Sozialismus von unten
Magazin für antikapitalistische
Debatte & Kritik

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Lenin - Studie über den Zusammenhang seiner Gedanken

Georg Lukács

Inhalt

  • Vorwort
  • I. Die Aktualität der Revolution
  • II. Das Proletariat als führende Klasse
  • III. Die führende Partei des Proletariats
  • IV. Der Imperialismus: Weltkrieg und Bürgerkrieg
  • V. Der Staat als Waffe
  • VI. Revolutionäre Realpolitik



  • Vorwort

    Die hier folgenden, wenigen Bemerkungen erheben keinen Augenblick den Anspruch, die Theorie und die Praxis Lenins irgendwie erschöpfend zu behandeln. Sie versuchen bloß - in groben Umrissen - auf den Zusammenhang zwischen seiner Theorie und seiner Praxis hinzuweisen, aus dem Gefühl heraus, daß gerade dieser Zusammenhang, sogar im Bewußtsein vieler Kommunisten, nicht in hinreichender Deutlichkeit vorhanden ist. Eine wirkliche Behandlung all dieser Probleme würde nicht nur einen ganz anderen Umfang als diese wenigen Seiten erfordern, sondern es liegt für eine solche Darstellung von Lenins Lebenswerk, besonders für jene, denen die russische Literatur nur in Übersetzungen zugänglich ist, keineswegs ein hinreichend komplettes Material vor. Die Geschichte Lenins erfordert als Rahmen zumindest die Geschichte der vergangenen 30 bis 40 Jahre. Hoffen wir, daß ihre würdige Darstellung nicht allzulange auf sich warten läßt. Der Verfasser dieser andeutenden Bemerkungen fühlt selbst am drückendsten, wie schwer es ist, Einzelprobleme zu behandeln, bevor das Ganze, dem sie angehören, geklärt; zu popularisieren, bevor das, war popularisiert werden soll, wissenschaftlich einwandfrei niedergelegt ist. Darum ist hier eine Vollständigkeit der Probleme, die Lenins Leben erfüllt haben, eine geschichtlich genaue Aufeinanderfolge ihres Auftauchens gar nicht versucht worden. Die Auswahl und die Aufeinander- und Auseinanderfolge ist bloß vom Gesichtspunkte bestimmt, den Zusammenhang dieser Probleme so deutlich wie irgend möglich hervortreten zu lassen. Es versteht sich von selbst, daß die Auswahl der Zitate ebenfalls von diesem Gesichtspunkt und nicht von dem einer chronologischen Genauigkeit bestimmt ist. Wien, Februar 1924

    I. Die Aktualität der Revolution

    Der historische Materialismus ist die Theorie der proletarischen Revolution. Er ist es, weil sein Wesen die gedankliche Zusammenfassung jenes gesellschaftlichen Seins ist, das das Proletariat produziert, das das ganze Sein des Proletariats bestimmt; er ist es, weil in ihm das um Befreiung ringende Proletariat sein klares Selbstbewußtsein findet. Die Größe eines proletarischen Denkers, eines Vertreters des historischen Materialismus mißt sich deshalb an der Tiefe und Weite, die sein Blick in diesen Problemen erfaßt. Daran: mit welcher Intensität er imstande ist, hinter den Erscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft jene Tendenzen zur proletarischen Revolution richtig zu erblicken, die in ihnen und durch sie sich zum wirksamen Sein und zu hellem Bewußtsein heraufarbeiten.

    An diesem Maßstab gemessen ist Lenin der größte Denker, den die revolutionäre Arbeiterbewegung seit Marx hervorgebracht hat. Wohl sagen die Opportunisten, die die Tatsache seiner Bedeutung nicht mehr aus der Welt schwatzen oder schweigen können: Lenin wäre ein großer russischer Politiker gewesen. Zum Führer des Weltproletariats fehle ihm die Einsicht in den Unterschied zwischen Rußland und den Ländern des entwickelteren Kapitalismus; er habe - dies seine Grenze im geschichtlichen Maßstabe - die Fragen und Lösungen der russischen Wirklichkeit unkritisch ins Allgemeine ausgedehnt und auf die ganze Welt angewendet.

