefährlichen Instabilität unterworfen ist, dazu, die Wirtschaft noch mehr zu erschüttern und die Krise zu verschärfen. Die Rolle des Kredits als Ermutigung zu Spekulationen ist ein weiterer Faktor, der die Instabilität der kapitalistischen Produktionsweise erhöht.

Bernsteins Trumpfkarte für sein Argument, daß die Widersprüche des Kapitalismus abnähmen, war, daß der Kapitalismus zwei Jahrzehnte lang, seit 1873, keine größere Krise erlebt hatte. Aber, um mit Rosa Luxemburg zu sprechen:

Kaum hatte Bernstein 1898 die Marxsche Krisentheorie zum alten Eisen geworfen, als im Jahre 1900 eine allgemeine heftige Krise ausbrach und sieben Jahre später, 1907, eine erneute Krise von den Vereinigten Staaten aus über den Weltmarkt gezogen kam. So war durch laut sprechende Tatsachen selbst die Theorie von der „Anpassung“ des Kapitalismus zu Boden geschlagen. Zugleich war es damit erwiesen, daß diejenigen, die die Marxsche Krisentheorie, nur weil sie in zwei angeblichen „Verfallsterminen“ versagt hatte, preisgaben, den Kern dieser Theorie mit einer unwesentlichen äußerlichen Einzelheit ihrer Form – mit dem zehnjährigen Zyklus verwechselten. Die Formulierung des Kreislaufs der modernen kapitalistischen Industrie als einer zehnjährigen Periode war aber bei Marx und Engels in den 60er und 70er Jahren eine einfache Konstatierung der Tatsachen, die ihrerseits nicht auf irgendwelchen Naturgesetzen, sondern auf einer Reihe bestimmter geschichtlicher Umstände beruhten, die mit der sprungweisen Ausdehnung der Wirkungssphäre des jungen Kapitalismus in Verbindung standen. [2]

Mögen sich diese Krisen alle zehn, alle fünf oder abwechselnd alle zwanzig Jahre und alle acht Jahre wiederholen ... Die Annahme, die kapitalistische Produktion könnte sich dem Austausch „anpassen“, setzt eins von beiden voraus: entweder, daß der Weltmarkt unumschränkt und ins Unendliche wächst, oder umgekehrt, daß die Produktivkräfte in ihrem Wachstum gehemmt werden, damit sie nicht über die Marktschranken hinauseilen. Ersteres ist eine physische Unmöglichkeit, letzterem steht die Tatsache entgegen, daß auf Schritt und Tritt technische Umwälzungen auf allen Gebieten der Produktion vor sich gehen und jeden Tag neue Produktivkräfte wachrufen. [3]

Rosa Luxemburg sagte, die Grundlage des Marxismus sei tatsächlich die Verschärfung der Widersprüche des Kapitalismus – zwischen den sich entfaltenden Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen. Daß diese Widersprüche ihren Ausdruck in einer katastrophalen allgemeinen Krise finden sollten, sei „für den Grundgedanken unwesentlich und nebensächlich“. [4] Die Form des grundsätzlichen Widerspruchs ist nicht so wichtig wie sein Inhalt. (Übrigens hätte Rosa Luxemburg wahrscheinlich kaum den Gedanken bestritten, daß eine Form, in der sich die grundlegenden Widersprüche ausdrücken können, die ständige Kriegswirtschaft mit ihrer ungeheuren Verschwendung von Produktivkräften darstellt.)

Rosa Luxemburg meinte, wenn Bernstein die sich vertiefenden Widersprüche im Kapitalismus leugne, entzöge er damit dem Kampf für den Sozialismus seine Grundlage. Der Sozialismus werde somit aus einer ökonomischen Notwendigkeit in einen Wunschtraum, ein Utopia verwandelt. Bernstein klagte:

Wozu die Ableitung des Sozialismus aus dem ökonomischen Zwange? Wozu die Degradierung der Einsicht, des Rechtsbewußtseins, des Willens der Menschen? [5]

Rosa Luxemburg kommentierte:

Die Bernsteinsche gerechtere Verteilung soll also kraft des freien, nicht im Dienste der wirtschaftlichen Notwendigkeit wirkenden Willens der Menschen, oder genauer, da der Wille selbst bloß ein Instrument ist, kraft der Einsicht in die Gerechtigkeit, kurz, kraft der Gerechtigkeitsidee verwirklicht werden.

Da sind wir glücklich bei dem Prinzip der Gerechtigkeit angelangt, bei diesem alten, seit Jahrtausenden von allen Weltverbesserern in Ermangelung sicherer geschichtlicher Beförderungsmittel gerittener Renner, bei der klapprigen Rosinante, auf der alle Don Quichottes der Geschichte zur großen Weltreform hinausritten, um schließlich nichts anderes heimzubringen als ein blaues Auge. [6]

Abgelöst von den Widersprüchen des Kapitalismus wird der Drang zum Sozialismus zur bloßen idealistischen Schimäre.

 

 

Die Rolle der Gewerkschaften

Wie oben bereits bemerkt, sah Bernstein (und viele Bernsteins nach ihm – siehe zum Beispiel John Strachey: Kapitalismus heute und morgen [7]) in den Gewerkschaften eine Waffe zur Schwächung des Kapitalismus. Rosa Luxemburg vertrat demgegenüber die Ansicht, daß die Gewerkschaften zwar in gewissem Maße das Lohnniveau beeinflussen, es aber nicht beseitigen können, und ebensowenig die grundlegenden, objektiven ökonomischen Faktoren, die das Lohnniveau determinieren.

Die Gewerkschaften ... sind ... nichts ... als die organisierte Defensive der Arbeitskraft gegen die Angriffe des Profits, als die Abwehr der Arbeiterklasse gegen die herabdrückende Tendenz der kapitalistischen Wirtschaft. Dies aus zwei Gründen.

Erstens haben die Gewerkschaften zur Aufgabe, die Marktlage der Ware Arbeitskraft durch ihre Organisation zu beeinflussen, die Organisation wird aber durch den Prozeß der Proletarisierung der Mittelschichten, der dem Arbeitsmarkt stets neue Ware zuführt, beständig durchbrochen. Zweitens bezwecken die Gewerkschaften die Hebung der Lebenshaltung, die Vergrößerung des Anteils der Arbeiterklasse am gesellschaftlichen Reichtum, dieser Anteil wird aber durch das Wachstum der Produktivität der Arbeit mit der Fatalität eines Naturprozesses beständig herabgedrückt ...

In beiden wirtschaftlichen Hauptfunktionen verwandelt sich also der gewerkschaftliche Kampf kraft objektiver Vorgänge in der kapitalistischen Gesellschaft in eine Art Sisyphusarbeit. [8] Diese Sisyphusarbeit ist allerdings unentbehrlich, soll der Arbeiter überhaupt zu der ihm nach der jeweiligen Marktlage zufallenden Lohnrate kommen, soll das kapitalistische Lohngesetz verwirklicht und die herabdrückende Tendenz der wirtschaftlichen Entwicklung in ihrer Wirkung paralysiert, oder genauer, abgeschwächt werden. [9]

Eine Sisyphusarbeit! Dieser Ausdruck brachte die deutschen Gewerkschaftsbürokraten zur Weißglut. Sie konnten nicht zugeben, daß der gewerkschaftliche Kampf, so nützlich er auch war, um die Arbeiter vor der drohenden Tendenz des Kapitalismus zur fortschreitenden Senkung ihres Lebensstandards zu schützen, die Befreiung der Arbeiterklasse nicht ersetzen kann.

 

 

Parlamentarismus

Während die Gewerkschaften (und Genossenschaften) für Bernstein die wichtigsten ökonomischen Hebel auf dem Wege zum Sozialismus darstellten, sah er in der parlamentarischen Demokratie den politischen Hebel für diesen Übergang. Das Parlament schien ihm die Verkörperung des gesamtgesellschaftlichen Willens, d.h. eine Institution über den Klassen zu sein. Rosa Luxemburg stellte demgegenüber fest:

Der heutige Staat ist eben keine „Gesellschaft“ im Sinne der „aufstrebenden Arbeiterklasse“, sondern Vertreter der kapitalistischen Gesellschaft, d.h. Klassenstaat. [10]

Und der Parlamentarismus im ganzen erscheint nicht als ein unmittelbar sozialistisches Element, das die kapitalistische Gesellschaft allmählich durchtränkt ..., sondern umgekehrt als ein spezifisches Mittel des bürgerlichen Klassenstaates, die kapitalistischen Gegensätze zur Reife und zur Ausbildung zu bringen. [11]

 

 

Koalitionsregierungen

Zur gleichen Zeit, da der Streit über den parlamentarischen Weg zum Sozialismus in Deutschland seinen Höhepunkt erreicht hatte, wurde das, was die Revisionisten für die Eroberung der politischen Macht mittels des Parlaments hielten, zum ersten Mal von französischen Sozialisten realisiert. Im Juni 1899 ging Alexandre Millerand in die radikale Regierung Waldeck-Rousseau und saß dort neben dem General Gallifet, dem Schlächter der Pariser Kommune. Diese Praxis wurde von dem französischen Sozialistenführer Jaurès und den Reformisten des rechten Flügels als ein großer taktischer Wendepunkt begrüßt. Die politische Macht wurde nun nicht mehr von der Bourgeoisie allein ausgeübt, sondern von Bourgeoisie und Proletariat gemeinsam, eine Situation, die ihnen zufolge den politischen Ausdruck des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus darstellte.

Rosa folgte diesem ersten Experiment einer Koalitionsregierung von kapitalistischen und sozialistischen Parteien mit gespannter Aufmerksamkeit und untersuchte es mit äußerster Gründlichkeit. Sie zeigte, daß diese Koalition die Arbeiterklasse, indem sie sie ganz und gar an die Regierung fesselte, daran hinderte, ihre wirkliche Macht zu zeigen. Und was die Opportunisten eine „unfruchtbare Opposition“ nannten, war eigentlich eine wesentlich effektivere und praktischere Politik: weit entfernt, praktische, handgreifliche Erfolge, unmittelbare Reformen fortschrittlichen Charakters unmöglich zu machen, ist die grundsätzliche Opposition vielmehr für jede Minderheitspartei im allgemeinen, ganz besonders aber für die sozialistische, das einzige wirksame Mittel, praktische Erfolge zu erzielen.“ [12] Die sozialistische Partei sollte nur solche Positionen einnehmen, die dem antikapitalistischen Kampf Raum lassen: „Es ist freilich Tatsache, daß die Sozialdemokratie, um praktisch zu wirken, alle erreichbaren Positionen im gegenwärtigen Staate einnehmen, überall vordringen muß. Allein als Voraussetzung gilt dabei, daß es Positionen sind, auf denen man den Klassenkampf, den Kampf mit der Bourgeoisie und ihrem Staate führen kann.“ [13]

Und sie schloß: „in der bürgerlichen Gesellschaft ist der Sozialdemokratie dem Wesen nach die Rolle einer oppositionellen Partei vorgezeichnet, als regierende darf sie nur auf den Trümmern des bürgerlichen Staates auftreten.“ [14] Auch auf die äußerste mögliche Gefahr des Koalitionsexperiments wies sie hin: „Jaurès, der unermüdliche Verteidiger der Republik, der den Boden für den Zäsarismus bereitet – es klingt wie ein schlechter Scherz. Aber solche Scherze bilden den alltäglichen Ernst der Geschichte.“ [15] Wie prophetisch! MacDonalds Fiasko in England, die Ablösung der Weimarer Republik durch Hitler, der Bankrott der Volksfront in den 30er Jahren und die Koalitionsregierungen in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg, die zu de Gaulle führten: das alles sind Resultate solcher Koalitionspolitik.

 

 

Revolutionäre Gewalt

Die Reformisten glaubten, Parlamentarismus und bürgerliche Legalität bedeuteten das Ende der Gewalt als eines Faktors der historischen Entwicklung. Rosa entgegnete ihnen:

Worin besteht eigentlich die ganze Funktion der bürgerlichen Gesetzlichkeit?

Wenn ein „freier Bürger“ von einem anderen gegen seinen Willen zwangsweise in ein enges, unwohnliches Gelaß gesteckt und dort eine Zeit lang gehalten wird, so versteht jeder, daß dies ein Gewaltakt ist. Sobald jedoch die Operation auf Grund eines gedruckten Buches, genannt Strafkodex, geschieht und das Gelaß „königlich preußisches Gefängnis oder Zuchthaus“ heißt, dann verwandelt sie sich in einen Akt der friedlichen Gesetzlichkeit. Wenn ein Mensch von einem anderen gegen seinen Willen zur systematischen Tötung von Nebenmenschen gezwungen wird, so ist es ein Gewaltakt. Sobald aber dasselbe „Militärdienst“ heißt, bildet sich der gute Bürger ein, im vollen Frieden der Gesetzlichkeit zu atmen. Wenn eine Person von einer anderen um einen Teil ihres Besitzes oder Verdienstes gebracht wird, so zweifelt kein Mensch, daß ein Gewaltakt vorliegt, heißt aber dieser Vorgang „indirekte Steuererhebung“, dann liegt bloß eine Ausübung der geltenden Gesetze vor.

Mit einem Worte: Was sich uns als bürgerliche Gesetzlichkeit präsentiert, ist nichts anderes als die von vornherein zur verpflichtenden Norm erhobene Gewalt der herrschenden Klasse. Ist diese Festlegung der einzelnen Gewaltakte zur obligatorischen Norm erst einmal geschehen, dann mag die Sache sich im bürgerlichen Juristenhirn und nicht minder im sozialistischen Opportunistenhirn auf den Kopf gestellt bespiegeln: die „gesetzliche Ordnung“ als eine selbständige Schöpfung der „Gerechtigkeit“ und die Zwangsgewalt des Staates bloß als eine Konsequenz, eine „Sanktion“ der Gesetze. In Wirklichkeit ist umgekehrt die bürgerliche Gesetzlichkeit (und der Parlamentarismus als eine Gesetzlichkeit im Werden) selbst nur eine bestimmte gesellschaftliche Erscheinungsform der aus der ökonomischen Basis emporgewachsenen politischen Gewalt der Bourgeoisie. [16]

Daher ist der Gedanke absurd, der Kapitalismus könne mittels der von ihm selbst produzierten Rechtsformen überwunden werden, denn diese sind ja im Grunde nichts anderes als Ausdruck bürgerlicher Gewalt. Letzten Endes braucht es für den Sturz des Kapitalismus revolutionäre Gewalt:

Die Gewalt ist und bleibt die ultima ratio auch der Arbeiterklasse, das bald in latentem, bald in aktivem Zustand wirkende oberste Gesetz des Klassenkampfes. Und wenn wir durch die parlamentarische wie jede andere Tätigkeit die Köpfe revolutionieren, so geschieht es, damit schließlich im Notfall die Revolution von den Köpfen in die Fäuste hinuntersteigt.

Wollte die Sozialdemokratie wirklich einmal, wie ihr die Opportunisten nahelegen, von vornherein und ein für allemal auf den Gebrauch der Gewalt verzichten und die Arbeitermassen auf die bürgerliche Gesetzlichkeit einschwören, dann würde ihr ganzer parlamentarischer und sonstiger politischer Kampf früher oder später kläglich in sich zusammenfallen, um der uneingeschränkten Herrschaft der Gewalt der Reaktion das Feld zu räumen. [17]

Aber obwohl Rosa Luxemburg wußte, daß die Arbeiter gezwungen waren, gegen Ausbeutung und Unterdrückung mit revolutionärer Gewalt anzugehen, litt sie unter jedem Tropfen vergossenen Blutes. Mitten in der deutschen Revolution schrieb sie: Ströme von Blut sind während der vier Jahre des imperialistischen Völkermordes geflossen. Nun müssen wir Sorge tragen, jeden Tropfen dieser kostbaren Flüssigkeit voll Achtung zu hüten und in Kristall zu fassen. „Rücksichtsloseste revolutionäre Tatkraft und weitherzigste Menschlichkeit, dies allein ist der wahre Odem des Sozialismus. Eine Welt muß umgestürzt werden, aber jede Träne, die geflossen ist, obwohl sie abgewischt werden konnte, ist eine Anklage; und ein zu wichtigem Tun eilender Mensch, der aus roher Unachtsamkeit einen Wurm zertritt, begeht ein Verbrechen.“ [18]

 

 

Hunger und Revolution

Unter Reformisten wie unter manchen, die sich selbst Revolutionäre nennen, herrscht der Glaube, nur Hunger könne Arbeiter dazu bringen, revolutionäre Wege zu beschreiten: Die besser gestellten Arbeiter von Mittel- und Westeuropa, so argumentierten die Reformisten, könnten daher nur sehr wenig von den hungrigen und unterdrückten russischen Arbeitern lernen. Rosa Luxemburg tat viel für eine Korrektur dieser falschen Auffassung, als sie 1906 schrieb:

Desgleichen liegt viel Übertreibung in der Vorstellung, als habe der Proletarier im Zarenreich vor der Revolution durchweg auf dem Lebensniveau eines Paupers gestanden. Gerade die jetzt im ökonomischen wie politischen Kampfe tätigste und eifrigste Schicht der großindustriellen und großstädtischen Arbeiter stand in bezug auf ihr materielles Lebensniveau kaum viel tiefer als die entsprechende Schicht des deutschen Proletariats, und in manchen Berufen kann man in Rußland gleiche, ja hier und da selbst höhere Lehne finden als in Deutschland. Auch in bezug auf die Arbeitszeit wird der Unterschied zwischen den großindustriellen Betrieben hier und dort kaum ein bedeutender sein. Somit sind die Vorstellungen, die mit einem vermeintlichen materiellen und kulturellen Helotentum der russischen Arbeiterschaft rechnen, ziemlich aus der Luft gegriffen. Dieser Vorstellung müßte bei einigem Nachdenken schon die Tatsache der Revolution selbst und der hervorragenden Rolle des Proletariats in ihr widersprechen. Mit Paupers werden keine Revolutionen von dieser politischen Reife und Gedankenklarheit gemacht, und der im Vordertreffen des Kampfes stehende Petersburger und Warschauer, Moskauer und Odessaer Industriearbeiter ist kulturell und geistig dem westeuropäischen Typus viel näher, als sich diejenigen denken, die als die einzige und unentbehrliche Kulturschule des Proletariats den bürgerlichen Parlamentarismus und die regelrechte Gewerkschaftspraxis betrachten. [19]

Übrigens können leere Mägen nicht nur zur Rebellion, sondern auch zur Unterwerfung führen.

 

 

Sozialreform oder Revolution

Rosa Luxemburg stand stets auf dem Boden des Klassenkampfes, gleichviel ob er auf Konzessionen der Kapitalistenklasse abzielte oder auf den Sturz des kapitalistischen Systems. Sie unterstützte den Kampf um soziale Reformen ebenso wie die soziale Revolution; sie betrachtete den Kampf um Reformen vor allem als Schule für den revolutionären Kampf, deren große historische Bedeutung sie aus der Analyse ihrer wechselseitigen Beziehungen ableitete.

Die gesetzliche Reform und die Revolution sind also nicht verschiedene Methoden des geschichtlichen Fortschritts, die man in dem Geschichtsbüfett nach Belieben wie heiße oder kalte Würstchen auswählen kann, sondern verschiedene Momente in der Entwicklung der Klassengesellschaft, die einander ebenso bedingen und ergänzen, zugleich aber ausschließen, wie zum Beispiel Südpol und Nordpol, wie Bourgeoisie und Proletariat.

Und zwar ist die jeweilige gesetzliche Verfassung bloß ein Produkt der Revolution. Während die Revolution der politische Schöpfungsakt der Klassengeschichte ist, ist die Gesetzgebung das politische Fortvegetieren der Gesellschaft. Die gesetzliche Reformarbeit hat eben in sich keine eigene, von der Revolution unabhängige Triebkraft, sie bewegt sich in jeder Geschichtsperiode nur auf der Linie und solange, als in ihr der ihr durch die letzte Umwälzung gegebene Fußtritt nachwirkt, oder, konkret gesprochen, nur im Rahmen der durch die letzte Umwälzung in die Welt gesetzten Gesellschaftsform. Das ist eben der Kernpunkt der Frage.

Es ist grundfalsch und ganz ungeschichtlich, sich die gesetzliche Reformarbeit bloß als die ins Breite gezogene Revolution und die Revolution als die zusammengedrängte Reform vorzustellen. Eine soziale Umwälzung und eine gesetzliche Reform sind nicht durch die Zeitdauer, sondern durch das Wesen verschiedene Momente. Das ganze Geheimnis der geschichtlichen Umwälzungen durch den Gebrauch der politischen Macht liegt ja gerade in dem Umschlage der bloßen quantitativen Veränderungen in eine neue Qualität, konkret gesprochen: in dem Übergang einer Geschichtsperiode, einer Gesellschaftsordnung in eine andere.

Wer sich daher für den gesetzlichen Reformweg anstatt und im Gegensatz zur Eroberung der politischen Macht und zur Umwälzung der Gesellschaft ausspricht, wählt tatsächlich nicht einen ruhigeren, sicheren, langsameren Weg zum gleichen Ziel, sondern auch ein anderes Ziel, nämlich statt der Herbeiführung einer neuen Gesellschaftsordnung bloß unwesentliche Veränderungen in der alten. So gelangt man von den politischen Ansichten des Revisionismus zu dem selben Schluß, wie von seinen ökonomischen Theorien: daß sie im Grunde genommen nicht auf die Verwirklichung der sozialistischen Ordnung, sondern bloß auf die Reformierung der kapitalistischen, nicht auf die Aufhebung des Lohnsystems, sondern auf das Mehr oder Weniger der Ausbeutung, mit einem Worte auf die Beseitigung der kapitalistischen Auswüchse und nicht des Kapitalismus selbst abzielen. [20]

 

 

Anmerkungen

1. Sozialreform oder Revolution?; zit. nach GW III, S.45f.

2. a.a.O., S.47, Text der 2. Aufl.