    Sie vergessen - was heute freilich mit Recht vergessen ist - daß derselbe Vorwurf seinerzeit auch gegen Marx erhoben wurde. Man sagte: Marx hätte seine Beobachtungen über das englische Wirtschaftsleben, über die englische Fabrik unkritisch als allgemeine Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung überhaupt ausgesprochen; die Beobachtungen mochten an sich ganz richtig sein, zu allgemeinen Gesetzen verzerrt mußten sie aber ebendeshalb falsch werden. Heute ist es bereits überflüssig, diesen Irrtum ausführlich zu widerlegen. Auseinanderzusetzen, daß Marx keineswegs einzelne, zeitlich und örtlich beschränkte Erfahrungen "verallgemeinert" hat. Er hat vielmehr - nach der Arbeitsweise der echten historischen und politischen Genies - im Mikrokosmos der englischen Fabrik, in ihren gesellschaftlichen Voraussetzungen, Bedingungen und Folgen, in den geschichtlichen Tendenzen, die zu ihrem Entstehen führen, und in jenen, die ihre Existenz problematisch machen, eben den Makrokosmos des Gesamtkapitalismus theoretisch wie historisch erblickt.

    Denn dies unterscheidet das Genie vom bloßen Routinier in Wissenschaft oder Politik. Dieser kann bloß die unmittelbar gegebenen, voneinander abgetrennten Momente des gesellschaftlichen Geschehens verstehen und unterscheiden. Und wenn er sich zu allgemeinen Schlüssen erheben will, so macht er in der Tat nichts anderes: als gewisse Seiten einer zeitlich und örtlich beschränkten Erscheinung - in wirklich abstrakter Weise - als "allgemeine Gesetze" aufzufassen und als solche anzuwenden. Dagegen sieht das Genie, dem das wahre Wesen, die wirkliche, die lebendig wirksame Haupttendenz einer Epoche klar geworden ist, hinter sämtlichen Geschehnissen seiner Zeit eben diese Tendenz wirken und behandelt auch dann die entscheidenden Grundfragen der ganzen Epoche, wenn es sogar selbst meint, nur über Tagesfragen zu sprechen.

    Heute wissen wir, daß hierin die Größe von Marx lag. Er hat aus der Struktur der englischen Fabrik alle entscheidenden Tendenzen des modernen Kapitalismus herausgelesen und gedeutet. Er hat stets das Ganze der kapitalistischen Entwicklung vor Augen gehabt: darum vermochte er in einer jeden ihrer Erscheinungen zugleich ihre Gesamtheit, in ihrem Aufbau zugleich ihre Bewegung zu erblicken.

    Heute wissen es aber erst wenige, daß Lenin für unsere Epoche dasselbe geleistet hat, was Marx für die Gesamtentwicklung des Kapitalismus. Er hat in den Entwicklungsproblemen des modernen Rußland - von den Entstehungsfragen des Kapitalismus in einem halbfeudalen Absolutismus bis zu den Problemen der Verwirklichung des Sozialismus in einem zurückgebliebenen Bauernland - stets die Probleme der ganzen Epoche gesehen: den Eintritt in die letzte Phase des Kapitalismus und die Möglichkeiten, den hier unvermeidlich gewordenen Entscheidungskampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat zugunsten des Proletariats, zur Rettung der Menschheit zu wenden.

    Lenin hat niemals - ebensowenig wie Marx - örtlich oder zeitlich beschränkte, lokal-russische Erfahrungen verallgemeinert. Er hat aber, mit dem Blick des Genies, bereits am Ort und im Zeitpunkt seiner ersten Wirksamkeit das Grundproblem unserer Zeit: die herannahende Revolution erkannt. Und er hat dann alle Erscheinungen, sowohl die russischen wie die internationalen, aus dieser Perspektive, aus der Perspektive der Aktualität der Revolution verstanden und verständlich gemacht.