3. a.a.O., S.49, der erste Satz nach dem Text der 2. Aufl.

4. a.a.O., S.39.

5. Vorwärts vom 26. März 1899 (Anm. von Rosa Luxemburg).

6. Sozialreform oder Revolution?, a.a.O., S.79

7. Düsseldorf 1957.

8. Der mythische König von Korinth, der in der Unterwelt dazu verdammt war, einen riesigen Stein auf einen Berg zu rollen; das ständige Zurückrollen dieses Steins machte es ihm unmöglich, seine Aufgabe jemals zu vollenden.

9. Sozialreform oder Revolution?, a.a.O., S.77f.

10. a.a.O., S.54.

11. a.a.O., S.60

12. Die sozialistische Krise in Frankreich (1901), zit. nach GW III, S.307.

13. Eine taktische Frage (1899), zit. nach GW III, S.271.

14. a.a.O., S.273.

15. Zum französischen Einigungskongreß (1900), zit. nach GW III, S.355.

16. Und zum dritten Mal das belgische Experiment (1902), zit. nach GW IV, S.361f.

17. a.a.O., S.366.

18. Rote Fahne, 18.11.1918.

19. Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, (1906), zit. nach PS I, S.186f.

20. Sozialreform oder Revolution?, zit. nach GW III, S.86f.

 






 

III. Massenstreik und Revolution

 

Die politischen Massenstreiks

Im Mai 1891 brachte ein Massenstreik von etwa 125.000 belgischen Arbeitern die Forderungen nach Änderungen im Wahlsystem hervor. Im April 1893 brach um eine ähnliche Forderung ein weiterer Streik aus, an dem sich etwa 250.000 Arbeiter beteiligten. Das Ergebnis war ein allgemeines, aber ungleiches Wahlrecht, demzufolge die Stimmen der Reichen und „Gebildeten“ zwei- bis dreimal soviel zählten wie die der Arbeiter und Bauern. Die unzufriedenen Arbeiter führten neun Jahre später einen weiteren Massenstreik durch und forderten eine vollständige Revision der Verfassung. Diese politischen Massenstreiks machten auf Rosa Luxemburg einen tiefen Eindruck. Zwei diesem Thema gewidmete Artikel (Das belgische Experiment in Die Neue Zeit, 26. April 1902, und Und zum dritten Male das belgische Experiment, in Die Neue Zeit, 14. Mai 1902) weisen auf den revolutionären Charakter des politischen Massenstreiks als der spezifisch proletarischen Waffe hin. Für Rosa Luxemburg bilden die Massenstreiks, ob politisch oder ökonomisch, einen entscheidenden Faktor im revolutionären Kampf um die Arbeitermacht.

Rosa Luxemburgs enthusiastisches Verständnis für diese Methode erreichte mit der russischen Revolution von 1905 einen neuen Höhepunkt:

In den frühen bürgerlichen Revolutionen, wo einerseits die politische Schulung und Anführung der revolutionären Masse von den bürgerlichen Parteien besorgt wurde und wo es sich andererseits um den nackten Sturz der alten Regierung handelte, war die kurze Barrikadenschlacht die passende Form des revolutionären Kampfes. Heute, wo die Arbeiterklasse sich selbst im Laufe des revolutionären Kampfes aufklären, selbst sammeln, und selbst anführen muß und wo die Revolution ihrerseits ebenso gegen die alte Staatsgewalt wie gegen die kapitalistische Ausbeutung gerichtet ist, erscheint der Massenstreik als das natürliche Mittel, die breitesten proletarischen Schichten in der Aktion selbst zu rekrutieren, zu revolutionieren und zu organisieren, ebenso wie es gleichzeitig ein Mittel ist, die alte Staatsgewalt zu unterminieren und zu stürzen und die kapitalistische Ausbeutung einzudämmen ... Um aber irgendeine direkte politische Aktion als Masse auszuführen, muß sich das Proletariat erst zur Masse wieder sammeln und zu diesem Behufe muß es vor allem aus Fabriken und Werkstätten, aus Schächten und Hütten heraustreten, muß es die Pulverisierung und Zerbröckelung in den Einzelwerkstätten überwinden, zu der es im täglichen Joch des Kapitals verurteilt ist. Der Massenstreik ist somit die erste natürliche, impulsive Form jeder großen revolutionären Aktion des Proletariats, und je mehr die Industrie die vorherrschende Form der sozialen Wirtschaft, je hervorragender die Rolle des Proletariats in der Revolution und je entwickelter der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit, um so mächtiger und ausschlaggebender müssen die Massenstreiks werden. Die frühere Hauptform der bürgerlichen Revolutionen, die Barrikadenschlacht, die offene Begegnung mit der bewaffneten Macht des Staates, ist in der heutigen Revolution nur ein äußerster Punkt, nur ein Moment in dem ganzen Prozeß des proletarischen Massenkampfes. [1]

Budapest 1956!

Im Gegensatz zu allen Reformisten, die zwischen Teilkämpfen um ökonomische Reformen und dem politischen Kampf für die Revolution eine chinesische Mauer sehen, wies Rosa Luxemburg darauf hin, daß in einer revolutionären Periode ökonomischer und politischer Kampf einander wechselseitig bedingen.

Allein die Bewegung im Ganzen geht nicht bloß nach der Richtung vom ökonomischen zum politischen Kampf, sondern auch umgekehrt. Jede von den großen politischen Massenaktionen schlägt, nachdem sie ihren politischen Höhepunkt erreicht hat, in einen ganzen Wust ökonomischer Streiks um. Und dies bezieht sich wieder nicht bloß auf jeden einzelnen von den großen Massenstreiks, sondern auch auf die Revolution im ganzen. Mit der Verbreitung, Klärung und Potenzierung des politischen Kampfes tritt nicht bloß der ökonomische Kampf nicht zurück, sondern er verbreitet sich, organisiert sich und potenziert sich seinerseits in gleichem Schritt. Es besteht zwischen beiden eine völlige Wechselwirkung.

Jeder neue Ablauf und jeder neue Sieg des politischen Kampfes verwandelt sich in einen mächtigen Anstoß für den wirtschaftlichen Kampf, indem er zugleich seine äußeren Möglichkeiten erweitert und den inneren Antrieb der Arbeiter, ihre Lage zu bessern, ihre Kampflust erhöht. Nach jeder schäumenden Welle der politischen Aktion bleibt ein befruchtender Niederschlag zurück, aus dem sofort tausendfältige Halme des ökonomischen Kampfes hervorschießen. Und umgekehrt. Der unaufhörliche ökonomische Kriegszustand der Arbeiter mit dem Kapital hält die Kampfenergie in allen politischen Pausen wach, er bildet sozusagen das ständig frische Reservoir der proletarischen Klassenkraft, aus dem der politische Kampf immer von neuem seine Macht hervorholt, und zugleich führt das unermüdliche ökonomische Bohren des Proletariats alle Augenblicke bald hier, bald dort zu einzelnen scharfen Konflikten, aus denen unversehens politische Konflikte auf großem Maßstab explodieren. Mit einem Wort: Der ökonomische Kampf ist das Fortleitende von einem politischen Knotenpunkt zum andern, der politische Kampf ist die periodische Befruchtung des Bodens für den ökonomischen Kampf. Ursache und Wirkung wechseln hier alle Augenblicke ihre Stellen, und so bilden sie das ökonomische und das politische Moment in der Massenstreikperiode, weit entfernt, sich reinlich zu scheiden oder gar auszuschließen, wie es das pedantische Schema will, vielmehr nur zwei ineinandergeschlungene Seiten des proletarischen Klassenkampfes in Rußland. [2]

Der logische und notwendige Höhepunkt des Massenstreiks ist der „... offene(n) Aufstand, der aber seinerseits wieder nicht anders zustande kommen kann als durch die Schule einer Reihe vorbereitender partieller Aufstände, die eben deshalb vorläufig mit partiellen äußeren ‚Niederlagen‘ abschließen und, jeder einzeln betrachtet, als verfrüht erscheinen möge[n].“ [3]

Die Massenstreiks entwickeln das Klassenbewußtsein:

Das Kostbarste, weil Bleibende, bei diesem scharfen revolutionären Auf und Ab der Welle ist ihr geistiger Niederschlag: das sprungweise intellektuelle, kulturelle Wachstum des Proletariats, das eine unverbrüchliche Gewähr für sein weiteres unaufhaltsames Fortschreiten im wirtschaftlichen wie im politischen Kampfe bietet. [4]

Und zu welchem Idealismus erheben sich die Arbeiter! Sie stellen jeden Gedanken daran zurück, ob während des Kampfes für sie und ihre Familien auch nur der bloße Lebensunterhalt gesichert ist. Sie fragen nicht, ob alle technischen Vorbereitungen getroffen sind:

Mit dem Augenblick, wo eine wirklich ernste Massenstreikperiode beginnt, verwandeln sich alle „Kostenberechnungen“ in das Vorhaben, den Ozean mit einem Wasserglas auszuschöpfen. Es ist nämlich ein Ozean furchtbarer Entbehrungen und Leiden, durch den jede Revolution für die Proletariermasse erkauft wird. Und die Lösung, die eine revolutionäre Periode dieser scheinbar unüberwindlichen Schwierigkeiten gibt, besteht darin, daß sie zugleich eine so gewaltige Summe von Massenidealismus auslöst, bei der die Masse gegen die schärfsten Leiden unempfindlich wird. [5]

Dieser Ausblick auf die großartige revolutionäre Initiative und Opferbereitschaft der Arbeiter während einer Revolution rechtfertigte Rosas Vertrauen.

 

 

1. Massenstreik, Partei und Gewerkschaften (1906), zit. nach PS I, S.201f.

2. a.a.O., S.201f.

3. a.a.O., S.195.

4. a.a.O., S.187.

5. a.a.O., S.182f.

 

 






IV. Kampf gegen Imperialismus und Krieg

 

Die steigende pro-imperialistische Tendenz in der Arbeiterbewegung

Während der beiden Jahrzehnte vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges nahm in der Sozialistischen Internationale die Unterstützung für den Imperialismus ständig zu.

Der Stuttgarter Kongreß der Internationale von 1907 zeigte das sehr deutlich. Die Kolonialfrage wurde auf die Tagesordnung gesetzt, weil es damals zu heftigen Zusammenstößen zwischen einigen imperialistischen Mächten in Afrika und Asien kam. Die sozialistischen Parteien sprachen sich zwar gegen die Raubgier ihrer jeweiligen Regierungen aus, aber eine konsequent anti-kolonialistische Stellung war, wie die Diskussionen des Stuttgarter Kongresses zeigten, dem Denken vieler Führer der Internationale fremd. Der Kongreß bildete eine Kommission zur Kolonialfrage, deren Mehrheit eine Resolution entwarf, in der es hieß, der Kolonialismus habe einige positive Aspekte: „Der Kongreß ... verwirft ... nicht prinzipiell und für alle Zeiten jede Kolonialpolitik ...“ Sozialisten sollten die Exzesse des Kolonialismus verurteilen, ihn aber nicht völlig ablehnen. Statt dessen „(haben) sie für Reformen einzutreten, um das Los der Eingeborenen zu verbessern ... und haben ... mit allen zu Gebote stehenden Mitteln an ihrer Erziehung zur Unabhängigkeit zu arbeiten. Zu diesem Zweck sollen die Abgeordneten der sozialistischen Parteien ihren Regierungen vorschlagen, einen internationalen Vertrag zu schließen, um ein Kolonialrecht zu schaffen, das die Rechte der Eingeborenen schützt und von den vertragschließenden Staaten gegenseitig garantiert wird.“ [1]

Dieser Resolutionsentwurf wurde zwar abgelehnt, jedoch mit einer recht mageren Mehrheit von 127 gegen 108 Stimmen. Praktisch der halbe Kongreß stellte sich also offen auf die Seite des Imperialismus.

Als 1914 der Erste Weltkrieg – im wesentlichen ein Krieg zwischen imperialistischen Mächten um die Aufteilung der Kolonien – ausbrach, kam die Unterstützung des Krieges durch die Mehrheitsvertreter in der Sozialistischen Internationale nicht aus heiterem Himmel.

 

 

Rosa Luxemburgs Kampf gegen den kapitalistischen Imperialismus

Beim Stuttgarter Kongreß sprach sich Rosa Luxemburg klar gegen den Imperialismus aus und schlug eine Resolution vor, in der die gegenüber der Drohung des imperialistischen Krieges nötige Politik umrissen wurde.

Droht der Ausbruch eines Krieges, so sind in den beteiligten Ländern die Arbeiter und ihre parlamentarischen Vertreter verpflichtet, alles aufzubieten, um den Ausbruch des Krieges durch Anwendung entsprechender Mittel zu verhindern, die sich je nach der Verschärfung des Klassenkampfes und der allgemeinen politischen Situation naturgemäß ändern und steigern. Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, sind sie verpflichtet, für dessen rasche Beendigung einzutreten, und mit allen Kräften dahin zu streben, um die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur politischen Aufrüttelung der Volksschichten und zur Beschleunigung des Sturzes der kapitalistischen Klassenherrschaft auszunutzen. [2]

Diese Resolution machte deutlich, daß Sozialisten sich gegen Imperialismus und Krieg stellen sollten, und daß der einzige Weg, beidem ein Ende zu machen, der Sturz des kapitalistischen Systems ist.

Die Resolution wurde zwar angenommen, aber es wurde doch immer klarer, daß auch viele der Führer, die den Kolonialismus nicht offen unterstützten, den Kampf gegen den Imperialismus nicht auf revolutionäre Weise führen wollten. Diese Führer, deren wichtigster Sprecher Kautsky war, vertraten die Ansicht, der Imperialismus sei nicht ein notwendiges Resultat des Kapitalismus, sondern ein Anachronismus, von dem sich die kapitalistische Klasse als ganze mehr und mehr werde befreien wollen. Kautskys Theorie besagte, der Imperialismus sei eine Expansionsmethode, die von gewissen kleinen, aber mächtigen Kapitalistengruppen (den Banken und den Rüstungskönigen) unterstützt werde, die aber den Interessen der kapitalistischen Klasse als ganzer widerspreche, da Rüstungsausgaben das verfügbare Kapital für Investitionen im In- und Ausland reduzierten. Die Mehrheit der kapitalistischen Klasse werde daher ihren Widerstand gegen die Politik der bewaffneten imperialistischen Expansion fortschreitend verschärfen. Analog schrieb Bernstein noch 1911 zuversichtlich, der Wunsch nach Frieden werde allgemein und ein Kriegsausbruch sei nicht zu erwarten. Der Rüstungswettlauf war dem von Kautsky geführten „Marxistischen Zentrum“ zufolge eine Anomalie, die durch allgemeine Abrüstungsverträge, durch internationale Schiedsgerichte, durch Friedensbündnisse und durch die Gründung der Vereinigten Staaten von Europa überwunden werden konnte. Kurz, das „Marxistische Zentrum“ traute den herrschenden Mächten zu, Friede auf Erden zu schaffen.

Rosa Luxemburg zerschlug diese Illusion eines kapitalistischen Pazifismus auf brillante Weise:

Der Glaube an die Möglichkeit der Akkumulation in einer „isolierten kapitalistischen Gesellschaft“, der Glaube, daß „der Kapitalismus auch ohne Expansion denkbar“ sei, ist die theoretische Formel einer ganz bestimmten taktischen Tendenz. Diese Auffassung zielt dahin, die Phase des Imperialismus nicht als historische Notwendigkeit, nicht als entscheidende Auseinandersetzung um den Sozialismus zu betrachten, sondern als boshafte Erfindung einer Handvoll Interessenten. Diese Auffassung geht dahin, der Bourgeoisie einzureden, daß der Imperialismus und Militarismus ihr selbst vom Standpunkt ihrer eigenen kapitalistischen Interessen schädlich sei, dadurch die angebliche Handvoll der Nutznießer dieses Imperialismus zu isolieren und so einen Block des Proletariats mit breiten Schichten des Bürgertums zu bilden, um den Imperialismus zu „dämpfen“, ihn durch „teilweise Abrüstung“ auszuhungern, ihm „den Stachel zu nehmen!“. Wie der Liberalismus in seiner Verfallzeit von der schlechtinformierten Monarchie an die besserzuinformierende appelliert, so will das „Marxistische Zentrum“ von der schlechtberatenen Bourgeoisie an die zu belehrende, vom imperialistischen Katastrophenkurs an internationale Abrüstungsverträge, von dem Ringen der Großmächte um die Weltdiktatur des Säbels an die friedliche Föderation demokratischer Nationalstaaten appellieren. Die Generalauseinandersetzung zur Austragung des weltgeschichtlichen Gegensatzes zwischen Proletariat und Kapital verwandelt sich in die Utopie eines historischen Kompromisses zwischen Proletariat und Bourgeoisie zur „Milderung“ der imperialistischen Gegensätze zwischen kapitalistischen Staaten. [3]

Diese Worte treffen nicht nur den bürgerlichen Pazifismus der Kautsky und Bernstein, sondern auch all jene, die an den Völkerbund, die Vereinten Nationen, an kollektive Sicherheit und an Gipfelgespräche glauben!

Rosa Luxemburg zeigte, daß Imperialismus und imperialistischer Krieg nicht im Rahmen des Kapitalismus überwunden werden können, da sie den vitalen Interessen des kapitalistischen Systems entspringen.

Die von Rosa Luxemburg entworfenen Leitsätze des Spartakusbundes stellen fest:

Der Imperialismus als letzte Lebensphase und höchste Entfaltung der politischen Weltherrschaft des Kapitals ist der gemeinsame Todfeind des Proletariats aller Länder ... Der Kampf gegen ihn ist für das internationale Proletariat zugleich der Kampf um die politische Macht im Staate, die entscheidende Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Kapitalismus. Das sozialistische Endziel wird von dem internationalen Proletariat nur verwirklicht, indem es gegen den Imperialismus auf der ganzen Linie Front macht, und die Losung „Krieg dem Kriege“ unter Aufbietung der vollen Kraft und des äußersten Opfermutes zur Richtschnur seiner praktischen Politik erhebt. [4]

Die zentrale These der anti-imperialistischen Politik Rosa Luxemburgs war die, daß der Kampf gegen den Krieg vom Kampf für den Sozialismus nicht zu trennen sei.

Mit großer Leidenschaft beendete Rosa Luxemburg ihre wichtigste Anti-Kriegs-Broschüre Die Krise der Sozialdemokratie (bekannter unter dem Titel Junius-Broschüre, da sie unter dem Pseudonym Junius schrieb) mit der folgenden Passage:

Aber das heutige Wüten der imperialistischen Bestialität in den Fluren Europas hat noch keine Wirkung, für welche die „Kulturwelt“ kein entsetztes Auge, kein schmerzzuckendes Herz hat: das ist der Massenuntergang des europäischen Proletariats ... Es ist unsere Kraft, unsere Hoffnung, die dort reihenweise wie das Gras unter der Sichel tagtäglich dahingemäht wird. Es sind die besten, intelligentesten, geschultesten Kräfte des internationalen Sozialismus, die Träger der heiligsten Traditionen und des kühnsten Heldentums der modernen Arbeiterbewegung, die Vordertruppen des gesamten Weltproletariats: die Arbeiter Englands, Frankreichs, Belgiens, Deutschlands, Rußlands, die jetzt zuhauf niedergeknebelt, niedergemetzelt werden ... Das ist noch mehr als die ruchlose Zerstörung Löwens und der Reimser Kathedrale. Das ist ... ein tödlicher Streich gegen diejenige Kraft, die die Zukunft der Menschheit in ihrem Schoß trägt und die allein die kostbaren Schätze der Vergangenheit in eine bessere Gesellschaft hinüberretten kann. Hier enthüllt der Kapitalismus seinen Totenschädel, hier verrät er, daß sein historisches Daseinsrecht verwirkt, seine weitere Herrschaft mit dem Fortschritt der Menschheit nicht mehr vereinbar ist ...

„Deutschland, Deutschland über alles! Es lebe die Demokratie! Es lebe der Zar und das Slawentum! Zehntausend Zeltbahnen, garantiert vorschriftsmäßig! Hunderttausend Kilo Speck, Kaffee-Ersatz, sofort lieferbar!“ ... Die Dividenden steigen und die Proletarier fallen. Und mit jedem sinkt ein Kämpfer der Zukunft, ein Soldat der Revolution, ein Retter der Menschheit vom Joch des Kapitalismus ins Grab.

Der Wahnwitz wird erst aufhören und der blutige Spuk der Hölle wird verschwinden, wenn die Arbeiter in Deutschland und Frankreich, in England und Rußland endlich aus ihrem Rausch erwachen, einander brüderlich die Hand reichen und den bestialischen Chorus der imperialistischen Kriegshetzer wie den heiseren Schrei der kapitalistischen Hyänen durch den alten mächtigen Schlachtruf der Arbeit überdonnern: Proletarier alter Länder, vereinigt euch! [5]

Prophetisch schreibt Rosa Luxemburg:

Die bürgerliche Gesellschaft steht vor einem Dilemma: entweder Übergang zum Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei ... Wir stehen ... heute ... vor der Wahl: entweder Triumph des Imperialismus und Untergang jeglicher Kultur wie im alten Rom, Entvölkerung, Verbdung, Degeneration, ein großer Friedhof. Oder Sieg des Sozialismus, das heißt der bewußten Kampfaktion des internationalen Proletariats gegen den Imperialismus und seine Methode: den Krieg. Dies ist ein Dilemma der Weltgeschichte, ein Entweder-Oder, dessen Waagschalen zitternd schwanken vor dem Entschluß des klassenbewußten Proletariats. [6]

Und heute leben wir im Schatten der H-Bombe ...

 

 

Anmerkungen

1. Resolution der Kommissionsmehrheit zur Kolonialfrage, zit. nach Internationaler Sozialisten-Kongreß Stuttgart 1907, Berlin 1907, S.24.

2. Änderungen zur Bebel-Resolution, beantragt von Rosa Luxemburg, Lenin und Martow, a.a.O., S.102

3. Antikritik, zit. nach GW VI, S.480f.

4. Leitsätze über die Aufgaben der internationalen Sozialdemokratie, Anhang zu: Die Krise der Sozialdemokratie, zit. nach PS II, S.154-5.

5. Die Krise der Sozialdemokratie (1915), zit. nach PS II, S.149-52.

6. a.a.O., S.31.

 






 

V. Spontaneität, Bewußtsein und Organisation

 

Menschen machen Geschichte

Rosa Luxemburg ist des mechanischen Materialismus beschuldigt worden, einer Konzeption der historischen Entwicklung, in der objektive ökonomische Kräfte unabhängig vom menschlichen Willen regieren. Diese Beschuldigung ist völlig haltlos. Kaum einer der großen Marxisten hat das menschliche Handeln als Determinante des menschlichen Schicksals stärker betont. Sie schreibt:

Die Menschen machen ihre Geschichte nicht aus freien Stücken. Aber sie machen sie selbst. Das Proletariat ist in seiner Aktion von dem jeweiligen Reifegrad der gesellschaftlichen Entwicklung abhängig, aber die gesellschaftliche Entwicklung geht nicht jenseits des Proletariats vor sich, es ist in gleichem Maße ihre Triebfeder und Ursache, wie es ihr Produkt und Folge ist. Seine Aktion selbst ist mitbestimmender Teil der Geschichte. Und wenn wir die geschichtliche Entwicklung sowenig überspringen können wie der Mensch seinen Schatten, wir können sie wohl beschleunigen oder verlangsamen ... [Der] Sieg des sozialistischen Proletariats ... ist an eherne Gesetze der Geschichte, an tausend Sprossen einer vorherigen qualvollen und allzu langsamen Entwicklung gebunden. Aber er kann nimmermehr vollbracht werden, wenn aus all dem von der Entwicklung zusammengetragenen Stoff der materiellen Vorbedingungen nicht der zündende Funke des bewußten Willens der großen Volksmasse aufspringt. [1]

Den von Marx und Engels vorgetragenen Gedanken folgend, glaubte Rosa Luxemburg, daß das Bewußtsein der Ziele des Sozialismus in den Massen der Arbeiter eine notwendige Voraussetzung für die Schaffung des Sozialismus sei. Im Kommunistischen Manifest heißt es:

Alle bisherigen Bewegungen waren Bewegungen von Minoritäten oder im Interesse von Minoritäten. Die proletarische Bewegung ist die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl. [2]

Und Engels schrieb:

Die Zeit der Überrumpelungen, der von kleinen bewußten Minoritäten an der Spitze bewußtloser Massen durchgeführten Revolutionen ist vorbei. Wo es sich um eine vollständige Umgestaltung der gesellschaftlichen Organisation handelt, da müssen die Massen selbst mit dabei sein, selbst schon begriffen haben, worum es sich handelt, für wen sie mit Leib und Leben eintreten. [3]

Ähnlich sagt Rosa Luxemburg: „Ohne den bewußten Willen und die bewußte Tat der Mehrheit des Proletariats kein Sozialismus.“ [4]

Und im Programm der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund), das von Rosa entworfen wurde, heißt es:

Der Spartakusbund ist keine Partei, die über der Arbeitermasse oder durch die Arbeitermasse zur Herrschaft gelangen will. Der Spartakusbund ist nur der zielbewußteste Teil des Proletariats, der die ganze breite Masse der Arbeiterschaft bei jedem Schritt auf ihre geschichtlichen Aufgaben hinweist, der in jedem Einzelstadium der Revolution das sozialistische Endziel und in allen nationalen Fragen die Interessen der proletarischen Weltrevolution vertritt.

Der Spartakusbund wird nie anders die Regierungsgewalt übernehmen als durch den klaren, unzweideutigen Willen der großen Mehrheit der proletarischen Masse in ganz Deutschland, nie anders als kraft ihrer bewußten Zustimmung zu den Ansichten, Zielen und Kampfmethoden des Spartakusbundes.

Die proletarische Revolution kann sich nur stufenweise, Schritt für Schritt auf dem Golgathaweg eigener bitterer Erfahrungen durch Niederlagen und Siege, zur vollen Klarheit und Reife durchringen.

Der Sieg des Spartakusbundes steht nicht am Anfang, sondern am Ende der Revolution: er ist identisch mit dem Siege der großen Millionenmassen des sozialistischen Proletariats. [5]

 

 

Klasse und Partei

Das Proletariat als Klasse muß sich der Ziele des Sozialismus und der Methoden zu seiner Errichtung bewußt sein; doch es braucht eine revolutionäre Partei, die es führt. In jeder Fabrik, in jeder Werft, auf jedem Bauplatz gibt es Arbeiter mit Bewußtsein – Arbeiter, die mehr Erfahrungen im Klassenkampf haben, die vom Einfluß der Kapitalistenklasse freier sind – und weniger fortgeschrittene Arbeiter. Die ersteren müssen sich in einer revolutionären Partei organisieren und versuchen, die letzteren zu beeinflussen und zu führen. Rosa Luxemburg meinte, die Massenbewegung des Proletariats brauche die Führung einer organisierten, festen Grundsätzen folgenden Kraft. Die ihrer Führungsrolle bewußte, revolutionäre Partei müsse sich vor der falschen Ansicht hüten, sie sei die Quelle allen richtigen Denkens und Handelns und die Arbeiterklasse bleibe eine träge Masse ohne Initiative.

Die Sozialdemokratie hat allerdings, dank der theoretischen Einsicht in die sozialen Bedingungen ihres Kampfes, in einem nie gekannten Maße Bewußtsein in den proletarischen Klassenkampf hineingetragen, ihm Zielklarheit und Tragkraft verliehen. Sie hat zum erstenmal eine dauernde Massenorganisation der Arbeiter geschaffen und dadurch dem Klassenkampf ein festes Rückgrat gegeben. Es wäre aber ein verhängnisvoller Irrtum, sich nun einzubilden, daß seitdem auch alle geschichtliche Aktionsfähigkeit des Volkes auf die sozialdemokratische Organisation allein übergegangen, daß die unorganisierte Masse des Proletariats zum formlosen Brei, zum toten Ballast der Geschichte geworden ist. Ganz umgekehrt. Der lebendige Stoff der Weltgeschichte bleibt trotz einer Sozialdemokratie immer noch die Volksmasse, und nur wenn ein lebhafter Blutkreislauf zwischen dem Organisationskern und der Volksmasse besteht, wenn derselbe Pulsschlag beide belebt, dann kann auch die Sozialdemokratie zu großen historischen Aktionen sich tauglich erweisen. [6]

Die Partei soll daher nicht abstrakt irgendwelche Taktiken erfinden, sondern vor allem aus der Erfahrung der Massenbewegung lernen und sie verallgemeinern. Die entscheidenden Phasen der Geschichte der Arbeiterklasse haben die Richtigkeit dieser These vollauf bewiesen. Die Pariser Arbeiter schufen 1871 eine neue Staatsform – einen Staat ohne Berufsarmee und Bürokratie, in dem alle Funktionäre den durchschnittlichen Arbeiterlohn erhielten, jederzeit abwählbar waren usw.; dies alles bevor Marx daranging, Wesen und Struktur eines Arbeiterstaates theoretisch zu konzipieren. Die Arbeiter von Petersburg wiederum bildeten 1905, unabhängig von der bolschewistischen Partei, einen Sowjet, gegen den Willen der lokalen bolschewistischen Führung, während selbst Lenin sich damals skeptisch, wenn nicht ablehnend verhielt. Daher kann man Rosa Luxemburgs Formel von 1904 nur zustimmen:

Die Kampftaktik der Sozialdemokratie wird in ihren Hauptzügen überhaupt nicht „erfunden“, sondern sie ist das Ergebnis einer fortlaufenden Reihe großer schöpferischer Akte des experimentierenden, oft elementaren Klassenkampfes. Auch hier geht das Unbewußte vor dem Bewußten, die Logik des objektiven historischen Prozesses vor der subjektiven Logik seiner Träger. [7]

Arbeiter lernen nicht dadurch, daß ihre Führer ihnen didaktisch die Theorie vermitteln. Rosa Luxemburg argumentierte gegenüber Kautsky und Co.:

Die Masse muß, indem sie Macht ausübt, lernen, Macht auszuüben. Es gibt kein anderes Mittel, ihr das beizubringen. Wir sind nämlich zum Glück über die Zeiten hinaus, wo es hieß, das Proletariat sozialistisch zu schulen. Diese Zeiten scheinen für die Marxisten von der Kautskyschen Schule bis auf den heutigen Tag noch zu existieren. Die proletarischen Massen schulen, das heißt: ihnen Vorträge halten und Flugblätter und Broschüren verbreiten. Nein, die sozialistische Proletarierschule braucht das alles nicht. Sie werden geschult, indem sie zur Tat greifen. [8]

Rosa Luxemburg kommt zu dem Schluß: „Fehltritte, die eine wirklich revolutionäre Arbeiterbewegung begeht, sind geschichtlich unermeßlich fruchtbarer und wertvoller als die Unfehlbarkeit des allerbesten Zentralkomitees.“ [9]

Obwohl sie (völlig zu Recht) die schöpferische Kraft der Arbeiterklasse so stark betonte, neigte Rosa Luxemburg doch dazu, die schädliche, retardierende Wirkung zu unterschätzen, die eine konservative Organisation auf den Kampf der Massen haben kann. Sie glaubte, daß der Aufschwung der Massen eine solche Führung beiseitefegen werde, ohne daß die Bewegung selbst ernsthaften Schaden erleiden würde. 1906 schrieb sie:

Wird es in Deutschland aus irgendeinem Anlag und in irgendeinem Zeitpunkt zu großen politischen Kämpfen, zu Massenstreiks kommen, so wird das zugleich eine Ära gewaltiger gewerkschaftlicher Kämpfe in Deutschland eröffnen, wobei die Ereignisse nicht im mindesten danach fragen werden, ob die Gewerkschaftsführer zu der Bewegung ihren Segen gegeben haben oder nicht. Stehen sie auf der Seite oder suchen sich gar der Bewegung zu widersetzen, so wird der Erfolg dieses Verhaltens nur der sein, daß die Gewerkschaftsführer genau wie die Parteiführer im analogen Fall von der Welle der Ereignisse einfach auf die Seite geschoben und die ökonomischen wie die politischen Kämpfe der Masse ohne sie ausgekämpft werden. [10]

Und sie wurde nicht müde, diese These immer wieder vorzutragen.

 

 

Die historischen Wurzeln der Ansichten Rosa Luxemburgs

Um die Gründe für Rosa Luxemburgs mögliche Unterschätzung der Rolle der Organisation und ihre mögliche Überschätzung der Rolle der Spontaneität zu verstehen, muß man die Situation in Rechnung stellen, in der sie arbeitete. Zunächst mußte sie die opportunistische Führung der deutschen sozialdemokratischen Partei bekämpfen. Diese Führung betonte den Faktor der Organisation über alle Gebühr und schätzte die Spontaneität der Massen gering. Selbst dort, wo sie zum Beispiel die Möglichkeit eines Massenstreiks anerkannten, argumentierten die Reformisten folgendermaßen: Die Bedingungen, unter denen der politische Massenstreik ausgelöst wird, und der richtige Zeitpunkt – z.B. wenn die Streikkassen der Gewerkschaften voll sind –, wird von der Partei- und Gewerkschaftsführung allein festgelegt. Sie fixieren auch die Ziele des Streiks, die nach Ansicht von Bebel, Kautsky, Hilferding, Bernstein und anderen im Kampf für das allgemeine Wahlrecht oder zur Verteidigung des Parlamentarismus bestehen sollten. Vor allem sollte man daran festhalten, daß die Arbeiter nur auf Befehl der Partei und ihrer Führung handeln. Gegen diese Vorstellung von der mächtigen Parteiführung und den ohnmächtigen Massen stand Rosa Luxemburg auf. Und sie mag dabei den Bogen etwas überspannt haben.

Ein anderer Flügel der Arbeiterbewegung, gegen den Rosa Luxemburg zu kämpfen hatte, war die polnische PPS. Die PPS war eine chauvinistische Organisation, und ihr Hauptziel die nationale Unabhängigkeit Polens. Für diesen Kampf gab es aber keine gesellschaftliche Massenbasis: Die Großgrundbesitzer und die Bourgeoisie beteiligten sich nicht am Unabhängigkeitskampf, während das polnische Proletariat (das die russischen Arbeiter als seine Verbündeten ansah) nicht für einen Nationalstaat kämpfen wollte (siehe: Rosa Luxemburg und die nationale Frage, Kapitel VI). Unter diesen Bedingungen ließ sich die PPS auf abenteuerliche Aktivität ein, wie z.B. die Organisation von Terroristengruppen etc. Solche Aktionen waren jedoch nicht Sache der ganzen Arbeiterklasse, sondern nur der Parteiorganisationen. Auch hier galt der gesellschaftliche Prozeß wenig, die Entscheidung der Führung alles. Auch in ihrem langen Kampf gegen den Voluntarismus der PPS betonte Rosa Luxemburg den Faktor der Spontaneität.

Eine dritte Richtung der Arbeiterbewegung, gegen die Rosa zu Felde zog, war der Syndikalismus, eine Kombination aus Anarchismus und Gewerkschaften, wobei der anarchistische Individualismus einer übertriebenen Betonung der Organisation Platz machte. Die stärkste Basis hatte diese Strömung in Frankreich, wo sie ihre Kraft aus der industriellen Rückständigkeit und noch mangelnden Konzentration der Wirtschaft zog. Der Syndikalismus gedieh nach den Niederlagen, die die französische Arbeiterbewegung 1848 und 1871 davongetragen hatte, und nach dem Verrat Millerands und der Partei Jaurès, der bei den Arbeitern ein Mißtrauen gegenüber jedem politischen Handeln und jeder politischen Organisation hervorrief. Der Syndikalismus identifizierte den Generalstreik mit der sozialen Revolution, statt ihn nur als ein wichtiges Element der modernen Revolution zu betrachten. Er glaubte, der Generalstreik könne auf Befehl ausgelöst werden und der Sturz der bürgerlichen Herrschaft werde unweigerlich folgen. Das war wiederum eine zu simple und einseitige Konzeption des revolutionären Faktors: der Glaube, der voluntaristische und freie Wille der Führer könne, unabhängig vom Zwang eines Massenaufstandes entscheidende Aktionen initiieren. Die deutschen Reformisten wiesen diesen Voluntarismus zwar zurück, entwickelten aber eine ähnliche Politik. Wo die französischen Syndikalisten eine Karikatur des Massenstreiks und der Revolution zeichneten, machten sich die deutschen Opportunisten insgesamt über die Theorie des Massenstreiks und der Revolution lustig und warfen sie über Bord. Zur gleichen Zeit, als Rosa gegen die deutsche Ausgabe des Voluntarismus kämpfte, kritisierte sie auch die französische Version in ihrer syndikalistischen Form und machte deutlich, daß es sich dabei im wesentlichen um eine bürokratische Ablehnung der Initiative und Spontaneität der Arbeiter handelte.

 

 

Kritik an Rosa Luxemburgs Ansichten über das Verhältnis von Klasse und Partei

Der Hauptgrund für Rosa Luxemburgs Überschätzung des Faktors der Spontaneität und ihre Unterschätzung des Faktors der Organisation liegt wahrscheinlich in der Notwendigkeit, im unmittelbaren Kampf gegen den Reformismus die Spontaneität als den ersten Schritt bei jeder Revolution zu betonen. Dieses eine Stadium im Kampf des Proletariats setzte sie vorschnell mit dem ganzen Kampf gleich.

Revolutionen beginnen in der Tat als spontane Handlungen ohne Führung einer Partei. Die Französische Revolution begann mit dem Sturm auf die Bastille. Niemand organisierte ihn. Gab es eine Partei an der Spitze des rebellierenden Volkes? Nein. Selbst die zukünftigen Führer der Jakobiner, etwa Robespierre, stellten sich der Monarchie noch nicht entgegen und waren noch nicht in einer Partei organisiert. Die Revolution vom 14. Juli 1789 war ein spontaner Akt der Massen. Dasselbe gilt für die russischen Revolutionen von 1905 und vom Februar 1917. Die Revolution von 1905 begann mit einem blutigen Zusammenstoß zwischen der zaristischen Armee und Polizei auf der einen Seite und der Masse der Arbeiter, Männer, Frauen und Kinder auf der anderen Seite, die von dem Popen Gapon (der in Wahrheit ein agent provocateur des Zaren war) angeführt wurden. Waren die Arbeiter von einer entschlossenen Führung, die eine eigene sozialistische Politik ausgearbeitet hatte, organisiert? Sicherlich nicht. Sie trugen Ikonen mit sich und wollten ihr geliebtes „Väterchen“ – den Zaren – bitten, ihnen gegen ihre Ausbeuter zu helfen. Dies war der erste Schritt einer großen Revolution. Zwölf Jahre später, im Februar 1917, erhoben sich die Massen wiederum spontan, diesmal mit mehr Erfahrung und mit mehr Sozialisten in ihren Reihen als in der vorangegangenen Revolution. Kein Historiker hat den Organisator der Februarrevolution herausfinden können, denn sie war nicht organisiert.

Sobald sie jedoch durch einen spontanen Aufstand ausgelöst sind, entwickeln sich Revolutionen in anderer Weise. In Frankreich wurde der Übergang von der halb-republikanischen Regierung der Gironde zu der revolutionären, die die feudalen Eigentumsverhältnisse vollständig vernichtete, nicht von unorganisierten Massen ohne eine Parteiführung vollzogen, sondern unter deutlicher Führung der Jakobiner-Partei. Ohne eine solche Partei am Ruder wäre dieser wichtige Schritt, der den allgemeinen Kampf gegen die Girondisten voraussetzte, unmöglich gewesen. Das Volk von Paris konnte sich nach Jahrzehnten der Unterdrückung spontan und führerlos gegen den König erheben. Aber die Mehrheit war zu konservativ, hatte zu wenig historische Erfahrung und Wissen, um nach nur zwei oder drei Revolutionsjahren zwischen denen, die die Revolution vorwärtstreiben wollten, und denen, die auf einen Kompromiß abzielten, unterscheiden zu können. Die historische Situation verlangte einen Kampf gegen die Partei des Kompromisses, die Verbündeten von gestern, bis zum bitteren Ende. Die bewußte Führung dieses großen Unternehmens stellten die Jakobiner, die den Zeitpunkt festsetzten und den Sturz der Gironde am 10. August 1792 bis ins letzte Detail organisierten. Ähnlich war auch die Oktoberrevolution kein spontaner Akt, sondern einschließlich des Zeitpunkts in praktisch allen wichtigen Einzelheiten von den Bolschewiki organisiert. Während des Hin und Hers der Revolution zwischen Februar und Oktober – der Juni-Demonstration, den Julitagen und dem darauf folgenden geordneten Rückzug, dem Zurückschlagen des rechten Kornilow-Putsches etc. – kamen die Arbeiter und Soldaten stärker unter den Einfluß und die Leitung der bolschewistischen Partei. Und eine derartige Partei war notwendig, um die Revolution aus ihren Anfangsstadien zu ihrem endgültigen Sieg zu führen.

Auch wenn man zugibt, daß Rosa Luxemburg die Bedeutung einer solchen Partei vielleicht unterschätzte, sollte man ihr wahrhaft großes historisches Verdienst nicht zu gering einschätzen: daß sie nämlich angesichts des vorherrschenden Reformismus die wichtigste Kraft betonte, die die konservative Kruste durchbrechen konnte – die Spontaneität der Arbeiter. Rosa Luxemburgs Stärke lag in ihrem uneingeschränkten Vertrauen auf die historische Initiative der Arbeiterklasse.

Wenn auch einige Mängel, vor allem im Hinblick auf die Vermittlung von Spontaneität und Führung während der Revolution, in der Luxemburgschen Konzeption aufgezeigt werden können, so bedeutet dies noch nicht, daß ihre Kritiker in der revolutionären Bewegung, vor allem auch Lenin, in allen Punkten einer genaueren, ausgewogenen marxistischen Analyse näher gewesen wären.

 

 

Lenins Konzeption

Während Rosa Luxemburg in einer Umgebung arbeitete, in der der Hauptfeind des revolutionären Sozialismus der bürokratische Zentralismus war, und sie daher ständig die elementare Aktivität der Massen betonte, hatte Lenin es mit der amorphen Arbeiterbewegung Rußlands zu tun, wo die größte Gefahr darin lag, die Frage der Organisation zu unterschätzen. Ebenso wie man Rosa Luxemburgs Ansichten nicht ohne den Hintergrund der Länder und Arbeiterbewegungen, in denen sie arbeitete, versteht, kann man Lenins Position nicht abgelöst von den konkreten historischen Bedingungen der Arbeiterbewegung in Rußland begreifen.