    Die Aktualität der Revolution: dies ist der Grundgedanke Lenins und zugleich der Punkt, der ihn entscheidend mit Marx verbindet. Denn der historische Materialismus, als begrifflicher Ausdruck des proletarischen Befreiungskampfes, konnte auch theoretisch nur in einem geschichtlichen Augenblick erfaßt und formuliert werden, als seine praktische Aktualität bereits auf die Tagesordnung der Geschichte gestellt war. In einem Augenblick, wo im Elend des Proletariats nach Marx' Worten nicht mehr bloß das Elend selbst, sondern jene revolutionäre Seite, "welche die alte Gesellschaft über den Haufen werfen wird", sichtbar geworden ist. Freilich war auch damals der unerschrockene Blick des Genies notwendig, um die Aktualität der proletarischen Revolution erblicken zu können. Denn für die Durchschnittsmenschen wird die proletarische Revolution erst sichtbar, wenn die Arbeitermassen bereits kämpfend auf den Barrikaden stehen. Und falls diese Durchschnittsmenschen auch noch eine vulgär-marxistische Bildung genossen haben - sogar dann nicht. Denn in den Augen des Vulgärmarxisten sind die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft so unerschütterlich fest, daß er selbst in den Momenten ihrer sichtbarsten Erschütterung nur die Wiederkehr ihres "normalen" Zustandes herbeiwünscht, in ihren Krisen vorübergehende Episoden erblickt und einen Kampf selbst in solchen Zeiten als das unvernünftige Sich-Auflehnen Leichtfertiger gegen den dennoch unbesiegbaren Kapitalismus betrachtet. Die Barrikadenkämpfer erscheinen ihm also als Verirrte; die niedergeworfene Revolution als "Fehler"; und die Aufbauer des Sozialismus in einer Revolution, die - in den Augen des Opportunisten unmöglich anders als vorübergehend - siegreich war, sogar als Verbrecher.

    Der historische Materialismus hat also - bereits als Theorie - die weltgeschichtliche Aktualität der proletarischen Revolution zur Voraussetzung. In diesem Sinne, als objektive Grundlage der ganzen Epoche und zugleich als Gesichtspunkt ihres Verstehens, bildet sie den Kernpunkt der Marxschen Lehre. Jedoch trotz dieser Beschränkung, die in der scharfen Ablehnung aller unbegründeten Illusionen, in dem strengen Verurteilen aller putschistischen Versuche zum Ausdruck kam, klammert sich die opportunistische Auslegung alsbald an die sogenannten Irrtümer von Marx' Voraussichten im einzelnen, um auf diesem Umwege aus dem Gesamtaufbau des Marxismus die Revolution überhaupt und gründlich auszumerzen. Und die "orthodoxen" Verteidiger von Marx kommen hier seinen "Kritikern" auf halbem Weg entgegen. Kautsky erklärt Bernstein gegenüber, daß man die Entscheidung über die Diktatur des Proletariats ruhig der Zukunft (einer sehr fernen Zukunft) überlassen könne.

    Lenin hat auf diesem Punkte die Reinheit der Marxschen Lehre wieder hergestellt. Er hat sie jedoch zugleich gerade hier deutlicher und konkreter gefaßt. Nicht als ob er irgendwie Marx zu verbessern versucht hätte. Er hat bloß das Weiterschreiten des geschichtlichen Prozesses seit dem Tode von Marx in die Lehre hineingearbeitet. Und dies bedeutet, daß die Aktualität der proletarischen Revolution nunmehr nicht nur als weltgeschichtlicher Horizont über die sich befreiende Arbeiterklasse gespannt ist, sondern, daß die Revolution bereits zur Tagesfrage der Arbeiterbewegung geworden ist. Den Vorwurf des Blanquismus usw., den diese Grundeinstellung Lenin gekostet hat, konnte er ruhig ertragen. Nicht nur wegen der guten Gesellschaft, da er diesen Vorwurf mit Marx (mit "gewissen Seiten" von Marx) teilen mußte, sondern weil er nicht unverdient in diese gute Gesellschaft geraten ist. Auf der einen Seite hat weder Marx noch Lenin die Aktualität der proletarischen Revolution und ihrer Endziele sich je so vorgestellt, als ob man sie nunmehr im beliebigen Augenblick beliebig verwirklichen könnte. Anderseits aber war für beide durch die Aktualität der Revolution der sichere Maßstab der Entscheidung in jeder Tagesfrage gewonnen. Die Aktualität der Revolution bestimmt den Grundton einer ganzen Epoche. Erst diese Beziehung der einzelnen Handlungen auf dieses Zentrum, das nur aus der genauen Analyse des gesellschaftlich-geschichtlichen Ganzen gefunden werden kann, macht die einzelnen Handlungen revolutionär oder konterrevolutionär. Die Aktualität der Revolution bedeutet mithin: jede einzelne Tagesfrage im konkreten Zusammenhange des gesellschaftlich-geschichtlichen Ganzen zu behandeln; sie als Momente der Befreiung des Proletariats anzusehen. Die Weiterbildung, die der Marxismus auf diese Weise durch Lenin erfahren hat, besteht bloß - bloß! - in der innigeren, sichtbareren und folgenschwereren Verknüpfung der einzelnen Handlungen mit dem Gesamtschicksal, mit dem revolutionären Schicksal der ganzen Arbeiterklasse. Sie bedeutet bloß, daß jede Tagesfrage - schon als Tagesfrage - zugleich ein Grundproblem der Revolution geworden ist.