Lenins Verständnis des Verhältnisses von Spontaneität und Organisation findet sich vor allem in seinen Arbeiten Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung (1901-02) und Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück. Die Krise in unserer Partei (1904). Zur Zeit ihrer Niederschrift konnte die russische Arbeiterbewegung ihrer Stärke nach nicht mit der westeuropäischen, insbesondere der deutschen, verglichen werden. Sie bestand aus isolierten, kleinen, mehr oder weniger autonomen Gruppen ohne gemeinsam erarbeitete Politik und wurde nur wenig durch die führenden Marxisten im Ausland, wie Plechanow, Lenin, Martow und Trotzki, beeinflußt. Diese Gruppen verfolgten wegen ihrer Schwäche und Isolierung nur beschränkte Ziele. Während die russischen Arbeiter in Massenstreiks und Demonstrationen eine ständig wachsende Kampfbereitschaft entwickelten, sahen die sozialistischen Gruppen nur unmittelbar realisierbare ökonomische Forderungen; diese „ökonomistische“ Tendenz war die vorherrschende. Lenins Was tun? war ein gnadenloser Angriff gegen den „Ökonomismus“ oder die reine Gewerkschaftspolitik. Er argumentierte, die Spontaneität des Massenkampfes – die im damaligen Rußland überall ins Auge fiel – müsse durch das Bewußtsein und die Organisation einer Partei ergänzt werden. Eine nationale Partei mit einer eigenen zentralen Zeitung müsse geschaffen werden, um die lokalen Gruppierungen zu vereinigen und die Arbeiterbewegung mit politischem Bewußtsein zu durchdringen. Die sozialistische Theorie müsse von außen an das Proletariat herangetragen werden; nur auf diesem Wege könne die Arbeiterbewegung direkt zum Kampf für den Sozialismus geführt werden. Die projektierte Partei würde weitgehend aus Berufsrevolutionären bestehen, die unter einer extrem zentralisierten Führung arbeiten müßten. Die politische Führung der Partei müßte zugleich die Redaktion der zentralen Zeitung bilden. Sie müßte die Macht haben, Parteiorganisationen im Lande zu organisieren oder zu reorganisieren, Mitglieder aufzunehmen oder auszuschließen und lokale Führungen zu ernennen. In einer Kritik der Menschewiki schrieb Lenin 1904:

Die Grundidee des Genossen Martow ... ist eben ein falscher "Demokratismus", die Idee des Aufbaus der Partei von unten nach oben. Umgekehrt ist meine Idee bürokratisch in dem Sinne, daß die Partei von oben nach unten aufgebaut wird, vom Parteitag zu den einzelnen Zellen. [11]

Wie oft haben Stalinisten und viele sogenannte Nicht-Stalinisten, die zahlreichen Epigonen Lenins, Was tun? und Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück so zitiert, als seien sie universell anwendbar, für alle Länder und Bewegungen ungeachtet des Entwicklungsstandes!

Lenin stand diesen sogenannten Leninisten fern. Schon 1903, auf dem zweiten Kongreß der Sozialdemokratischen Partei Rußlands, markierte er einige Übertreibungen in den Formulierungen von Was tun?: „Wir alle wissen jetzt, daß die Ökonomisten den Bogen nach der einen Seite überspannt haben. Um ihn wieder auszurichten, mußte ich ihn nach der anderen Seite spannen, und das habe ich getan.“ [12]

Zwei Jahre später, in einem Resolutionsentwurf für den dritten Kongreß, betonte Lenin, daß seine Ansichten zur Organisationsfrage nicht allgemein anwendbar seien: „Unter freien politischen Verhältnissen kann und wird unsere Partei vollständig auf dem Prinzip der Wählbarkeit aufgebaut sein. Unter der Selbstherrschaft ist das für die Gesamtheit der Tausende von Arbeitern, die der Partei angehören, undurchführbar.“ [13]

Während der Revolution von 1905 – und angesichts des ungeheuren Zustroms von neuen Mitgliedern – sprach Lenin nicht mehr von Berufsrevolutionären. Die Partei sollte nicht länger eine Elite-Organisation sein:

Ich habe auf dem III. Parteitag den Wunsch ausgesprochen, daß in den Parteikomitees auf etwa acht Arbeiter zwei Intellektuelle kommen sollen. [14] Wie veraltet ist dieser Wunsch!Jetzt wäre zu wünschen, daß in den neuen Parteiorganisationen auf ein Parteimitglied der sozialdemokratischen Intelligenz einige hundert sozialdemokratische Arbeiter kommen. [15]

Während Lenin in Was tun? geschrieben hatte, daß die Arbeiter aus eigener Kraft nur ein trade-unionistisches Bewußtsein erreichen könnten, schrieb er nun: "Die Arbeiterklasse ist instinktiv und spontan sozialdemokratisch." [16]

Die besondere Lage des Proletariats in der kapitalistischen Gesellschaft führt dazu, daß das Streben der Arbeiter nach dem Sozialismus, ihr Bündnis mit der sozialistischen Partei schon in den frühesten Stadien der Bewegung mit Elementargewalt durchbricht. [17]

Während Lenin im Jahre 1902 sich die Partei als eine verschworene kleine Gruppe mit sehr exklusiven Mitgliedschaftsbedingungen vorgestellt hatte, schrieb er 1905, Arbeiter sollten zu Hunderttausenden in die Parteiorganisationen aufgenommen werden. 1907 wiederum, in einem Vorwort zu seiner Aufsatzsammlung Zwölf Jahre, sagte Lenin:

Der Grundfehler jener, die heute gegen Was tun? polemisieren, ist der, daß sie dieses Werk völlig aus dem Zusammenhang mit einer bestimmten historischen Situation, einer bestimmten, jetzt schon längst vergangenen Entwicklungsperiode unserer Partei herausreißen.

Was tun? korrigiert polemisch den Ökonomismus, und es ist falsch, den Inhalt der Broschüre außerhalb dieser Aufgabe zu betrachten. [18]

Da er Was tun? nicht mißbraucht sehen wollte, gab Lenin 1921 die vorgeschlagene Übersetzung in nicht-russische Sprachen nicht frei. Er sagte zu Max Levien, dies sei nicht angebracht, die Übersetzung müsse zumindest mit einem guten Kommentar veröffentlicht werden, den ein mit der Geschichte der KPdSU vertrauter russischer Genosse schreiben müßte, damit keine falschen Schlüsse gezogen werden könnten. [19]

Als die Kommunistische Internationale ihre Statuten diskutierte, sprach Lenin gegen den Entwurf, weil er, wie er sagte, „zu russisch“ sei und die Zentralisation überbetone, obwohl diese Statuten die Freiheit der Kritik innerhalb der Partei und die Kontrolle der Parteiführung von unten vorsahen. Überzentralisierung, meinte Lenin, werde den Bedingungen in Westeuropa nicht gerecht. (Es ist richtig, daß in Lenins eigener Partei zu dieser Zeit die Organisation in hohem Maße zentralisiert und sogar halb-militärisch war, aber diese Form war ihr durch die überaus harten Bedingungen des Bürgerkriegs aufgezwungen.)

Lenins Ansichten zur Organisationsproblematik – seine Überbetonung des Zentralismus – müssen vor dem Hintergrund der russischen Verhältnisse beurteilt werden.

Im rückständigen, zaristischen Rußland, wo die Arbeiterklasse eine kleine Minderheit darstellte, konnte der Grundsatz, daß die Arbeiterklasse sich nur selber befreien kann, sehr leicht mißachtet werden; um so leichter, als Rußland eine sehr lange Tradition von Minderheitenorganisationen kannte, die versucht hatten, sich an die Stelle fehlender elementarer Massenaktivität zu setzen. In Frankreich war es das Volk, das die Monarchie und den Feudalismus stürzte; in Rußland versuchten es die Dekabristen und Narodniki-Terroristen auf eigene Faust. [20]

Marx’ oben zitierte Sätze über den demokratischen Charakter der sozialistischen Bewegung (siehe Anm.2), und die Bestimmung Lenins, nach der die revolutionären Sozialdemokraten unlösbar mit der Organisation des Proletariats verbundene Jakobiner sein sollen, widersprechen sich eindeutig. Eine bewußte organisierte Minderheit an der Spitze einer unorganisierten Volksmasse entspricht dem Modell einer bürgerlichen Revolution, die schließlich immer eine Revolution im Interesse einer Minderheit ist. Aber die Trennung der bewußten Minderheit von der unbewußten Mehrheit, die Trennung von geistiger und manueller Arbeit, die Existenz von Manager und Vorarbeiter auf der einen und einer Masse gehorsamer Hilfsarbeiter auf der anderen Seite kann auf den "Sozialismus" nur übertragen werden, wenn man das Prinzip des Sozialismus umstößt, wonach die Arbeiter selbst ihr Geschick kollektiv kontrollieren müssen.

Nur wenn man Luxemburgs und Lenins Konzeptionen einander gegenüberstellt, kann man deren historische Begrenztheit einschätzen, die ohne Zweifel von den spezifischen Bedingungen, unter denen beide arbeiteten, geprägt waren.

 

 

Gegen das Sektierertum

Emphatisch vertrat Rosa Luxemburg den Grundsatz, die Befreiung der Arbeiterklasse könne nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein, darum war sie auch gegenüber allen sektiererischen Tendenzen unduldsam, die auf Abtrennung von der Massenbewegung und den Massenorganisationen hinausliefen.

Obwohl sie jahrelang mit der Mehrheitsführung der deutschen sozialdemokratischen Partei in Fehde lag, bestand sie darauf, daß es die Pflicht revolutionärer Sozialisten sei, in dieser Organisation zu bleiben. Selbst als sich die SPD auf die Seite des imperialistischen Krieges geschlagen hatte, und nachdem Karl Liebknecht (am 12. Januar 1916) aus der Parlamentsfraktion der SPD ausgeschlossen worden war, blieben Luxemburg und Liebknecht in der Partei, mit der Begründung, durch Abspaltung würde die revolutionäre Gruppe zu einer Sekte werden. Sie vertrat diese Ansicht nicht nur solange sie eine winzige, unbedeutende revolutionäre Gruppe anführte, sondern hielt auch dann noch daran fest, als der Spartakusbund an Einfluß gewann und bei Fortdauer des Krieges zu einer beachtlichen Macht wurde.

Wie wir gesehen haben, stimmte am 2. Dezember 1914 nur ein Abgeordneter, Liebknecht, gegen die Kriegskredite. Im März 1915 schloß sich ihm ein zweiter an, Otto Rühle. Im Juni 1915 unterzeichneten tausend Parteifunktionäre ein Manifest gegen die Politik der Klassenkollaboration, und im Dezember 1915 stimmten zwanzig Abgeordnete im Reichstag gegen die Kriegskredite.

Im März 1916 schloß die Reichstagsfraktion der SPD die wachsende Opposition aus, obwohl sie nicht die Macht hatte, sie aus der Partei auszuschließen.

Was im Reichstag geschah, spiegelt nur wider, was draußen vor sich ging, in den Fabriken, auf den Straßen, in den Parteigliederungen und in der Sozialistischen Jugend.

Von der Anti-Kriegs-Zeitung Die Internationale, die Rosa Luxemburg und Franz Mehring herausgaben, wurden 5.000 Exemplare der ersten und einzigen Nummer an einem Tag verteilt (sie wurde sofort von der Polizei unterdrückt). [21] Die Sozialistische Jugend erklärte sich auf einer Geheimkonferenz Ostern 1916 mit überwältigender Mehrheit für Spartakus. Am 1. Mai 1916 kamen 10.000 Arbeiter auf dem Potsdamer Platz in Berlin zu einer Anti-Kriegs-Demonstration zusammen. Auch in anderen Städten wie Dresden, Jena, Hanau fanden Anti-Kriegs-Demonstrationen statt. Am 28. Juni 1916, dem Tag, an dem Liebknecht zu zweieinhalb Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde, streikten 55.000 Berliner Munitionsarbeiter aus Solidarität mit ihm. Am gleichen Tag fanden Demonstrationen und Streiks in Stuttgart, Bremen, Braunschweig und anderen Städten statt. Unter dem Einfluß der russischen Revolution verbreitete sich im April 1917 eine riesige Welle von Rüstungsstreiks über das ganze Land; 300.000 Arbeiter streikten allein in Berlin. Eine weitere Welle von Munitionsarbeiterstreiks erfaßte im Januar/Februar 1918 eineinhalb Millionen Arbeiter. Diese Streiks waren ihrem Charakter nach weitgehend politisch. Der Berliner Streik von etwa einer halben Million Arbeitern forderte sofortigen Frieden ohne Annexionen und Reparationen und das Selbstbestimmungsrecht der Völker; die zentrale Parole war: „Frieden, Freiheit, Brot“. Während des Streiks wurden sechs Arbeiter getötet und viele verwundet. Tausende von Streikenden wurden in die Armee eingezogen. Vor diesem Hintergrund fuhr Rosa fort, für das Verbleiben in der SPD einzutreten, bis zum April 1917, als das von Kautsky, Bernstein und Haase geführte Zentrum sich von der Rechten abspaltete und eine neue Partei gründete, die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD). Die USPD war eine rein parlamentarische Partei, die die Arbeiter nicht zu Massenstreiks und Demonstrationen gegen den Krieg bewegen, sondern die Regierungen der kriegführenden Länder unter Druck setzen wollte, über den Frieden zu verhandeln. Der Spartakusbund, im Januar 1916 als Fraktion innerhalb der SPD gegründet, schloß sich nur lose der USPD an, behielt jedoch seine separate Organisation und sein Recht auf unabhängiges Vorgehen. Erst nach dem Ausbruch der deutschen Revolution (am 29. Dezember 1918) trennte sich der Bund endgültig von der USPD und gründete eine unabhängige Partei, die Kommunistische Partei Deutschlands (Spartakus).

Aus den Reihen der Revolutionäre war ständig auf den Austritt aus der SPD und später aus der USPD gedrängt worden. Aber Rosa Luxemburg stellte sich dem entgegen. 1891 hatte es einen Präzedenzfall gegeben, als eine recht große Gruppe von Revolutionären sich von der SPD abspaltete (die „Jungen“), sie des Reformismus beschuldigte und eine unabhängige sozialistische Partei gründete. Sie hatte jedoch nur eine sehr kurze Lebensdauer und verschwand bald vollständig.

Am 6. Januar trat Rosa Luxemburg gegen die Revolutionäre auf, die sich von der SPD abspalten wollten:

So löblich und begreiflich die Ungeduld und der bittere Groll sind, aus denen heraus sich heute die Flucht vieler der besten Elemente aus der Partei ergibt: Flucht bleibt Flucht, uns ist sie ein Verrat an den Massen, die in der würgenden Schlinge der Scheidemann und Legien, der Bourgeoisie auf Gnade und Ungnade preisgegeben, zappeln und ersticken. Aus kleinen Sekten und Konventikeln kann man „austreten“, wenn sie einem nicht mehr passen, um neue Sekten und Konventikel zu gründen. Es ist nichts als unreife Phantasie, die gesamte Masse der Proletarier aus diesem schwersten und gefährlichsten Joch der Bourgeoisie durch einfachen „Austritt“ befreien zu wollen und ihr auf diesem Wege mit tapferem Beispiel voranzugehen. Das Hinwerfen des Mitgliedsbuchs als Befreiungsillusion ist nur die auf den Kopf gestellte Verhimmelung des Mitgliedsbuchs als Machtillusion, beides nur die verschiedenen Pole des Organisationskretinismus, dieser konstitutionellen Krankheit der alten deutschen Sozialdemokratie. Der Zerfall der deutschen Sozialdemokratie ist ein geschichtlicher Prozeß größter Dimensionen, eine Generalauseinandersetzung zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie, und von diesem Schlachtfeld drückt man sich nicht vor Ekel auf die Seite, um im Winkel unter dem Busch reinere Luft zu atmen. Diesen Riesenkampf gilt es auszufechten bis zum äußersten. An der tödlichen Schlinge der offiziellen deutschen Sozialdemokratie und der offiziellen freien Gewerkschaften, die die herrschende Klasse um den Hals der verirrten und verratenen Massen gelegt hat, gilt es zu zerren mit vereinten Kräften, bis sie zerreißt, und den betörten Massen gilt es in diesem schwersten Kampfe um ihre Befreiung beizustehen, sie treu mit der Brust zu verteidigen. Die Liquidierung des “Haufens organisierter Verwesung“, der sich heute deutsche Sozialdemokratie nennt, ist nicht als Privatangelegenheit in den Entschluß einzelner oder vereinzelter Gruppen gegeben. Sie wird sich als unvermeidlicher Nachtrag dem Weltkriege anschließen und muß als große öffentliche Machtfrage unter Aufbietung aller Kräfte ausgefochten werden. Die entscheidenden Würfel des Klassenkampfes in Deutschland werden für Jahrzehnte in dieser Generalauseinandersetzung mit den Instanzen der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften fallen, und da gilt für jeden von uns bis zum letzten: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“ [22]

Ihr Widerstand gegen den Austritt aus der sozialdemokratischen Massenpartei bedeutete keinerlei Konzessionen an den Reformismus. So wurde bei einer Spartakus-Konferenz am 7. Januar 1917 die folgende, von ihr angeregte Resolution verabschiedet: „Die Opposition verbleibt in der Partei, nur um die Politik der Mehrheit auf Schritt und Tritt zu durchkreuzen und zu bekämpfen, die Massen von der unter dem Deckmantel der Sozialdemokratie betriebenen imperialistischen Politik zu schützen und die Partei als Rekrutierungsfeld für den proletarischen, antimilitaristischen Klassenkampf zu benutzen.“ [23]

Rosa Luxemburgs Weigerung, eine unabhängige revolutionäre Partei zu gründen, folgte ihrer langsamen Reaktion auf veränderte Bedingungen. Diese Weigerung war ein zentraler Faktor für die Verspätung bei der Gründung einer revolutionären Partei in Deutschland. Vor diesem Problem stand sie jedoch nicht allein. Lenin brach mit Kautsky nicht schneller als Rosa. Es gibt keine Begründung für die stalinistische Behauptung, derzufolge Lenin dagegen opponiert hätte, daß die revolutionäre Linke in der SPD verblieb und weiterhin mit Kautsky zusammenarbeitete. [24] Tatsächlich wußte Rosa Luxemburg die Kautsky und Co. klarer einzuschätzen als Lenin und brach mit ihnen früher als er. Fast zwei Jahrzehnte hielt Lenin Kautsky für den bedeutendsten lebenden Marxisten. Hierfür einige Beispiele: In Was tun? wird Kautsky als wichtigste Autorität für das Thema dieser Arbeit zitiert, und Lenin lobt die deutsche sozialdemokratische Partei als Modell für die russische Bewegung. Im Dezember 1906 schrieb Lenin: „Die fortgeschrittenen russischen Arbeiter kennen Karl Kautsky seit langem als ihren Schriftsteller.“ [25] Er bezeichnete Kautsky als Führer der deutschen revolutionären Sozialdemokraten. [26] Im August 1908 zitierte er Kautsky als seine Autorität in Fragen des Krieges und des Militarismus. [27] 1910, anläßlich Rosa Luxemburgs Debatte mit Kautsky über die Frage des Weges zur Macht, stellte sich Lenin gegen Rosa Luxemburg auf Kautskys Seite. Und noch im Februar 1914 führte Lenin in seinem Streit mit Rosa Luxemburg über die nationale Frage Kautsky als marxistische Autorität ins Treffen. Erst der Ausbruch des Krieges und der Verrat des Internationalismus durch Kautsky erschütterten Lenins Illusionen über ihn. Dann gab er zu:

Rosa Luxemburg hatte recht, als sie bereits vor langer Zeit schrieb, Kautsky sei die „Servilität des Theoretikers“ eigen, die Kriecherei, einfacher gesagt, die Kriecherei vor der Mehrheit der Partei, vor dem Opportunismus. [28]

 

 






Zusammenfassung

Die Organisationsform der sozialistischen Arbeiterbewegung ist überall und auf jeder Entwicklungsstufe des Kampfes um die Macht von großer Bedeutung für die Bildung der Arbeitermacht selbst. Darum haben Debatten über die Organisationsform der revolutionären Partei eine weitergehende Bedeutung und sind nicht durch die Übernahme eines auf die spezifischen Bedürfnisse einer bestimmten Entwicklungsstufe zugeschnittenen Organisationsmodells erledigt. In keinem Lande wurde die Organisationsdebatte in so schroffer Form ausgetragen wie in der russischen Arbeiterbewegung. Das hing zu einem guten Teil mit der Distanz zwischen dem Endziel der Bewegung und der autokratischen, halbfeudalen Realität zusammen, in der sie entstand– einer Realität, die die Bildung einer freien Arbeiterorganisation verhinderte.

Reflektierte Rosa Luxemburgs Konzeption das Verhältnis von Spontaneität und Organisation im Hinblick auf die unmittelbaren Bedürfnisse von Revolutionären in einer durch eine konservative Bürokratie kontrollierten Arbeiterbewegung, so entsprach Lenins ursprüngliche Position – die von 1902/04 – dem amorphen Charakter einer lebendigen, kämpfenden revolutionären Bewegung im ersten Stadium ihrer Entwicklung unter einem rückständigen, halbfeudalen und autokratischen Regime.

Welches auch immer die historischen Bedingungen gewesen sein mögen, die Rosas Vorstellungen zur Organisationsfrage beeinflußten, – diese Vorstellungen offenbarten eine große Schwäche der deutschen Revolution von 1918-19.

 

 

Anmerkungen

1. a.a.O., S.30.

2. Karl Marx u. Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei (1847-48), zit. nach MEW, Bd.4, S.473.

3. Friedrich Engels, Einleitung zu Marx: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850 (Ausgabe 1895), zit. nach MEW, Bd.22, S.523.

4. Die Nationalversammlung, 20. November 1918, zit. nach ARuS, Bd.II, S.606

5. Was will der Spartakusbund? (1918) zit. nach PS II, S.169f.

6. Taktische Fragen (1913), zit. nach GW IV, Berlin 1928, S.639

7. Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie (1904), zit. nach PS III, S.92.

8. Unser Programm und die politische Situation. Rede auf dem Gründungsparteitag der KPD (Spartakusbund), 31. Dezember 1918, zit. nach PS II, S.200.

9. Organisationsfragen ..., a.a.O., S.105

10. Massenstreik ..., a.a.O., S.209, nach dem Text der 2. Aufl.

11. Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück. Die Krise in unserer Partei (1904), zit. nach Lenin, Werke, Bd.7, Berlin 1966, S.140, Anm.

12. Rede zum Parteiprogramm vor dem II. Parteitag der SDAPR (1903); zit. nach Werke, Bd.6, S.490.

13. Resolutionsentwürfe für den III. Parteitag der SDAPR: Resolution über das Verhältnis zwischen Arbeitern und Intellektuellen in der sozialdemokratischen Partei (1905), zit. nach Werke, Bd.8, S.184.

14. Siehe Werke, Bd.8, S.405. (Anm. d. Übersetzer)

15. Über die Reorganisation der Partei (1905), zit. nach Werke, Bd.10, S.20, Anm.

16. a.a.O., S.16.

17. Sozialistische Partei und parteiloser Revolutionarismus (1905); zit. nach Werke, Bd.10, S.63.

18. zit. nach Werke, Bd.14, S.93 u. S.100.

19. Tatsächlich wurde diese Broschüre ohne den von Lenin für notwendig gehaltenen Kommentar in viele Sprachen übersetzt.

20. Es war kein Zufall. daß die russischen Sozialrevolutionäre, die künftigen Feinde des Bolschewismus, mit Lenins Konzeption der Parteiorganisation sehr einverstanden waren. (I. Deutscher, Der bewaffnete Prophet, Stuttgart 1982, S.503, Anm.59 zu S.99).

21. Vgl. dazu den Bericht von Wilhelm Pieck, (1920), in Dokumente und Materialien II, 1, Berlin 1958, S.135.

22. Gracchus, d.i. R. Luxemburg, Offene Briefe an Gesinnungsfreunde. Von Spaltung, Einheit und Austritt, (6. Januar 1917); zit. nach DuM II. 1, S.525.

23. Resolutionsentwurf der Spartakusgruppe, eingebracht auf der Reichskonferenz der Parteiopposition vom 7. Januar 1917, zit. nach DuM II, 1, S.528

24. Siehe zum Beispiel: J.W. Stalin, Einige Fragen zur Geschichte des Bolschewismus, Werke XIII, S.86-104; DuM II, besonders das Vorwort von Walter Bartel, S.7-56; Fred Oelssner, Rosa Luxemburg, Berlin 1956.

25. Vorwort zur russischen Ausgabe der Broschüre: K. Kautsky, Triebkräfte und Aussichten der russischen Revolution, (1906), zit. nach Werke, Bd. II, S.409.

26. Das Proletariat und sein Alliierter in der russischen Revolution (1906), zit. nach Werke, Bd. II, S.364.

27. Werke, Bd.15, S.194.

28. Brief an A. Schljapnikow vom 27.10.1914, zit. nach Werke, Bd.35, S.142f.

 

 






VII. Rosa Luxemburgs Kritik der bolschewistischen Regierung

Im September und Oktober 1918 schrieb Rosa Luxemburg im Breslauer Gefängnis eine Broschüre über die russische Revolution. Dafür benutzte sie nicht nur die deutsche, sondern auch die russische Presse jener Zeit, die von Freunden in ihre Gefängniszelle geschmuggelt wurde. Sie hat diese Schrift niemals abgeschlossen oder überarbeitet, da der Ausbruch der deutschen Revolution ihr die Freiheit brachte.

Die erste Ausgabe dieser Broschüre wurde nach Rosa Luxemburgs Tod 1922 von ihrem Kampfgenossen Paul Levi herausgegeben. Diese Ausgabe war jedoch nicht vollständig, und 1928 wurde nach einem wiederaufgefundenen Manuskript eine neue Ausgabe veröffentlicht.

 

Enthusiastische Unterstützung der Oktoberrevolution

Rosa Luxemburg hat in diesen Aufzeichnungen die Oktoberrevolution und die Bolschewiki enthusiastisch unterstützt:

Was eine Partei in geschichtlicher Stunde an Mut, Tatkraft, revolutionärem Weitblick und Konsequenz aufzubringen vermag, das haben die Lenin, Trotzki und Genossen vollauf geleistet. Die ganze revolutionäre Ehre und Aktionsfähigkeit, die der Sozialdemokratie im Westen gebrach, war in den Bolschewiki vertreten. Ihr Oktoberaufstand war nicht nur eine tatsächliche Rettung für die russische Revolution, sondern auch eine Ehrenrettung des internationalen Sozialismus. [1]

In dieser letzten Periode, in der wir vor den entscheidenden Endkämpfen in der ganzen Welt stehen, war und ist das wichtigste Problem des Sozialismus geradezu die brennende Zeitfrage: nicht diese oder jene Detailfrage der Taktik, sondern: die Aktionsfähigkeit des Proletariats, die Tatkraft der Massen, der Wille zur Macht des Sozialismus überhaupt. In dieser Beziehung waren Lenin und Trotzki mit ihren Freunden die ersten, die dem Weltproletariat mit dem Beispiel vorangegangen sind, sie sind bis jetzt immer noch die einzigen, die mit Hutten ausrufen können: Ich hab's gewagt!

Dies ist das Wesentliche und Bleibende der Bolschewiki-Politik. In diesem Sinne bleibt ihnen das unsterbliche geschichtliche Verdienst, mit der Eroberung der politischen Gewalt und der praktischen Problemstellung der Verwirklichung des Sozialismus dem internationalen Proletariat vorangegangen zu sein und die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit in der ganzen Welt mächtig vorangetrieben zu haben ... Und in diesem Sinne gehört die Zukunft überall dem „Bolschewismus“. [2]

Obwohl sie die Oktoberrevolution begeistert feierte, glaubte Rosa Luxemburg, eine unkritische Haltung allen Malnahmen der Bolschewiki gegenüber sei für die Arbeiterbewegung ohne Nutzen. Die Methode marxistischer Analyse bestand ihrer Meinung nach darin, nur das zu akzeptieren, was die Probe der revolutionären Kritik bestanden hatte.

 

 

Auswirkungen der Isolierung der Revolution

Es war ihr klar, daß die durch den Verrat der westlichen Sozialdemokratie verursachte Isolierung der russischen Revolution, zu Verzerrungen in ihrer Entwicklung führen mußte. Ohne internationale revolutionäre Unterstützung müssen „auch die größte Tüchtigkeit und die höchsten Opfer des Proletariats in einem einzelnen Lande sich unvermeidlich in ein Wirrsal von Widersprüchen und Fehlgriffen verwickeln.“ [3]

Nachdem sie einige dieser Widersprüche und Fehler aufgezeigt hatte, machte sie deren Ursachen klar:

Alles was in Rußland vorgeht, ist begreiflich und eine unvermeidliche Kette von Ursachen und Wirkungen, deren Ausgangspunkte und Schlußsteine: das Versagen des deutschen Proletariats und die Okkupation Rußlands durch den deutschen Imperialismus. Es hieße, von Lenin und Genossen Übermenschliches verlangen, wollte man ihnen auch noch zumuten, unter solchen Umständen die schönste Demokratie, die vorbildlichste Diktatur des Proletariats und eine blühende sozialistische Wirtschaft hervorzuzaubern. Sie haben durch ihre entschlossene revolutionäre Haltung, ihre vorbildliche Tatkraft und ihre unverbrüchliche Treue dem internationalen Sozialismus wahrhaftig geleistet, was unter so verteufelt schwierigen Verhältnissen zu leisten war. [4]

 

 

Die Fehler der bolschewistischen Führer

Objektive Faktoren können im Verlauf einer Revolution Fehler bedingen, durch subjektive Faktoren, durch Versagen der Führung können solche Fehler gefährlich werden, vor allem, wenn Fehler in Tugenden umgedeutet werden. „Das Gefährliche beginnt dort, wo sie aus der Not die Tugend machen, ihre von diesen fatalen Bedingungen aufgezwungene Taktik nunmehr theoretisch in allen Stücken fixieren und dem internationalen Proletariat als das Muster der sozialistischen Taktik zur Nachahmung empfehlen wollen.“ [5]

Aber genau das wurde später von den stalinistischen Parteien bis zum Exzeß betrieben (und leider auch von einigen, die sich Anti-Stalinisten nennen).

Rosa Luxemburg kritisierte die ihrer Meinung nach falsche Politik der Bolschewiki in folgenden Punkten:

  1. Bodenfrage
  2. Nationalitätenfrage
  3. Konstituierende Versammlung
  4. Demokratische Rechte der Arbeiter

Wir werden jedes dieser Probleme gesondert behandeln.

 

Die bolschewistische Agrarpolitik

Eine sozialistische Agrarpolitik muß nach Rosa Luxemburg darauf abzielen, die Sozialisierung der landwirtschaftlichen Produktion zu fördern:

Die sozialistische Umgestaltung der Wirtschaftsverhältnisse setzt in bezug auf die Agrarverhältnisse zweierlei voraus. Zunächst die Nationalisierung gerade des Großgrundbesitzes als der technisch fortschrittlichsten Konzentration der agrarischen Produktionsmittel und Methoden, die allein dem Ausgangspunkt der sozialistischen Wirtschaftsweise auf dem Lande dienen kann. Wenn man natürlich dem Kleinbauern seine Parzelle nicht wegzunehmen braucht und man es ihm ruhig anheimstellen kann, sich durch Vorteile des gesellschaftlichen Betriebes freiwillig zuerst für den genossenschaftlichen Zusammenschluß und schließlich für die Einordnung in den sozialen Gesamtbetrieb gewinnen zu lassen, so muß jede sozialistische Wirtschaftsreform auf dem Lande selbstverständlich mit dem Groß- und Mittelgrundbesitz anfangen. Sie muß hier das Eigentumsrecht vor allem auf die Nation oder, was bei sozialistischer Regierung dasselbe ist, wenn man will, auf den Staat übertragen; denn nur dies gewährt die Möglichkeit, die landwirtschaftliche Produktion nach zusammenhängenden großen sozialistischen Gesichtspunkten zu organisieren. [6]

Die Bolschewiki machten aber gerade das Entgegengesetzte: „Die Parole ... die von den Bolschewiki herausgegeben wurde: Sofortige Besitzergreifung und Aufteilung des Grund und Bodens durch die Bauern ... ist nicht nur keine sozialistische Malnahmen, sondern ... schneidet den Weg zu einer solchen ab, sie türmt vor der Umgestaltung der Agrarverhältnisse im sozialistischen Sinne unüberwindliche Schwierigkeiten auf.“ [7]

Und Rosa Luxemburg wies völlig zu Recht und, wie sich gezeigt hat, prophetisch darauf hin, daß die Verteilung des Grundbesitzes an die Bauern die Macht des Privateigentums auf dem Lande stärken und damit der Zukünftigen Sozialisierung der Landwirtschaft zusätzliche Schwierigkeiten bereiten würde:

Früher stand einer sozialistischen Reform auf dem Lande allenfalls der Widerstand einer kleinen Kaste adeliger und kapitalistischer Großgrundbesitzer sowie eine kleine Minderheit der reichen Dorfbourgeoisie entgegen, deren Expropriation durch eine revolutionäre Volksmasse ein Kinderspiel ist. Jetzt, nach der „Besitzergreifung“ steht als Feind jeder sozialistischen Vergesellschaftung der Landwirtschaft eine enorm angewachsene und starke Masse des besitzenden Bauerntums entgegen, das sein neuerworbenes Eigentum gegen alle sozialistischen Attentate mit Zähnen und mit Nägeln verteidigen wird. [8]

Die Isolierung der kleinen Arbeiterklasse in einem Meer feindlicher, rückständiger, kleinkapitalistischer Bauern hatte später für den Aufstieg Stalins größte Bedeutung.

Lenin und Trotzki hatten indessen keine Wahl. Es ist richtig, daß das bolschewistische Parteiprogramm die Nationalisierung allen Großgrundbesitzes vorsah. Viele Jahre lang hatte Lenin gegen die Sozialrevolutionäre polemisiert, die das Land der Großgrundbesitzer unter die Bauern aufteilen wollten. Aber 1917, als die Bodenfrage eine sofortige Lösung erforderte, übernahm er ohne Zögern die Parolen der früher so sehr bekämpften Sozialrevolutionäre bzw. die der spontanen Bauernbewegung. Hätten die Bolschewiki das nicht getan, wären sie und die von ihnen geführte städtische Arbeiterklasse vom Lande isoliert gewesen, die Revolution wäre erstickt worden oder hätte bestenfalls nur kurze Zeit gedauert (wie die ungarische Revolution von 1919).

Durch keine Wendung ihrer Strategie und Taktik konnten die Bolschewiki den grundlegenden Widerspruch der russischen Revolution überwinden, da sie von zwei verschiedenen, der Interessenlage nach kontradiktorischen Klassen getragen wurde, dem kollektivistisch orientierten Proletariat und der individualistisch orientierten Bauernschaft. Schon 1906 hatte Trotzki die Prognose formuliert, die kommende Revolution, in der die Arbeiterklasse die Bauern anführen werde, werde mit der erbitterten Opposition der Bauern gegen die Arbeiterklasse enden, so daß nur die internationale Ausbreitung der Revolution die Arbeitermacht vor dem Sturz bewahren könne: Das russische Proletariat an der Macht wird „der organisierten Feindschaft seitens der Weltreaktion und der Bereitschaft zu organisierter Unterstützung seitens des Weltproletariats gegenüberstehen. Ihren eigenen Kräften überlassen, wird die Arbeiterklasse Rußlands unvermeidlich in dem Augenblick von der Konterrevolution zerschlagen werden, in dem sich die Bauernschaft von ihr abwendet. Ihr wird nichts anderes übrigbleiben, als das Schicksal ihrer politischen Herrschaft und folglich das Schicksal der gesamten russischen Revolution mit dem Schicksal der sozialistischen Revolution in Europa zu verknüpfen.“ [9]

Rosa Luxemburgs Einschätzung der bolschewistischen Agrarpolitik zeigt viele richtige Einsichten in die Bedingungen der russischen Revolution und weist auf die vielfältigen, der bolschewistischen Politik immanenten Gefahren hin. Aber die Situation ließ den Bolschewiki keine Möglichkeit für eine andere revolutionäre Agrarpolitik als die, die sie machten. Sie muten dem demokratischen, spontanen Wunsch der Bauern nachgeben, das den Großgrundbesitzern abgenommene Land aufzuteilen.

 

 

Die Nationalitätenpolitik

Nicht weniger kritisch stand Rosa Luxemburg der bolschewistischen Nationalitätenpolitik gegenüber, in der sie die größten Gefahren für die Revolution sah: „Daß sich die militärische Niederlage in den Zusammenbruch und Zerfall Rußlands verwandelte, dafür haben die Bolschewiki einen Teil der Schuld. Diese objektiven Schwierigkeiten der Lage haben sich die Bolschewiki aber selbst in hohem Maße verschärft durch eine Parole, die sie in den Vordergrund ihrer Politik geschoben haben: das sogenannte Selbstbestimmungsrecht der Nationen oder, was unter dieser Phrase in Wirklichkeit steckte: den staatlichen Zerfall Rußlands. [10]

Statt der Parole der Selbstbestimmung forderte sie: „... die kompakteste Zusammenfassung der revolutionären Kräfte auf dem ganzen Gebiete des Reiches anzustreben, die Integrität des russischen Reiches als Revolutionsgebiet mit Zähnen und Nägeln zu verteidigen, die Zusammengehörigkeit und Unzertrennlichkeit der Proletarier aller Länder im Bereiche der russischen Revolution als oberstes Gebot allen nationalistischen Sonderbestrebungen entgegenzustellen ...“ [11]

Wie unrecht hatte Rosa Luxemburg in dieser Frage! Wären die Bolschewiki ihrem Rat gefolgt, so hätten die herrschenden Klassen der bisher unterdrückten Nationen leichtes Spiel gehabt, die Volksmassen um sich zu scharen, und die Isolierung der Sowjetmacht zu verstärken. Nur wenn die ehemalige Unterdrückernation die Parole der Selbstbestimmung ausgab, konnte sie die revolutionäre Einheit aller Völker erreichen. Auf diese Weise vermochten die Bolschewiki wenigstens einen Teil des im Weltkrieg und zu Anfang des Bürgerkrieges verlorenen Territoriums für sich zu gewinnen – z.B. die Ukraine. Gerade wegen eines Abweichens von dieser Politik der Selbstbestimmung aller Völker wurde die Rote Armee zum ersten Male – vor den Toren Warschaus – geschlagen, und zog sich später den Haß der Georgier zu, als sie in Georgien einmarschierte, und es in der bürokratischsten und antidemokratischsten Weise besetzte. [12]

In der nationalen Frage irrte Rosa Luxemburg ebenso wie in der Agrarfrage, weil sie vom Prinzip der Volksentscheidung abwich, das sonst in ihrem Denken und Handeln eine zentrale Rolle spielte.

 

 

Die konstituierende Versammlung

Ein weiterer Punkt der Kritik Rosa Luxemburgs betraf die Auflösung der konstituierenden Versammlung durch die Bolschewiki. Sie schrieb: „Es ist eine Tatsache, daß Lenin und Genossen bis zu ihrem Oktobersiege die Einberufung der Konstitutionsversammlung stürmisch forderten, daß gerade die Verschleppungstaktik der Kerenski-Regierung in dieser Sache einen Anklagepunkt der Bolschewiki gegen jene Regierung bildete und ihnen zu heftigsten Ausfällen Anlag gab. Ja, Trotzki sagt in seinem interessanten Schriftchen Von der Oktoberrevolution bis zum Brester Friedensvertrag [13], der Oktoberumschwung sei geradezu „eine Rettung für die Konstituante“ gewesen, wie für die Revolution überhaupt. „Und als wir sagten“, fährt er fort, „daß der Eingang zur konstituierenden Versammlung nicht über das Vorparlament Zeretellis, sondern über die Machtergreifung der Sowjets führe, waren wir vollkommen aufrichtig.“ [14] Dieselben Führer, die die konstituierende Versammlung gefordert hatten, ließen sie am 6. Januar 1918 auflösen.

Was Rosa Luxemburg in ihrer Broschüre vorschlug, war eine Kombination der Sowjets und der konstituierenden Versammlung. Aber die politischen Ereignisse zeigten, daß dies zu einer Doppelherrschaft geführt hätte, die dem Organ der Arbeitermacht, den Sowjets, gefährlich geworden wäre. Die bolschewistischen Führer rechtfertigten die Auflösung der konstituierenden Versammlung in erster Linie mit der Begründung, die Wahlen hätten nach einem veralteten Gesetz stattgefunden, das jener Minorität wohlhabender Bauern überproportionales Gewicht gab, die bei der ersten und einzigen Sitzung der Versammlung sich weigerten, die Dekrete über Land, Frieden und die Machtübernahme der Sowjets zu ratifizieren. Rosa Luxemburg erwiderte, die Bolschewiki hätten einfach Neuwahlen durchfahren lassen können, die den aktuellen Stand des Bewußtseins und das wirkliche soziale Kräfteverhältnis besser repräsentiert hätten.

Aber der wahre Grund für die Auflösung der Konstituante lag tiefer. Die Sowjets waren weitgehend Organisationen der Arbeiterklasse, die konstituierende Versammlung aber stützte sich in der Hauptsache auf die Stimmen der Bauern. Es war daher kein Zufall, daß die Bolschewiki, die auf dem von etwa 20 Millionen gewählten zweiten Sowjetkongreß (vom 8. November 1917), die überwältigende Mehrheit hatten, in der von der Gesamtbevölkerung gewählten konstituierenden Versammlung nur über ein Viertel der Stimmen verfugten. Der Bauer konnte sich als Anhänger des Privateigentums nicht mit dem Bolschewismus identifizieren, selbst wenn er für die bolschewistische Unterstützung bei der Landverteilung und im Kampf um den Frieden dankbar war. Die Sowjets waren daher für die Arbeitermacht eine weitaus zuverlässigere Stütze, als die konstituierende Versammlung jemals hätte sein können.

Aber es gibt noch einen gewichtigeren Grund dafür, neben den Sowjets keine Konstituante (kein Parlament) zuzulassen, der nichts mit der bäuerlichen Mehrheit der russischen Bevölkerung zu tun hat: Sowjets sind die spezifische Form der Herrschaft der Arbeiterklasse, ebenso wie das Parlament die spezifische Form der bürgerlichen Herrschaft ist.

In der deutschen Revolution hat Rosa Luxemburg ihre Haltung dann tatsächlich radikal geändert und die Parole der USPD: „Arbeiterräte und Nationalversammlung“ energisch bekämpft. So schrieb sie am 20. November 1918:

Wer heute bewußt zur Nationalversammlung greift, schraubt die Revolution bewußt oder unbewußt auf das historische Stadium bürgerlicher Revolutionen zurück; er ist ein verkappter Agent der Bourgeoisie oder ein unbewußter Ideologe des Kleinbürgertums ...