    Die Entwicklung des Kapitalismus hat die proletarische Revolution zur Tagesfrage gemacht. Das Herannahen dieser Revolution hat Lenin nicht als Einziger gesehen. Er unterscheidet sich jedoch nicht nur an Mut, Hingebung und Opferfähigkeit von jenen, die im Augenblick, wo die von ihnen selbst theoretisch als aktuell verkündete proletarische Revolution praktisch-aktuell geworden ist, feige ausgekniffen sind, sondern zugleich an theoretischer Klarheit von den besten, ahnungsvollsten und hingebendsten Revolutionären unter seinen Zeitgenossen. Denn selbst diese haben die Aktualität der proletarischen Revolution nur in der Weise erkannt, wie sie im Zeitalter von Marx für diesen erkennbar gewesen ist: als Grundproblem der ganzen Epoche. Sie waren aber unfähig, diese ihre - aus weltgeschichtlicher, aber nur aus weltgeschichtlicher Perspektive - richtige Erkenntnis zur sicheren Richtschnur sämtlicher Tagesfragen, der politischen wie der ökonomischen, der theoretischen wie der taktischen, der agitatorischen wie der organisatorischen Fragen zu machen. Diesen Schritt zur Konkretisierung des nunmehr ganz praktisch gewordenen Marxismus hat Lenin als Einziger vollzogen. Darum ist er - im weltgeschichtlichen Sinne - der einzige Marx ebenbürtige Theoretiker, den der proletarische Befreiungskampf bis jetzt hervorgebracht hat.

    II. Das Proletariat als führende Klasse

    Die Unhaltbarkeit der russischen Zustände hat sich lange vor der wirklichen Entwicklung des Kapitalismus, lange vor dem Vorhandensein eines industriellen Proletariats gezeigt. Die Auflösung des Agrarfeudalismus und die Zersetzung des bureaukratischen Absolutismus waren schon viel früher nicht nur unbestreitbare Tatsachen der russischen Wirklichkeit geworden sie produzierten auch - in der Unruhe der Bauernschaft und in der Revolutionierung der sogenannten deklassierten Intelligenz - Gesellschaftsschichten, die sich, wenn auch noch so unklar, verworren und bloß elementarisch, doch von Zeit zu Zeit gegen den Zarismus erhoben haben. Es ist klar, daß die Entwicklung des Kapitalismus, mag auch sowohl ihre Tatsache selbst wie ihre Bedeutung sogar den Scharfblickenden verborgen geblieben sein, diese objektive Zerrüttung und ihre revolutionär-ideologischen Folgen stark steigern mußte. In der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts mußte es immer offenkundiger werden, daß Rußland, 1848 noch der sichere Hort der europäischen Reaktion, sich allmählich einer Revolution entgegen entwickelt. Die Frage war bloß: welchen Charakter wird diese Revolution haben? Und im engsten Zusammenhang damit: welche Klasse sollte die führende Rolle in ihr spielen?

    Es ist ohne weiteres verständlich, daß die ersten Generationen der Revolutionäre sich diese Fragen noch höchst unklar gestellt haben. Vor allem sahen sie in den sich gegen den Zarismus erhebenden Gruppen etwas Einheitliches: das Volk. Die Gliederung in Intellektuelle und Handarbeiter konnte zwar auch auf dieser Stufe nicht verborgen bleiben, hatte aber kein entscheidendes Gewicht, da das "Volk" klassenmäßig noch eine sehr wenig deutliche Physiognomie haben konnte und von den Intellektuellen sich nur noch die wirklich ehrlichen Revolutionäre der Bewegung angeschlossen hatten; Revolutionäre, für die es unerschütterlich feststand, im "Volke" aufzugehen und nur seinen Interessen zu dienen.

    Immerhin konnte die Entwicklung Europas auch in diesem Zustand der revolutionären Bewegung den Gang der Ereignisse und dementsprechend auf die Geschichtsperspektive sein, von der aus die Revolutionäre die Ereignisse gewertet haben. Hier mußte nun zwangsläufig die Frage auftauchen: ist die europäische Entwicklung, die Entwicklung des Kapitalismus, ein unentrinnbares Schicksal auch für Rußland? Muß auch Rußland durch die Hölle des Kapitalismus hindurchgehen, um im Sozialismus seine Rettung zu finden? Oder vermag es, infolge der Eigenart seiner Verhältnisse, infolge der noch bestehenden Dorfkommune diese Entwicklungsstufe zu überspringen und vom ursprünglichen Kommunismus direkt den Weg zum entwickelten Kommunismus zu finden?

    Die Antwort auf diese Frage war damals keineswegs so selbstverständlich, wie sie uns heute scheint. Hat doch selbst Engels noch im Jahre 1882 sie so beantwortet: wenn eine russische Revolution zugleich eine europäische proletarische Revolution hervorruft, "dann kann das heutige russische Gemeineigentum zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen".

    Es ist hier nicht der Ort, eine Geschichte der theoretischen Kämpfe um diese Frage auch nur zu skizzieren. Wir mußten bloß bei diesem Problem unseren Ausgangspunkt wählen, weil mit ihm für Rußland die Frage nach der führenden Klasse der kommenden Revolution aufgeworfen war. Denn es ist klar, daß die Anerkennung des Dorfkommunismus als Ausgangspunkt und ökonomische Grundlage der Revolution notwendig die Bauern zur führenden Klasse der gesellschaftlichen Umwälzung macht. Und dieser von Europa verschiedenen ökonomischen und sozialen Basis der Revolution entsprechend, müßte die Revolution auch eine andere theoretische Grundlegung suchen, als den historischen Materialismus, der ja nichts weiter ist als der begriffliche Ausdruck für den notwendigen Übergang aus dem Kapitalismus in den Sozialismus, den die Gesellschaft unter Führung der Arbeiterklasse vollzieht. Der Streit um die Tatsache: ob Rußland im Begriffe ist, sich kapitalistisch zu entwickeln, ob der Kapitalismus in Rußland entwicklungsfähig ist; weiter die wissenschaftlich-methodische Kontroverse: ob der historische Materialismus eine allgemein gültige Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung ist; und endlich die Diskussion um die Frage: welche Gesellschaftsklasse der wirkliche Motor der russischen Revolution zu werden berufen ist - drehen sich alle um dieselbe Frage. Sie sind alle ideologische Ausdrucksformen der Entwicklung des russischen Proletariats: Momente der Entfaltung seiner ideologischen (und dementsprechend taktischen, organisatorischen usw.) Selbständigkeit den anderen Gesellschaftsklassen gegenüber.

    Dies ist ein langwieriger und schmerzlicher Prozeß, den jede Arbeiterbewegung überstehen muß. Spezial-russisch sind dabei bloß die einzelnen Probleme, an denen die Eigenart der Klassenlage und die Selbständigkeit der Klasseninteressen des Proletariats zur Geltung kommen. (In Deutschland befand sich die Arbeiterklasse in der Periode Lassalle-Bebel-Schweitzer auf dieser Stufe, und die deutsche Einheit war eine der hierbei ausschlaggebenden Fragen.) Jedoch gerade diese speziellen, lokalen Probleme müssen als solche eine richtige Lösung finden, wenn die Selbständigkeit des klassenmäßigen Handelns für das Proletariat errungen werden soll. Die beste theoretische Schulung, wenn sie im Allgemeinen steckenbleibt, nützt hier gar nichts; sie muß in der Lösung gerade dieser Spezialprobleme zum Ausdruck gelangen, um praktisch wirksam zu werden. (So vermochte zum Beispiel der glühende Internationalist Wilhelm Liebknecht, der unmittelbare Schüler von Marx, in solchen Einzelfragen keineswegs öfter und sicherer die richtige Entscheidung zu finden als die rein theoretisch viel verworreneren Lassalleaner.) Spezial-russisch in dieser Sachlage ist aber noch, daß dieser theoretische Kampf um die Selbständigkeit des Proletariats, um die Erkenntnis seiner führenden Rolle in der kommenden Revolution nirgends ein derart klare und eindeutige Lösung gefunden hat, wie gerade in Rußland. So konnten jene Schwankungen und Rückfälle, nicht in den Erfolgen des Klassenkampfes, wo sie unvermeidlich sind, sondern in der theoretischen Klarheit und in der taktisch-organisatorischen Sicherheit der Arbeiterbewegung, die wir in allen entwickelten Ländern ausnahmslos beobachten können, dem russischen Proletariat größtenteils erspart bleiben. Es konnte sich - wenigstens in seiner bewußtesten Schicht - theoretisch und organisatorisch so geradlinig und klar entfalten, wie seine objektive Klassenlage von den ökonomischen Kräften des russischen Kapitalismus entfaltet worden ist.