Nicht darum handelt es sich heute, ob Demokratie oder Diktatur. Die von der Geschichte auf die Tagesordnung gestellte Frage lautet: bürgerliche Demokratie oder sozialistische Demokratie. Denn Diktatur des Proletariats, das ist Demokratie im sozialistischen Sinne. [15]

 

 

Einschränkungen der demokratischen Rechte der Arbeiter

Rosas Hauptkritik an den Bolschewiki zielte darauf ab, daß sie für die Einschränkung und Aushöhlung der Arbeiterdemokratie verantwortlich waren. Und hier zeigt die ganze tragische Geschichte Rußlands, daß sie in prophetischer Weise recht hatte. Wie allem, was Rosa Luxemburg schrieb und sagte, lag auch ihrer Broschüre über die russische Revolution das Vertrauen in die Arbeiterklasse zugrunde, die Überzeugung, daß sie, und nur sie allein, fähig ist, die Krise der Menschheit zu überwinden. Sie war zutiefst davon überzeugt, daß Arbeiterdemokratie, proletarische Revolution und Sozialismus untrennbar miteinander verbunden seien. Sie schrieb:

Sozialistische Demokratie beginnt aber nicht erst im gelobten Lande, wenn der Unterbau der sozialistischen Wirtschaft geschaffen ist, als fertiges Weihnachtsgeschenk für das brave Volk, das inzwischen treu die Handvoll sozialistischer Diktatoren unterstützt hat. Sozialistische Demokratie beginnt zugleich mit dem Abbau der Klassenherrschaft und dem Aufbau des Sozialismus. Sie beginnt mit dem Moment der Machteroberung durch die sozialistische Partei. Sie ist nichts anderes als Diktatur des Proletariats.

Jawohl: Diktatur! Aber diese Diktatur besteht in der Art der Verwendung der Demokratie, nicht nur in ihrer Abschaffung, in energischen, entschlossenen Eingriffen in die wohlerworbenen Rechte und wirtschaftlichen Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft, ohne welche sich die sozialistische Umwälzung nicht verwirklichen läßt. Aber diese Diktatur muß das Werk der Klasse, und nicht einer kleinen führenden Minderheit im Namen der Klasse sein ... [16]

Obwohl sie ohne Zögern die Diktatur des Proletariats gegen die Feinde des Sozialismus bejahte, vertrat sie die Ansicht, daß nur vollständige und konsequente Demokratisierung die Herrschaft der Arbeiterklasse festigen und die Bedingungen für ihre ungeheuren produktiven Möglichkeiten schaffen könne. Sie behauptete, die Bolschewiki seien von dieser Konzeption abgewichen:

Die stillschweigende Voraussetzung der Diktaturtheorie im Lenin-Trotzkischen Sinn ist, daß die sozialistische Umwälzung eine Sache sei, für die ein fertiges Rezept in der Tasche der Revolutionspartei liege, dies dann nur mit Energie verwirklicht zu werden brauche. Dem ist leider – oder je nachdem: zum Glück nicht so. Weit entfernt, eine Summe fertiger Vorschriften zu sein, die man nur anzuwenden hätte, ist die praktische Verwirklichung des Sozialismus als eines wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Systems eine Sache, die völlig im Nebel der Zukunft liegt. Was wir in unserem Programm besitzen, sind nur wenige große Wegweiser, die die Richtung anzeigen, in der die Malnahmen gesucht werden müssen, dazu vorwiegend negativen Charakters. Wir wissen so ungefähr, was wir zuallererst zu beseitigen haben, um der sozialistischen Wirtschaft die Bahn frei zu machen, welcher Art hingegen die tausend praktischen konkreten großen und kleinen Malnahmen sind, um die sozialistischen Grundsätze in die Wirtschaft, in das Recht, in alle gesellschaftlichen Beziehungen einzufahren, darüber gibt kein sozialistisches Parteiprogramm und kein sozialistisches Lehrbuch Aufschluß. Das ist kein Mangel, sondern gerade der Vorzug des wissenschaftlichen Sozialismus vor dem utopischen. Das sozialistische Gesellschaftssystem soll und kann nur ein geschichtliches Produkt sein, geboren aus der eigenen Schule der Erfahrung, in der Stunde der Erfüllung, aus dem Werden der lebendigen Geschichte, die genau wie die organische Natur, deren Teil sie letzten Endes ist, die schöne Gepflogenheit hat, zusammen mit einem wirklichen gesellschaftlichen Bedürfnis stets auch die Mittel zu seiner Befriedigung, mit der Aufgabe zugleich die Lösung hervorzubringen. Ist dem aber so, dann ist es klar, daß der Sozialismus sich seiner Natur nach nicht oktroyieren läßt, durch Ukase einführen. [17]

Rosa Luxemburg sagte voraus, daß das Kollektiv der russischen Arbeiter am wirtschaftlichen und sozialen Leben nicht aktiv teilnehmen werde: Der Sozialismus wird dann „vom grünen Tisch eines Dutzends Intellektueller dekretiert, oktroyiert, ... mit dem Erdrücken des politischen Lebens im ganzen Lande muß auch das Leben in den Sowjets immer mehr erlahmen. Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder der öffentlichen Institution(en), wird zum Scheinleben, in der (dem) die Bürokratie allein das tätige Element bleibt. Das öffentliche Leben schläft allmählich ein, einige Dutzend Parteiführer von unerschöpflicher Energie und grenzenlosem Idealismus dirigieren und regieren, unter ihnen leitet in Wirklichkeit ein Dutzend hervorragender Köpfe, und eine Elite der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit zu Versammlungen aufgeboten, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen einstimmig zuzustimmen, im Grunde also eine Cliquenwirtschaft – eine Diktatur allerdings, aber nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll Politiker, d.h. Diktatur im bürgerlichen Sinne, im Sinne der Jakobiner-Herrschaft ...“ [18]

Wie alle ihre anderen Schriften, war Rosa Luxemburgs Kritik an der russischen Revolution für die reformistischen Kritiker des revolutionären Sozialismus nicht gerade ein Trost; sie konnten vielmehr nur für diejenigen von Nutzen sein, die die Wissenschaft vom Handeln der Arbeiterklasse lebendig und unverkrüppelt bewahren wollten. Ihre Kritik an der bolschewistischen Partei entspricht den besten Traditionen des Marxismus, der grundlegenden Maxime Karl Marx': Erbarmungslose Kritik alles Bestehenden.

 

 

Anmerkungen

1. Die russische Revolution (1918); zit. nach PS III, S.116.

2. a.a.O., S.141.

3. a.a.O., S.109.

4. a.a.O., S.140.

5. a.a.O.

6. a.a.O., S.116f.

7. a.a.O., S.118.

8. a.a.O., S.119.

9. Leo Trotzki, Ergebnisse und Perspektiven: Die treibenden Kräfte der Revolution (1906), Frankfurt (Neue Kritik) 1967, S.19f.

10. Die russische Revolution, a.a.O., S.120.

11. a.a.O., S.124.

12. Rosa Luxemburgs Kritik an der Nationalitätenpolitik der Bolschewiki war eine Fortsetzung der beinahe zwei Jahrzehnte währenden Debatte, die sie mit ihnen über dieses Problem führte.

13. Belp-Bern, 1918, S.90.

14. Die russische Revolution, a.a.O., S.127

15. Die Nationalversammlung, zit. nach ARuS, Bd.II, S.606.

16. Die russische Revolution, a.a.O., S.139.

17. a.a.O., S.134f.

18. a.a.O., S.135 u. S.136.

 

 






VIII. Die Akkumulation des Kapitals

Während der Jahre 1906-13 lehrte Rosa Luxemburg an der sozialdemokratischen Parteihochschule politische Ökonomie. In dieser Zeit bereitete sie ein Buch über marxistische Wirtschaftstheorie vor, mit dem Titel Einführung in die politische Ökonomie. Kurz vor Abschluß des Rohentwurfes stieß sie auf eine unerwartete Schwierigkeit:

Es wollte mir nicht gelingen, den Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion in ihren konkreten Beziehungen sowie ihre objektive geschichtliche Schranke mit genügend Klarheit darzustellen. Bei näherem Zusehen kam ich zu der Ansicht, daß hier nicht bloß eine Frage der Darstellung, sondern auch ein Problem vorliegt, das theoretisch mit dem Inhalt des II. Bandes des Marx’schen Kapital im Zusammenhang steht und zugleich in die Praxis der heutigen imperialistischen Politik wie deren ökonomische Wurzeln eingreift. [1]

Das gab den Anstoß zu Rosa Luxemburgs wichtigster theoretischer Arbeit: Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus (1913). Das Buch ist keineswegs einfach zu lesen, insbesondere nicht für jemanden, der nicht mit Marx’ Kapital vertraut ist. Aber Rosa Luxemburgs Studie ist, ob man mit ihr übereinstimmt oder nicht, zweifellos einer der wichtigsten, wenn nicht der wichtigste und originellste Beitrag zur marxistischen Wirtschaftstheorie seit dem Kapital.

 

 

Die Fragestellung

Als Marx die Bewegungsgesetze des Kapitalismus analysierte, abstrahierte er von allen nichtkapitalistischen Faktoren, so wie z.B. auch ein Naturwissenschaftler die Schwerkraft unter den Bedingungen eines Vakuums untersuchen wird.

Das Problem, mit dem sich Rosa Luxemburg beschäftigt, ist folgendes: Kann die erweiterte Reproduktion, d.h. die Produktion auf erweiterter Stufenleiter, unter den Bedingungen des abstrakten, reinen Kapitalismus stattfinden, wenn nichtkapitalistische Länder nicht existieren, oder wenn außer Kapitalisten und Arbeitern keine anderen Klassen existieren? Marx ging davon aus, daß dies möglich sei. Rosa Luxemburg meinte, die Abstraktion von nichtkapitalistischen Faktoren sei zwar im allgemeinen bei der Analyse des kapitalistischen Wirtschaftssystems gerechtfertigt, nicht aber bei der Analyse der erweiterten Reproduktion.

Die Frage ist natürlich eine rein theoretische, da der reine Kapitalismus in Wirklichkeit niemals bestanden hat: Die erweiterte Reproduktion hat immer stattgefunden, indem der Kapitalismus in vorkapitalistische Bereiche eindrang, entweder innerhalb des kapitalistischen Landes selbst – Eindringen in den Feudalismus mit Zerstörung der Existenzgrundlage der Bauern, Zunfthandwerker etc. oder in rein agrarische, vorkapitalistische Länder.

Da der Kapitalismus also niemals in reiner Form bestanden hat, könnte man fragen: Worin liegt die Bedeutung der Frage, ob die erweiterte Reproduktion im reinen Kapitalismus theoretisch möglich ist? Schließlich haben weder Marx noch Rosa Luxemburg angenommen, daß der Kapitalismus so lange bestehen werde, bis alle vorkapitalistischen Formationen überwunden sind. Die Antwort auf diese Frage kann jedoch die Auswirkungen des nichtkapitalistischen Bereichs auf Verschärfung oder Milderung der Widersprüche im Kapitalismus verständlich machen, und die Faktoren, die den Kapitalismus zur imperialistischen Expansion treiben, aufzeigen.

 

 

Das Marx’sche Schema

Beginnen wir damit, zu erklären, wie Marx den Gesamtprozeß der Reproduktion im Kapitalismus beschrieb.

Marx geht von der Analyse der einfachen Reproduktion aus, d.h. von der Annahme – die natürlich im Kapitalismus ausgeschlossen ist –, daß keine Kapitalakkumulation stattfindet, daß der gesamte Mehrwert für den persönlichen Konsum der Kapitalisten verwendet wird, die Produktion also nicht expandiert.

Damit es für den Kapitalisten zur einfachen Reproduktion kommen kann, müssen bestimmte Bedingungen gegeben sein. Er muß das Produkt, das er in seiner Fabrik herstellt, verkaufen können und mit dem erlösten Geld die Produktionsmittel (Maschinen, Rohstoffe etc.) kaufen, die er für seinen speziellen Industriezweig benötigt; der Markt muß ihm die Arbeitskräfte, die er braucht, liefern, wie auch die Konsummittel, die nötig sind, um die Arbeiter zu ernähren, zu kleiden und ihre sonstigen Bedürfnisse zu erfüllen. Das von den Arbeitern mit Hilfe der Produktionsmittel hergestellte Produkt muß wieder einen Markt finden usw.

Während es vom Standpunkt des einzelnen Kapitalisten keinen Unterschied ausmacht, was seine Fabrik herstellt, vorausgesetzt, er kann für sein Produkt Käufer finden, damit er sein Kapital plus Mehrwert realisieren kann, ist es für die kapitalistische Wirtschaft insgesamt von höchster Bedeutung, daß sich die Gesamtproduktion aus bestimmten Arten von Gebrauchswerten zusammensetzt, mit anderen Worten: Die Gesamtproduktion muß sowohl die Produktionsmittel liefern, die notwendig sind, um den Produktionsprozeß zu erneuern, als auch die Konsummittel, die von den Arbeitern und Kapitalisten verbraucht werden. Die Mengen der verschiedenen Produkte können nicht willkürlich festgelegt werden: die hergestellten Produktionsmittel müssen dem konstanten Kapital c dem Wert nach gleich sein; die hergestellten Konsummittel müssen den aufgewendeten Lehnen (dem variablen Kapital v) plus dem Mehrwert m dem Wert nach gleich sein.

Um die einfache Reproduktion zu analysieren, teilte Marx die gesamte Industrie in zwei Grundabteilungen: diejenige, die Produktionsmittel herstellt (Abteilung I) und diejenige, die Konsummittel herstellt (Abteilung II). Zwischen diesen beiden Abteilungen muß ein bestimmtes Verhältnis bestehen, damit die einfache Reproduktion stattfinden kann. Es ist zum Beispiel klar, daß, wenn Abteilung I mehr Maschinen produzierte, als Abteilung I und II zusammen benötigten, eine Überproduktion an Maschinen vorläge; die Produktion in Abteilung I würde dadurch gelähmt und dies würde eine ganze Reihe von Folgeerscheinungen auslösen. Wenn Abteilung I zu wenig Maschinen produzierte, würde die Reproduktion zurückgehen, statt sich auf dem gleichen Niveau zu wiederholen. Dasselbe gälte für Abteilung II, wenn sie mehr oder weniger Verbrauchsgüter herstellen würde, als v + m in beiden Abteilungen beträgt. [2] Die Proportion zwischen der Nachfrage nach Produktionsmitteln und der nach Konsummitteln in der Gesamtwirtschaft hängt ab von dem Verhältnis zwischen dem Kapitalanteil, der für den Einkauf von Maschinen und Rohstoffen eingesetzt wird (d.h. für das c der Gesamtwirtschaft), und jenem Kapitalanteil, der auf die Löhne v und die Profite der Kapitalisten in der Gesamtwirtschaft entfällt.

Mit anderen Worten, die Produkte von Abteilung I (PI) müssen dem konstanten Kapital der Abteilung I (cI) plus dem konstanten Kapital der Abteilung II (cII) gleich sein:

PI = cI + cII

Dementsprechend müssen die Produkte von Abteilung II (PII) den Löhnen und dem Mehrwert beider Abteilungen gleich sein:

PII = vI + mI + vII + mII

Diese beiden Gleichungen können zu einer Gleichung zusammengefaßt werden:

cII = vI + mI

Mit anderen Worten, der Wert der Maschinen und Rohstoffe etc., die von Abteilung II gebraucht werden, muß den Lehnen der Arbeiter plus dem Mehrwert der Kapitalisten in Abteilung I gleich sein.

Diese Gleichungen gelten für die einfache Reproduktion. Die Formeln für die erweiterte Reproduktion sind komplizierter. Hier wird ein Teil des Mehrwerts für den persönlichen Verbrauch der Kapitalisten ausgegeben – diesen Teil werden wir als r bezeichnen – und ein Teil wird akkumuliert – diesen bezeichnen wir als a. a selbst wird in zwei Teile aufgegliedert: der eine Teil dient dem Kauf zusätzlicher Produktionsmittel, d.h. er wird für die Vermehrung des verfügbaren konstanten Kapitals ausgegeben (ac), der andere Teil für die Lehne der zusätzlich beschäftigten Arbeiter in der Produktion (av).

Wenn die gesellschaftliche Nachfrage nach Produktionsmitteln unter den Bedingungen der einfachen Reproduktion nur durch die Formel cI + cII ausgedrückt wurde, so lautet sie für die erweiterte Reproduktion cI + acI + cII + acII. Entsprechend gilt für die gesellschaftliche Nachfrage nach Verbrauchsgütern: aus vI + mI + vII + mII wird vI + rI + avII + vII + rII + avII.

Daher können die Bedingungen für die erweiterte Reproduktion folgendermaßen formuliert werden:

PI = cI + acI + cII + acII.

PII = vI + rI + avI + vII + rII + avII

Oder cII + acII = vI + rI + avI. [3]

 

 

Rosa Luxemburgs Kritik der Marx’schen Schemata [4]

Rosa Luxemburg zeigte, daß ein Vergleich der Formel für die einfache Reproduktion mit der für die erweiterte Reproduktion zu einem paradoxen Ergebnis führte. Im Falle der einfachen Reproduktion muß cll gleich vl + ml sein. Im Fall der erweiterten Reproduktion muß cII + acII gleich vI + rI + avI sein. Dann sind vI + rI + avI kleiner als vI + mI (da acI von mI abgeleitet ist). Wenn nun unter den Bedingungen der einfachen Reproduktion Gleichgewicht herrschte, würde der Übergang zur erweiterten Reproduktion in Abteilung II nicht nur Nichtakkumulation voraussetzen, sondern sogar die absurde Situation der Disakkumulation.

Sie schrieb, es sei kein Zufall, daß Marx zur Illustration der erweiterten Reproduktion schematische Darstellungen verwandte, in denen c zahlenmäßig kleiner war als im Modell der einfachen Reproduktion.

Schema einfacher Reproduktion

I.

4.000c + 1.000v + 1.000m

= 6.000

II.

2.000c + 500v + 500m

= 3.000

Summa

= 9.000

 

Ausgangsschema für Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter

I.

4.000c + 1.000v + 1.000m

= 6.000

II.

1.500c + 750v + 750m

= 3.000

Summa

= 9.000 [5]

Das konstante Kapital von Abteilung II ist also in der erweiterten Reproduktion um 500 kleiner als in der einfachen. Marx arbeitet das Schema der erweiterten Reproduktion aus und zeigt, daß – falls weder in Abteilung I noch Abteilung II eine Änderung der organischen Zusammensetzung des Kapitals (d.h. des Verhältnisses von konstantem zu variablem Kapital) eintritt, die Mehrwertrate konstant bleibt und die Hälfte des Mehrwertes in Abteilung I kapitalisiert wird – die Reproduktion des Kapitals in folgender Progression stattfinden wird:

Erstes Jahr

I.

4.400c + 1.100v + 1.100m

=   6.600

II.

1.600c + 800v + 800m

=   3.200

Summa

=   9.800

 

Zweites Jahr

I.

4.840c + 1.210v + 1.210m

=   7.260

II.

1.760c + 880v + 880m

=   3.520

Summa

= 10.780

 

Drittes Jahr

I.

5.324c + 1.331v + 1.331m

=   7.986

II.

1.936c + 968v + 968m

=   3.872

Summa

= 11.858

 

Viertes Jahr

I.

5.856c + 1.464v + 1.464m

=   8.784

II.

2.129c + 1.065v + 1.065m

=   4.259

Summa

= 13.043

 

Fünftes Jahr

I.

6.442c + 1.610v + 1.610m

=   9.662

II.

2.342c + 1.172v + 1.172m

=   4.686

Summa

= 14.348 [6]

Bei der Analyse dieses Schemas weist Rosa Luxemburg auf folgende Eigentümlichkeit hin:

Während die Abteilung I jedesmal den halben Mehrwert kapitalisiert und den halben verzehrt, was sowohl eine Erweiterung der Produktion wie der persönlichen Konsumtion der Kapitalistenklasse ergibt, geht die Doppelbewegung in der Abteilung II in folgender sprunghafter Weise vor sich:

Im 1. Jahr wird kapitalisiert 150, verzehrt 600

Im 2. Jahr wird kapitalisiert 240, verzehrt 560

Im 3. Jahr wird kapitalisiert 254, verzehrt 626

Im 4. Jahr wird kapitalisiert 290, verzehrt 678

Im 5. Jahr wird kapitalisiert 320, verzehrt 745 [7]

Sie fährt fort: „Daß die absoluten Zahlen des Schemas in jeder Gleichung willkürlich sind, versteht sich von selbst und verringert nicht ihren wissenschaftlichen Wert. Worauf es ankommt, sind die Größenverhältnisse, die exakte Beziehungen ausdrücken sollen. Die von klarer Gesetzmäßigkeit diktierten Akkumulationsverhältnisse in Abteilung I scheinen nun aber durch eine völlig willkürliche Konstruktion der Verhältnisse in Abteilung II erkauft zu sein, und dieser Umstand ist geeignet, zur Nachprüfung der inneren Zusammenhänge der Analyse zu veranlassen.“ [8]

Bei fortschreitender erweiterter Reproduktion würde, unter der Annahme, daß in Abteilung II wie in Abteilung I eine regelmäßige Expansion der Kapitalakkumulation und des persönlichen Verbrauchs der Kapitalisten erfolgt, ein wachsendes Ungleichgewicht zwischen den beiden Abteilungen auftreten. Rosa Luxemburg weist deshalb sehr deutlich darauf hin, daß, falls für die Akkumulationsbedingungen in Abteilung I logische Regeln festgelegt sind, diese durch eine völlig willkürliche Konstruktion der Verhältnisse in Abteilung II erkauft zu sein scheinen; mit anderen Worten: Wenn die gleichen logischen Regeln, die der Abteilung I zugrunde liegen, auf die Akkumulationsbeziehungen in Abteilung II angewandt würden, so würde ein Ungleichgewicht in Form von Überproduktion in Abteilung II auftreten und sich ständig vergrößern.

Wenn man davon ausgeht, daß zu Beginn der erweiterten Reproduktion das konstante Kapital in Abteilung II nicht um 500 kleiner ist als im Schema der einfachen Reproduktion, läßt sich nun ziemlich leicht zeigen, daß zwischen Abteilung I und Abteilung II ein Mißverhältnis auftritt: die Nachfrage von Abteilung I nach Konsummitteln ist dann bei Beginn des Prozesses um 500 kleiner als der in Abteilung II verfügbare, auf den Markt drängende Vorrat an Konsummitteln: zu Beginn des Prozesses der erweiterten Reproduktion liegt eine Überproduktion von Verbrauchsgütern im Werte von 500 vor.

Hätte Rosa Luxemburg nicht von einer Reihe anderer Faktoren wie dem Ansteigen der Mehrwertrate und der veränderten organischen Zusammensetzung des Kapitals abstrahiert, so wäre ihr Argument sogar noch stärker gewesen. Es läßt sich leicht aufzeigen, daß beim Ansteigen der Mehrwert- (oder Ausbeutungs-)rate, wenn also m/v wächst, die relative Nachfrage nach Konsumgütern im Verhältnis zu Investititionsgütern abnehmen wird, und damit die Akkumulationsrate in Abteilung II sogar noch unregelmäßiger ausfallen würde als in Marx’ Darstellungen, oder daß in Abteilung II wachsende Überschüsse auftreten würden. Jeder Anstieg des Anteils des akkumulierten Mehrwerts, wie auch jede Änderung der organischen Zusammensetzung des Kapitals, würde in dieselbe Richtung wirken.

Die oben erwähnten drei Tendenzen – der Anstieg der Mehrwertrate, der Anstieg der Akkumulationsrate und die Veränderung der organischen Zusammensetzung des Kapitals – hielt Marx für absolute und immanente Gesetze des Kapitalismus. Werden sie noch mit berücksichtigt, so gewinnt Rosa Luxemburgs These, daß im reinen Kapitalismus ökonomische Disproportionalitäten unvermeidbare und permanente Begleiterscheinungen darstellen, außerordentlich an Gewicht.

 

 

Kritik der Kritik

Es gibt jedoch einen wichtigen Faktor, der alle oben genannten kompensiert und eng mit ihnen verbunden ist: die Zunahme des relativen Gewichts der Abteilung I gegenüber Abteilung II. Die Veränderung der organischen Zusammensetzung des Kapitals, die Verbesserung der Technik, war historisch notwendig mit dem relativen Wachstum der Abteilung I gegenüber der Abteilung II verbunden. So wurde berechnet, daß das Verhältnis der Nettoproduktion von Investitionsgütern zu der von Konsumgütern in Großbritannien sich wie folgt entwickelte: 1851: 100 zu 470; 1871: 100 zu 390; 1901: 100 zu 170; 1924: 100 zu 150.

Die Zahlen für die USA sind: 1850: 100 zu 240; 1890: 100 zu 150; 1920: 100 zu 80.

Die Zahlen für Japan: 1900: 100 zu 480; 1913: 100 zu 270; 1925: 100 zu 240. [9]

Um zu zeigen, daß das Anwachsen der Abteilung I gegenüber Abteilung II die von Rosa Luxemburg erwähnten Faktoren, ebenso wie die hier zur Unterstützung ihrer These von der tendenziellen Überproduktion in Abteilung II vorgetragenen, kompensiert, soll in einer schematischen Darstellung gezeigt werden, welche Auswirkungen die Veränderung des relativen Gewichts von Abteilung I gegenüber Abteilung II auf das Austauschverhältnis zwischen beiden Abteilungen hat.

Das in Abteilung I investierte Kapital kann im Vergleich mit Abteilung II auf zwei Arten wachsen:

  1. durch eine höhere Akkumulationsrate in Abteilung I (als in Abteilung II);
  2. Durch die Übertragung von Kapital von Abteilung II auf Abteilung I.

Wir werden für jeden dieser beiden Prozesse ein Beispiel durchrechnen.

Nehmen wir an, daß die Akkumulationsrate in Abteilung I höher ist als in Abteilung II: in Abteilung I wird die Hälfte des Mehrwerts kapitalisiert, in Abteilung Il nur ein Drittel. Wir nehmen weiter an, daß die anderen Faktoren (eine Mehrwertrate von 100%, die organische Zusammensetzung des Kapitals in einem Verhältnis von konstantem zu variablem Kapital wie 5 : 1) unverändert bleiben. Dann wird, wenn wir die oben zitierte Marx’sche Darstellung als Ausgangspunkt benutzen, die Reproduktion des Kapitals in folgender Progression stattfinden (die Zahlen sind der Einfachheit halber abgerundet):

Ausgangspunkt:

I.

5.000c + 1.000v + 1.000m

= 7.000

II.

1.500c + 300 v + 300m

= 2.100

 

Ende des ersten Jahres:

I.

5.000c + 1.000v + 500r + 417ac + 83av

= 7.000

II.

1.500c + 300v + 200r + 80ac + 20av

= 2.100

cII + acII

= 1.580

während vI + rI + avI

= 1.583

Damit erscheint am Ende des ersten Jahres statt eines Überschusses in Abteilung II, wie Rosa Luxemburg annahm, ein Überschuß in Abteilung I im Werte von 3.

Ende des zweiten Jahres:

I.

5.417c + 1.083v + 541r + 450ac + 90av

= 7.583

II.

1.580c + 320v + 213r + 90ac + 18av

= 2.220

cII + acII

= 1.670

während vI + rI + avI

= 1.714

Der Überschuß in Abteilung I beträgt nun 44.

 

Ende des dritten Jahres:

I.

5.867c + 1.173v + 586r + 489ac + 98av

= 8.213

II.

1.670c + 338v + 225r + 94ac + 19av

= 2.346

cII + acII

= 1.764

während vI + rI + avI

= 1.857

Der Überschuß in Abteilung I beträgt nun 93.

Aus dieser Darstellung wird klar, daß gleichbleibende Mehrwertrate und unveränderte organische Zusammensetzung des Kapitals vorausgesetzt – im Falle einer höheren Akkumulationsrate in Abteilung I, in Abteilung I Überproduktion auftritt. [10]

Wie wir oben gesagt haben, kann sich Abteilung I gegenüber Abteilung II auch durch Übertragung von Mehrwert von Abteilung II auf Abteilung I vergrößern. Verdeutlichen wir auch diesen Prozeß durch eine Darstellung. Wir nehmen an, die Mehrwertrate, die organische Zusammensetzung des Kapitals und die Akkumulationsrate seien in beiden Abteilungen gleich und blieben konstant. Gleichzeitig nehmen wir an, die Hälfte des in Abteilung II produzierten Mehrwerts werde auf Abteilung I übertragen.

Das Fortschreiten der erweiterten Reproduktion könnte dann folgendermaßen beschrieben werden:

Ausgangspunkt:

I.

5.000c + 1.000v + 1.000m

= 7.000

II.

1.500 +; 300v + 300m

= 2.100

 

Ende des ersten Jahres:

I.

5.000c + 1.000v + 500r + 417ac + 83av

= 7.000

II.

1.500c + 300v + 150r + 63ac + 12av
(plus dem auf Abteilung I übertragenen
Mehrwert: 63ac + 12av)

= 2.100

cII + acII

= 1.563

während vI + I + avI
(plus dem von Abteilung II übertragenen av)

= 1.595.

Damit stehen wir am Ende des ersten Jahres statt vor einem Überschuß in Abteilung II, wie Rosa Luxemburg annahm, vor einer Überproduktion in Abteilung I im Wert von 32.

Ende des zweiten Jahres:

I.

5.480c + 1.095v + 547r + 455ac + 91av

= 7.670

II.

1.563c + 312v + 156r + 65ac + 13av
(plus dem auf Abteilung I übertragenen
Mehrwert: 65ac + 13av)

= 2.187

cII + acII

= 1.628

während vI + rI + avI
(plus dem von Abteilung II übertragenen av)

= 1.746.

Der Überschuß in Abteilung I beträgt 118.

 

Ende des dritten Jahres:

I.

6.000c + 1.200v + 600r + 500ac + 100av

= 8.400

II.

1.628c + 325v + 162r + 67ac + 14av
(plus dem auf Abteilung I übertragenen
Mehrwert: 67ac + 14av)

= 2.278

cII + acII

= 1.695

während vI + rI + avI
(plus dem von Abteilung II übertragenen av)

= 1.914.

Der Überschuß in Abteilung I beträgt 219.

Nun wendet sich Rosa Luxemburg gegen den Gedanken, der Mehrwert-Transfer von einer Abteilung auf die andere könne dazu beitragen, ein Austauschgleichgewicht zwischen den Abteilungen herbeizuführen: „... so scheitert die beabsichtigte Übertragung eines Teils des kapitalisierten Mehrwerts aus der Abteilung II in die Abteilung I erstens an der Sachgestalt dieses Mehrwerts, mit der die Abteilung I offenbar nichts anfangen kann, zweitens aber an den Austauschverhältnissen zwischen beiden Abteilungen, die es mit sich bringen, daß der Übertragung eines Teils des Mehrwerts in Produkten II in die erste Abteilung eine gleichwertige Übertragung von Produkten I in die zweite Abteilung entsprechen muß.“ [11]

Mit anderen Worten: Rosa Luxemburg sagt, das Marxsche Schema sei auf die Voraussetzung gegründet, daß erstens die Realisierung von Mehrwert nur durch einen Austausch zwischen den Abteilungen stattfinden könne, und daß zweitens der voraussichtliche Überschuß in Abteilung II natürliche Form annehme, d.h. Konsummittel bleibe und nicht direkt als Produktionsmittel dienen könne. Das erste Argument geht fehl aufgrund der Tatsache, daß der Austausch zwischen Unternehmen der gleichen Abteilung zur Realisierung des Mehrwerts dienen kann: Wenn ein Eigentümer einer Hutfabrik seine Hüte an Arbeiter verkauft, die Zwieback produzieren, realisiert er den von seinen Arbeitern geschaffenen Mehrwert. Zweitens können eine ganze Reihe von Konsumgütern auch als Produktionsmittel dienen: Wenn ein Bauunternehmer Fabriken anstelle von Wohnungen baut, ist das übertragen von Kapital von Abteilung II auf Abteilung I; Elektrizität kann zur Beleuchtung von Wohnungen ebenso dienen wie zum Antrieb von Maschinen; Korn kann Menschen ernähren (Konsum), aber auch Schweine (produktiver Konsum), etc. Drittens verliert ohne die Möglichkeit des Kapitaltransfers von einer Abteilung auf die andere die These, daß die Profitrate in der gesamten Wirtschaft zum Ausgleich tendiert (und das ist ein grundlegender Bestandteil der marxistischen Ökonomie), ihre Begründung.

Aus der obigen Darstellung wird klar, daß ein relatives Anwachsen von Abteilung I gegenüber Abteilung II, bei sonst gleichen Bedingungen, Überschüsse in den Austauschbeziehungen der Abteilung I mit sich bringt.

Kann dieser Faktor nicht den von Rosa Luxemburg als Ursache eines Überschusses in Abteilung II aufgezeigten Faktor kompensieren? Sind die verschiedenen, einander aufhebenden Faktoren nicht tatsächlich zwei Seiten einer Münze, des Fortschritts der kapitalistischen Wirtschaft? Natürlich ist es so. Rosa Luxemburg kam zu dem Schluß, in Abteilung II müsse ein Überschuß auftreten, weil sie nur die eine Seite der Münze beachtete. Unter Berücksichtigung beider Seiten ergibt sich, daß im reinen Kapitalismus Proportionalität zwischen beiden Abteilungen bestehen kann, solange die Akkumulation in beiden gleichmäßig und nicht unregelmäßig erfolgt.

Die theoretische Möglichkeit der Erhaltung korrekter Proportionalitäten zwischen den beiden Abteilungen, die durch ihren Austausch Überproduktion verhindern können, wenn die Akkumulation gleichmäßig erfolgt, bedeutet nicht, daß im realen Ablauf das anarchische und atomistische Funktionieren des Kapitalismus zu beständiger und stabiler Bewahrung der erforderlichen Proportionalitäten führt. Und hier ist der von Rosa Luxemburg aufgezeigte Faktor – die Existenz nichtkapitalistischer Formationen, in die der Kapitalismus expandiert – von überaus großer Bedeutung. Wenn sie auch nicht, wie Rosa Luxemburg meinte, eine Voraussetzung der erweiterten Reproduktion ist, so bildet sie doch zumindest einen Faktor, der den Prozeß der erweiterten Reproduktion, der Akkumulation erleichtert, indem er die Interdependenz der beiden Abteilungen einschränkt. Man kann Rosa Luxemburg nur zustimmen, wenn sie sagt:

Die Akkumulation ist nicht nur ein inneres Verhältnis zwischen den Zweigen der kapitalistischen Wirtschaft, sondern vor allem ein Verhältnis zwischen dem Kapital und dem nichtkapitalistischen Milieu, in dem jeder der beiden großen Zweige der Produktion den Akkumulationsprozeß zum Teil auf eigene Faust unabhängig vom anderen durchmachen kann, wobei sich die Bewegung beider wieder auf Schritt und Tritt kreuzt und ineinander verschlingt. Die sich daraus ergebenden komplizierten Beziehungen, die Verschiedenheit des Tempos und der Richtung im Gang der Akkumulation beider Abteilungen, ihre sachlichen- und Wertzusammenhänge mit nichtkapitalistischen Produktionsformen, lassen sich nicht unter einen exakten schematischen Ausdruck bringen ... [12]

Tatsächlich sind die Faktoren, die über bestimmte Proportionalitäten zwischen den Abteilungen entscheiden, sehr zahlreich und widersprüchlich (die Ausbeutungsrate, die Rate der Akkumulation in verschiedenen Industriezweigen, Veränderungen in der organischen Zusammensetzung des Kapitals in verschiedenen Industriezweigen etc.), und sobald die Wirtschaft einmal das Stadium des Gleichgewichts verläßt, verändern sich frühere Proportionalitäten nach dem Schneeballsystem in Disproportionalitäten. Daher kann der Austausch zwischen der kapitalistischen Industrie und nichtkapitalistischen Bereichen, auch wenn er, den absoluten Zahlen nach, recht klein ist, für die Elastizität, und dadurch auch für die Stabilität des Kapitalismus von ungeheurer Bedeutung sein.

 

 

Der begrenzte Markt des Kapitalismus

In ihrem Buch wechselt Rosa Luxemburg zwischen Analysen der Reproduktionsschemata (die die Austauschverhältnisse zwischen den beiden Abteilungen beschreiben) und der Analyse anderer Beziehungen zwischen beiden Abteilungen: der Fähigkeit der Produktionsmittel, zu Konsummitteln zu werden; hier werden also die Produktionsmittel nicht nur gegen Konsummittel ausgetauscht, sondern gleichzeitig in neuen Konsummitteln realisiert. Die in den Marx’schen Schemata ausgedrückten Proportionalitäten sind Bedingungen, ohne die eine Akkumulation nicht stattfinden kann; damit aber die Akkumulation tatsächlich stattfindet, bedarf es einer fortschreitend wachsenden Nachfrage nach Waren, und es erhebt sich die Frage: Wo kommt diese Nachfrage her?

Die kapitalistische Prosperität hängt von wachsender Produktion und Absorption der Kapitalgüter ab. Aber dies ist letzten Endes von der Fähigkeit der Industrie abhängig, den steigenden Ausstoß von Konsumgütern zu verkaufen. Beim Versuch, ihre Produkte zu verkaufen, gerät die kapitalistische Industrie aber in wachsende Widersprüche, deren grundlegendster der zwischen der Produktion und dem begrenzten Markt ist: „Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktivkräfte so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft ihre Grenze bilde.“ [13]

Rosa Luxemburg behauptete, der Faktor, der es dem Kapitalismus ermögliche, dem absoluten Akkumulationshindernis des begrenzten Marktes auszuweichen, sei die Expansion der kapitalistischen Industrie in nichtkapitalistische Gebiete. [14]

 

 

Andere ökonomische Auswirkungen des Imperialismus

Mehr als jeder andere marxistische oder nicht-marxistische Wirtschaftswissenschaftler hat Rosa Luxemburg auf die Rückwirkungen der nichtkapitalistischen Grenze auf den Kapitalismus aufmerksam gemacht. Daran anknüpfend lassen sich (auch wenn sie selbst nicht alle wesentlichen Konsequenzen entwickelt hat) die Auswirkungen der kapitalistischen Expansion in nichtkapitalistische Gebiete etwa folgendermaßen zusammenzufassen:

1. Die Märkte der rückständigen Kolonialländer schwächen durch steigende Nachfrage nach Waren aus industrialisierten Ländern die dort bestehende Tendenz zur Überproduktion, vermindern die Reservearmee der Arbeitslosen und bewirken dadurch eine Verbesserung der Lehne der Arbeiter in den industrialisierten Ländern.

2. Die derart herbeigeführte Lohnerhöhung hat kumulative Auswirkungen. Durch die Erweiterung des inneren Marktes in den industrialisierten Ländern wird die Tendenz zur Überproduktion geschwächt, Arbeitslosigkeit nimmt ab, die Lehne steigen.

3. Der Kapitalexport trägt zur Prosperität der industrialisierten Länder bei, da er – zumindest zeitweise – einen Markt für ihre Waren schafft. Der Baumwollwarenexport von Großbritannien nach Indien hat zur Voraussetzung, daß Indien dafür sofort zahlen kann, z.B. durch Export von Baumwolle. Andererseits setzt der Kapitalexport zum Bau einer Eisenbahn den Export von Gütern – Schienen, Lokomotiven etc. – voraus, der die unmittelbare Kauf- oder Exportkraft Indiens übersteigt. Mit anderen Worten: Für eine bestimmte Zeit ist der Kapitalexport ein wichtiger Faktor für die Erweiterung der Märkte für die Industrien der fortgeschrittenen Länder. Danach schlägt jedoch dieser Faktor in sein Gegenteil um: Einmal exportiertes Kapital bremst den Warenexport aus dem Mutterland, sobald die Kolonialländer beginnen, auf dieses Kapital Gewinne oder Zinsen zu zahlen. Wenn z.B. Indien Gewinne in Höhe von 10 Millionen Pfund an Großbritannien zu zahlen hat (für britisches, in Indien investiertes Kapital), muß es weniger importieren, als es exportiert, um so die benötigten 10 Millionen Pfund einsparen zu können. Mit anderen Worten: Der Kapitalexport von Großbritannien nach Indien erweitert den Markt für britische Waren; die Bezahlung der Zinsen und Profite auf britisches Kapital in Indien schränkt die Märkte für britische Waren ein.

Daher schließen große Investitionen von britischem Kapital im Ausland keineswegs Überproduktion und Massenarbeitslosigkeit in Großbritannien aus. Im Gegensatz zur Leninschen Ansicht brauchen die hohen Profite aus dem im Ausland investierten Kapital durchaus nicht eine Begleiterscheinung der kapitalistischen Prosperität und Stabilisierung in den imperialistischen Ländern zu sein, sondern können zu einem Faktor der Massenarbeitslosigkeit und Depression werden.

4. Der Kapitalexport in die Kolonien beeinflußt den gesamten Kapitalmarkt im imperialistischen Land. Selbst wenn der vergeblich nach Investitionsmöglichkeiten suchende Kapitalüberschuß sehr klein wäre, könnte sein kumulativer Effekt verheerend wirken, da er auf den Kapitalmärkten Druck erzeugen und den Abwärtstrend der Profitrate verstärken würde. Das hätte wiederum kumulierende Auswirkungen auf die Tätigkeit des Kapitals, auf die gesamte ökonomische Aktivität, auf den Arbeitsmarkt, damit auf die Kaufkraft der Massen, und dadurch – in einem Teufelskreis – auf die Märkte.

Der Export von überschüssigem Kapital kann diesen Schwierigkeiten entgegenwirken und dadurch für die gesamte kapitalistische Prosperität – und für den Reformismus – große Bedeutung gewinnen.

5. Indem er den Druck auf den Kapitalmärkten mindert, verringert der Kapitalexport den Wettbewerb zwischen verschiedenen Unternehmen, d.h. die Notwendigkeit, ihre Ausstattung zu rationalisieren und zu modernisieren. (Das erklärt z.B. in gewissem Maße die – im Vergleich zum heutigen Deutschland bestehende – technische Rückständigkeit der britischen Industrie, die einmal Pionier der industriellen Revolution gewesen ist). Dies schwächt die Tendenzen zu Überproduktion und Arbeitslosigkeit, zu Lohnsenkungen etc. (natürlich kann dieser Faktor unter veränderten Bedingungen, wenn Großbritannien sein virtuelles Monopol in der Industriewelt verloren hat, durchaus zur Niederlage der britischen Industrie auf dem Weltmarkt, zu Arbeitslosigkeit und Lohnsenkungen führen).

6. Der Kauf billiger Rohstoffe und Nahrungsmittel in den Kolonien erlaubt in den industrialisierten Ländern Erhöhungen der Reallöhne ohne Senkung der Profitrate. Diese Lohnerhöhung bedeutet erweiterte Binnenmärkte ohne Absinken von Profitrate und -menge, d.h. ohne Schwächung des Antriebs der kapitalistischen Produktionsweise.

7. Der Zeitraum, in dem die agrarischen Kolonialländer zur Erweiterung der Märkte für die industrialisierten Länder beitragen, verlängert sich proportional zu:

  1. dem Umfang der kolonialen Welt im Vergleich zur Produktivkraft der fortgeschrittenen industrialisierten Länder, und
  2. zu dem Ausmaß, in dem die Industrialisierung dieser Länder hinausgeschoben wird.

8. Alle günstigen Auswirkungen des Imperialismus auf die kapitalistische Prosperität würden eliminiert, wenn zwischen den industrialisierten imperialistischen Ländern und ihren Kolonien keine nationalen Grenzen bestünden. Großbritannien exportierte Waren und Kapital nach Indien und importierte Rohstoffe und Nahrungsmittel; aber die durch das Eindringen des britischen Kapitalismus vermehrten indischen Arbeitslosen wurden nicht auf dem britischen Arbeitsmarkt zugelassen. Gäbe es nicht die (finanzielle) Schranke für eine indische Masseneinwanderung nach Großbritannien, so wären die Lehne in Großbritannien während des ganzen letzten Jahrhunderts nicht gestiegen. Die Krise des Kapitalismus hätte sich verschärft. Der Reformismus hätte den revolutionären Chartismus nicht ersetzen können. [15]

 

 

Zusammenfassung

Man kann Rosa Luxemburgs Kritik der Marx’schen Schemata im Band II des Kapitals akzeptieren oder ablehnen, ebenso wie alle oder einige Glieder ihrer Argumentationskette, die zu dem Schluß führt, daß der Kapitalismus, wäre die kapitalistische Produktionsweise nicht nur die vorherrschende, sondern die einzige, notwendigerweise innerhalb kurzer Zeit an seinen eigenen inneren Widersprüchen zugrunde gegangen wäre. Wie immer man dazu steht: unzweifelhaft ist, daß Rosa Luxemburg durch ihren Hinweis auf die Auswirkungen der nichtkapitalistischen Sphären auf die Stabilität des Kapitalismus einen unschätzbaren Beitrag geleistet hat. Wie Joan Robinson in ihrem Vorwort zur englischen Ausgabe der Akkumulation des Kapitals feststellt, würden „nur wenige bestreiten, daß die Ausbreitung des Kapitalismus auf neue Territorien die Haupttriebfeder dessen war, was ein akademischer Nationalökonom (Hicks) den ‚großen säkularen Aufschwung‘ der letzten zweihundert Jahre genannt hat, und viele akademische Nationalökonomen erklären die unangenehme Lage des Kapitalismus im zwanzigsten Jahrhundert weitgehend aus dem ‚Schließen der Grenzen‘ auf der ganzen Welt.“ [16]

Joan Robinson mischt ihr Lob für Rosa Luxemburgs Analyse mit einer Kritik daran, daß sie den Anstieg der Reallöhne in der gesamten kapitalistischen Welt (ein Faktor zur Erweiterung des Marktes) ignoriert und so ein unvollständiges Bild gezeichnet habe. Aber auch wenn Rosa Luxemburg diesen Faktor nicht in ihre Analyse aufgenommen hat (er ist unwesentlich für ihr Hauptthema, die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der erweiterten Reproduktion im reinen Kapitalismus), so kann man den Anstieg der Reallöhne selbst nicht unabhängig von dem Hauptfaktor erklären, auf den Rosa Luxemburg hinwies: die Expansion des Kapitalismus in nichtkapitalistische Sphären. [17]

 

 

Anmerkungen

1. Vorwort zu: Die Akkumulation des Kapitals (1913): zit. nach Akk, Vorwort.

2. Tatsächlich ist für eine reibungslose Reproduktion nicht nur die Einhaltung einer bestimmten Proportion zwischen den Abteilungen I und II der Gesamtwirtschaft notwendig, sondern das Verhältnis zwischen den Abteilungen muß auch in jedem Wirtschaftszweig gewahrt bleiben. So wird z.B. die Produktion von Textilmaschinen (Abteilung I) der Nachfrage nach dieser Art von Maschinen in der Bekleidungsindustrie (Abteilung II) entsprechen müssen.

3. Diese Gleichungen, die algebraische Formulierungen der Marx’schen Analyse in Band II des Kapitals darstellen, wurden von N. Bucharin in Der Imperialismus und die Akkumulation des Kapitals, Wien 1926, S.7-12, formuliert. Wir halten sie für eine sehr brauchbare Zusammenfassung der vielen arithmetischen Beispiele Marx’.

4. Bevor wir Rosa Luxemburgs Analyse des Reproduktionsprozesses beschreiben, muß noch betont werden, daß sie nicht eine Theorie zur Erklärung der zyklischen Bewegung von Aufschwung, Krise und Abschwung entwickelte. Sie faßte die periodischen Zyklen als Reproduktionsphasen der kapitalistischen Wirtschaft auf, nicht aber als den Gesamtprozeß. Daher sah sie in ihrer Analyse von Zyklen ab, um den reinen Reproduktionsprozeß als ganzen zu untersuchen: „Denn trotz des scharfen Auf und Ab der Konjunkturen, trotz Krisen werden die Bedürfnisse der Gesellschaft schlecht oder recht befriedigt, die Reproduktion geht weiter ihren verschlungenen Gang und die Produktivkräfte entwickeln sich immer mehr. Wie kommt dies nun zustande, wenn wir von Krise und Konjunkturwechsel absehen? – Hier beginnt die eigentliche Frage ... wenn wir im folgenden von kapitalistischer Reproduktion sprechen, so ist darunter stets jener Durchschnitt zu verstehen, der sich als die mittlere Resultante des Konjunkturwechsels innerhalb eines Zyklus ergibt.“ (Akk, S.7)

5. Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, II. Band, MEW, Bd.24, S.505.

6. a.a.O., S.507-8.

7. Akk, S.95.

8. a.a.O., S.95.

9. W.S. and E.S. Woytinski, World Population and Production, New York 1953. S.415f.

10. Rosa Luxemburgs Einwand gegen die Annahme einer höheren Akkumulationsrate in Abteilung I gegenüber Abteilung II (siehe Akk, S 308f.) ist völlig falsch. Es ist hier aus Platzgründen leider nicht möglich, darauf näher einzugehen.

11. Akk, S.311.

12. Akk, S.393f.

13. Marx, Kapital, Bd.III, MEW Bd.25, S.501.

14. Eine andere „marxistische“ Antwort auf das kapitalistische Dilemma lieferte Otto Bauer in seiner Kritik an Rosa Luxemburgs Werk. Mit viel komplizierteren Reproduktionsschemata, als Marx und Rosa Luxemburg benutzt hatten, versuchte er „die Anpassung der Akkumulation an das Bevölkerungswachstum“ nachweisen: „Die periodische Wiederkehr der Prosperität, der Krise, der Depression ist der empirische Ausdruck der Tatsache, daß der Mechanismus der kapitalistischen Produktionsweise selbsttätig Überakkumulation und Unterakkumulation aufhebt, die Akkumulation des Kapitals immer wieder dem Wachstum der Bevölkerung anpaßt. (Otto Bauer, Die Akkumulation des Kapitals, in Die Neue Zeit, 7. u. 14. März 1913, S.871f.) Und dies sagte nicht ein Malthus-, sondern ein Marxschüler, für den der entscheidende Faktor nicht im Bevölkerungswachstum, sondern im Akkumulation des Kapitals liegen sollte!

15. Übrigens muß der „dritte“ Käufer – der weder Arbeiter noch kapitalistischer Verbraucher ist – nicht unbedingt der nichtkapitalistische Produzent sein; auch der nichtproduzierende Staat kann als Käufer auftreten. Daher kann die ständige Rüstungswirtschaft zumindest für eine gewisse Zeit auf die kapitalistische Prosperität ähnliche Auswirkungen haben wie die nichtkapitalistische Wirtschaftssphäre (siehe T. Cliff: Perspectives on the Permanent War Economy, in: Socialist Review, Mai, 1957).

16. Joan Robinson, Rosa Luxemburgs Akkumulation des Kapitals, zit. nach der Aufsatzsammlung Über Keynes hinaus, Wien 1962, S.91.

17. In ihrer Argumentation machte Rosa Luxemburg eine Reihe nebensächlicher Fehler, die N. Bucharin in der Folgezeit in seiner Studie Der Imperialismus und die Akkumulation des Kapitals aufdeckte, obwohl er ihre zentrale These nicht widerlegte (selbst wenn er glaubte, es sei ihm gelungen). So widmete Rosa Luxemburg zum Beispiel rein monetären Problemen der Kapitalakkumulation beträchtliche Aufmerksamkeit – ob man zum Beispiel die Produktion von Geldmaterial (Gold, Silber etc.) der Abteilung I zuschlagen solle, wie Marx es getan hatte, oder ob man, wie sie selbst vorschlug, eine dritte Abteilung einführen sollte. Es scheint, als hätte Rosa Luxemburg an einigen Stellen in ihrem Buch die Frage: Wo kommt die Nachfrage her? mit der Frage verwechselt: Wo kommt das Geld her? Da dies jedoch für die zentrale These ihres Buches von untergeordneter Bedeutung ist, werden wir hier nicht darauf eingehen.

Während wir, wenn wir Rosa Luxemburgs eigener Argumentation zur Frage der Reproduktionsschemata genau folgen würden, sagen müßten, der Kern ihres Arguments laute, daß ein Teil des überschüssigen Mehrwerts in Abteilung II im reinen Kapitalismus nicht realisiert werden könnte, faßt Rosa Luxemburg selbst ihre Argumentation so zusammen, als hätte sie bewiesen, daß im reinen Kapitalismus überhaupt kein Teil des überschüssigen Mehrwerts realisiert werden kann. (Hierauf hat Fritz Sternberg in seinem Buch Der Imperialismus, Berlin 1926, S.102, hingewiesen).

 






 

IX. Rosa Luxemburgs historische Bedeutung

Franz Mehring, Marx’ Biograph, hat nicht übertrieben, als er Rosa Luxemburg den genialsten Kopf seit Marx nannte. Aber sie stellte nicht nur ihre Intelligenz in den Dienst der Arbeiterbewegung: Sie gab alles – ihr Herz, ihre Leidenschaft, ihren starken Willen, selbst ihr Leben.

Vor allem anderen war Rosa Luxemburg eine revolutionäre Sozialistin. Und unter den großen revolutionären Führern und Lehrern des Sozialismus nimmt sie eine besondere historische Stellung ein.

Als der Reformismus die sozialistische Bewegung niederzog, indem er sich mit dem Kapitalismus arrangierte und lediglich auf den „Wohlfahrtsstaat“ hoffte, war es von größter Bedeutung, an diesem Agenten des Kapitalismus revolutionäre Kritik zu üben. Es ist richtig, daß neben Rosa Luxemburg auch andere marxistische Theoretiker – Lenin, Trotzki, Bucharin u.a. – einen revolutionären Kampf gegen den Reformismus geführt haben. Aber sie hatten nur an einer vergleichsweise schmalen Front zu kämpfen. In ihrem Lande, in Rußland, waren die Wurzeln dieses Unkrauts so schwach und dürftig, daß ein bloßes Zupfen genügte, um sie auszureißen. Wo jedem Sozialisten oder Demokraten Sibirien oder der Galgen drohte, konnte sich niemand der Anwendung von Gewalt durch die Arbeiterbewegung prinzipiell widersetzen. Wer hätte im zaristischen Rußland von einem parlamentarischen Weg zum Sozialismus geträumt? Wer hätte eine Politik der Koalitionsregierung vorschlagen können, wenn es niemanden gab, mit dem man koalieren konnte? Wer konnte Gewerkschaften für das Kernstück der Arbeiterbewegung halten, wo sie kaum existierten? Lenin, Trotzki und die anderen russischen bolschewistischen Führer brauchten die Argumente des Reformismus nicht durch eine sorgfältige und exakte Analyse zu widerlegen. Sie brauchten nur einen Besen, um den Reformismus auf den Kehrichthaufen der Geschichte zu fegen.

In Mittel- und Westeuropa hatte der konservative Reformismus viel tiefere Wurzeln geschlagen, hatte einen wesentlich weitreichenderen Einfluß auf Gedanken und Stimmungen der Arbeiter. Die Argumente der Reformisten muten mit besseren Argumenten beantwortet werden, und hier brillierte Rosa Luxemburg. In diesen Ländern ist ihr Skalpell eine weit nützlichere Waffe als Lenins Schmiedehammer. Im zaristischen Rußland waren die Arbeitermassen nicht in Parteien oder Gewerkschaften organisiert. Dort bestand nicht – wie in der gutorganisierten deutschen Arbeiterbewegung – die Gefahr, daß eine aus der Arbeiterklasse hervorgegangene Bürokratie mächtige Herrschaftsbereiche aufbaute; und es war begreiflich, daß Rosa Luxemburg die Rolle der Arbeiterbürokratie viel früher und klarer durchschaute als Lenin oder Trotzki. Lange vor ihnen erkannte sie, daß die Initiative der Arbeiter die einzige Macht ist, die die Ketten der Bürokratie zerbrechen kann. Ihre Schriften zu diesem Thema können den Arbeitern in den fortgeschrittenen Industrieländern neue Hoffnung geben; zum Kampf um die Befreiung der Arbeiter von der schädlichen Ideologie des bürgerlichen Reformismus tragen ihre Schriften mehr und wertvolleres bei als die jedes anderen Marxisten.

In Rußland, wo die Bolschewiki stets einen großen und wichtigen Teil der organisierten Sozialisten ausmachten, auch wenn sie nicht immer (wie ihr Name besagt) die Mehrheit stellten, war die Stellung einer kleinen marxistischen Minderheit zur konservativ geführten Massenorganisation niemals ein wirkliches Problem. Es blieb weitgehend Rosa Luxemburg überlassen, den richtigen Ansatz zur Lösung dieser entscheidenden Frage zu entwickeln. Ihr Leitsatz hieß: Arbeite mit den Massen und versuche, ihnen zu helfen. Daher widersetzte sie sich jeder Abkehr vom Hauptstrom der Arbeiterbewegung, wie immer deren Entwicklungsniveau sein mochte. Ihr Kampf gegen das Sektierertum ist für die Arbeiterbewegung des Westens von überaus großer Bedeutung, vor allem in der Gegenwart, angesichts der alles durchdringenden Ideologie vom Wohlfahrtsstaat. Gerade die britische Arbeiterbewegung kann sich nach den leidvollen Erfahrungen mit dem Sektierertum Hyndmans und der SDF, dann der BSP und SLP und schließlich der KP (besonders in ihrer „dritten Periode“) von Rosa Luxemburg zu einem grundsätzlichen Kampf gegen den Reformismus inspirieren lassen, der nicht in Flucht vor dem Reformismus ausartet. Sie lehrt, daß ein Revolutionär weder mit dem Strom des Reformismus schwimmen noch am Rande sitzen und in die andere Richtung schauen, sondern kräftig gegen den Strom schwimmen muß.

Rosa Luxemburgs lange Zugehörigkeit zur deutschen Sozialdemokratie verlieh ihrer eigenen Organisation einen sehr passiven Charakter. Die deutsche Linke beschränkte sich weitgehend auf die Kommentierung von Ereignissen und Strategien. Daher rührt ihre organisatorische, strategische und taktische Schwäche in der revolutionären Situation in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg.

Während man von Rosa lernen soll, nicht in Sektierer- und Abenteurertum zu verfallen, darf man andererseits auch den Bogen nicht überspannen und zu Passivität neigen, nicht „hinter den Massen zurückbleiben“. Rosa Luxemburgs Konzeption von der Struktur revolutionärer Organisationen – daß sie konsequent demokratisch von unten nach oben aufgebaut werden sollten – entspricht den Bedürfnissen der Arbeiterbewegung in den fortgeschrittenen Ländern weit besser als die Leninsche Konzeption von 1902–04, die voll den Stalinisten in aller Welt kopiert und bürokratisch verzerrt worden ist. Allerdings weist Rosa Luxemburg zu wenig auf die Gefahr hin, daß diejenigen, die in einer reformistischen Partei eine oppositionelle Tendenz vertreten, sehr leicht dem immanenten Trend unterliegen, die Ereignisse nur passiv zu kommentieren, statt sich aktiv zu bemühen, sie zu beeinflussen.

Rosa Luxemburgs Mischung aus revolutionärem Elan und klarem Verständnis für den Charakter der Arbeiterbewegung in West- und Mitteleuropa hat ihre Grundlage in ihrer Biographie – Geburt im zaristischen Kaiserreich, der lange Aufenthalt in Deutschland und der unbedingte Einsatz für die polnische wie für die deutsche Arbeiterbewegung. Ein Mensch von geringerem Format hätte sich einem der beiden Milieus angepaßt, nicht aber Rosa Luxemburg. Nach Deutschland brachte sie den „russischen“ Elan, den Elan der revolutionären Aktion. Polen und Rußland brachte sie den „westlichen“ Geist des Selbstvertrauens in die Demokratie und die Selbstbefreiung der Arbeiterklasse.

Ihre Akkumulation des Kapitals ist ein unschätzbarer Beitrag zur marxistischen Theorie. In ihrer Analyse der Beziehungen zwischen industriell fortgeschrittenen und rückständig-agrarischen Ländern entwickelte sie den wichtigen Gedanken, daß der Imperialismus, der den Kapitalismus auf lange Sicht stabilisiert, zugleich droht, die Menschheit unter seinen Trümmern zu begraben.

Rosa Luxemburgs vitale, energische und keinesfalls fatalistische Auffassung der Geschichte, die sie als Ergebnis menschlichen Handelns begriff, und ihre Analyse der tiefen Widersprüche des Kapitalismus, ließen sie den Sieg des Sozialismus nicht als unvermeidlich ansehen. Der Kapitalismus, meinte sie, könne entweder die Vorstufe zum Sozialismus oder aber die Schwelle zur Barbarei sein. Wir, die wir im Schatten der H-Bombe leben, müssen diese Warnung begreifen und sie als Ansporn zum Handeln verstehen.

Im späten neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhundert versank die deutsche Arbeiterbewegung nach Jahrzehnten des Friedens in der Illusion, dieser Zustand werde ewig dauern. Wir, die wir in den Fesseln der Diskussion über kontrollierte Abrüstung, über Vereinte Nationen, über Gipfeltreffen etc. gefangen sind, können nichts Besseres tun, als aus Rosa Luxemburgs klarer Analyse der unauflöslichen Verbindung von Krieg und Kapitalismus zu lernen, und ebenso aus ihrer Einsicht, daß der Kampf um den Frieden vom Kampf für den Sozialismus nicht zu trennen ist.

Ihre Leidenschaft für die Wahrheit ließ Rosa Luxemburg vor jedem dogmatischen Denken zurückschrecken. In einer Epoche, in der der Stalinismus den Marxismus weitgehend in ein Dogma verwandelt hat und im Reich der Gedanken Verzweiflung verbreitet, wirken Rosa Luxemburgs Schriften anfeuernd und belebend. Nichts war ihr unerträglicher als die Verneigung vor „unfehlbaren Autoritäten“. Als wirkliche Schülerin von Marx konnte sie unabhängig von ihrem Lehrer denken und handeln. Sie hatte den Geist seiner Lehre erfaßt; darum verlor sie auch nicht ihre kritischen Fähigkeiten über der einfachen Wiederholung seiner Worte, abgesehen davon, ob diese nun der veränderten Situation entsprachen oder nicht, ob sie falsch oder richtig waren. Rosa Luxemburgs intellektuelle Unabhängigkeit ist für Sozialisten überall und jederzeit die stärkste Inspiration.

Niemand hätte mehr als sie selbst jeden Versuch bekämpft, sie „heilig“ zu sprechen, sie zu einer „unfehlbaren Autorität“ zu machen, zum Haupt einer Schule des Denkens oder Handelns. Sie liebte den Konflikt der Ideen als ein Mittel, der Wahrheit näherzukommen.

In einer Zeit, in der so viele, die sich als Marxisten ausgeben, den Marxismus seines tiefen humanen Inhalts berauben, kann niemand mehr als Rosa Luxemburg dazu beitragen, uns von den Ketten des leblosen mechanistischen Materialismus zu befreien. Für Marx war der Kommunismus (oder Sozialismus) „realer Humanismus“, „eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ [1]

Rosa Luxemburg war die Verkörperung dieser humanistischen Leidenschaft. Sympathie für die Erniedrigten und Unterdrückten war das zentrale Motiv ihres Lebens. Ihr tiefes Gefühl und Verständnis für das Leiden der Menschen und alles Lebenden drückte sich in allem aus, was sie tat oder schrieb, in ihren Briefen aus dem Gefängnis ebenso wie in ihren bedeutendsten theoretischen Arbeiten.

Rosa Luxemburg wußte aber sehr genau, daß keine Tränen helfen, wo das menschliche Elend epische Maße annimmt. Ihr Motto hätte das von Spinoza sein können: „Nicht weinen, nicht lachen, verstehen“, obwohl ihr weder Tränen noch Lachen fremd waren. Ihre Methode bestand darin, die Entwicklungstendenzen des gesellschaftlichen Lebens aufzudecken, um der Arbeiterklasse zu helfen, ihre Möglichkeiten entsprechend der objektiven Entwicklung auf die umfassendste Weise zur Geltung zu bringen. Sie sprach eher die Vernunft als die Gefühle der Menschen an.

Tiefes menschliches Mitgefühl und ein ernstes Verlangen nach Wahrheit, unbändiger Mut und ein hervorragender Intellekt verbanden sich in Rosa Luxemburg und machten sie zu einer großen revolutionären Sozialistin. Ihre engste Freundin, Clara Zetkin, schrieb in ihrem Nachruf:

Die sozialistische Idee war in Rosa Luxemburg eine alles beherrschende mächtige Leidenschaft des Kopfes und Herzens, eine Leidenschaft, die verzehrte und sich schöpferisch auswirkte. Die Revolution vorbereiten, die die Bahn für den Sozialismus freilegt, war die Aufgabe und der eine große Ehrgeiz dieser seltenen Frau. – Die Revolution erleben, ihre Schlachten mitschlagen, war höchstes winkendes Glück. Mit einer Willenskraft, Selbstlosigkeit, Hingabe, für die Worte zu schwach sind, hat Rosa Luxemburg für den Sozialismus alles eingesetzt, was sie war, was sie in sich trug. Sie hat sich selbst ihm als Opfer dargebracht, nicht nur mit ihrem Tode, sondern täglich, stündlich mit der Arbeit und dem Kampf vieler Jahre ... Sie war das Schwert, die Flamme der Revolution. [2]

 

Anmerkungen:

1. Marx u. Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, a.a.O., S.482.

2. Clara Zetkin, (1919), zit. nach Paul Frölich: Rosa Luxemburg, a.a.O., S.229.

 



Sozialismus von unten