    Lenin ist nicht der erste gewesen, der diesen Kampf aufgenommen hat. Er ist aber der Einzige gewesen, der sämtliche Fragen radikal zu Ende gedacht, der Einzige, der seine theoretische Einsicht radikal in Praxis umgesetzt hat.

    Lenin war nur einer der theoretischen Wortführer im Streite gegen den "urwüchsigen" russischen Sozialismus, gegen die Narodniki. Verständlicherweise. Denn sein theoretischer Kampf hatte den Zweck, die selbständige, die führende Rolle des Proletariats in dem kommenden Schicksal Rußlands nachzuweisen. Da aber Weg und Mittel dieser Diskussion nur darin bestehen konnten, nachzuweisen, daß der von Marx entworfene, typische Entwicklungsgang des Kapitalismus (die ursprüngliche Akkumulation) auch für Rußland gilt; daß in Rußland ein lebensfähiger Kapitalismus entstehen kann und muß, mußte diese Debatte die Wortführer des proletarischen Klassenkampfes mit den Ideologen des entstehenden russischen Kapitalismus - vorübergehend - in ein Lager bringen. Die theoretische Herauslösung des Proletariats aus dem Brei des "Volkes" brachte eben keineswegs von selbst die Erkenntnis und die Anerkennung seiner Selbständigkeit, seiner führenden Rolle mit sich. Im Gegenteil. Die einfache, undialektisch-mechanische Konsequenz des Nachweises, daß die Entwick-lungstendenzen des russischen Wirtschaftslebens in der Richtung auf den Kapitalismus gehen, scheint die restlose Anerkennung dieser Realität, die Förderung ihres Herannahens zu sein. Und zwar nicht bloß für die progressive Bourgeoisie, deren vorübergehend - "marxistische" Ideologie verständlich wird, wenn man bedenkt, daß der Marxismus die einzige ökonomische Theorie ist, die die Genesis des Kapitalismus mit Notwendigkeit aus der Auflösung der vorkapitalistischen Welt aufzeigt. Dieses Zusammengehen muß vielmehr auch für alle "proletarischen" Marxisten als notwendig erscheinen, die den Marxismus in mechanischer und nicht in dialektischer Weise auffassen. Die es nicht verstehen - was Marx von Hegel gelernt und von jeder Mythologie und edem Idealismus befreit in seine Theorie eingearbeitet hat -, daß die Anerkennung einer Tatsache oder Tendenz als wirklich vorhanden noch lange nicht soviel bedeutet, daß sie als die für unser Handeln maßgebende Wirklichkeit anerkannt werden muß. Daß es zwar die heilige Pflicht eines jeden echten Marxisten ist, den Tatsachen unerschrocken und illusionslos ins Auge zu blicken; daß es aber für den echten Marxisten stets etwas gibt, das wirklicher und darum wichtiger ist als die einzelnen Tatsachen oder Tendenzen: die Wirklichkeit des Gesamtprozesses, das Ganze der gesellschaftlichen Entwicklung. Darum schreibt Lenin: "Es ist die Sache der Bourgeoisie, Trusts zu entfalten, Kinder und Frauen in die Fabriken zu jagen, sie dort zu ruinieren und zu schinden und sie zur äußersten Not zu verurteilen. Wir 'fordern' eine solche Entwicklung nicht, wir 'unterstützen' sie nicht, sondern wir kämpfen dagegen. Aber wie kämpfen wir? Wir wissen, daß Trusts und Fabriksarbeit der Frauen ein Fortschritt ist. Wir wollen nicht rückwärts schreiten zum Handwerk, zum Kapitalismus ohne Monopolstellung, zur Heimarbeit der Frauen zurück. Vorwärts durch die Trusts und anderes und über sie hinaus zum Sozialismus!"

    Damit ist der Gesichtspunkt für die Leninsche Lösung dieses ganzen Fragenkomplexes gegeben. Und daraus folgt, daß die Anerkennung der Notwendigkeit einer kapitalistischen Entwicklung in Rußland, die Anerkennung des geschichtlichen Fortschritts, der hierin liegt, keineswegs soviel bedeutet, als ob das Proletariat diese Entwicklung nun auch unterstützen sollte. Es muß sie begrüßen, denn erst diese Entwicklung schafft den Boden für die Entstehung des Proletariats als entscheidender Machtfaktor. Es muß sie aber begrüßen, als Bedingung, als Voraussetzung seines eigentlichen, unerbittlichen Kampfes gegen den wirklichen Träger dieser Entwicklung: gegen die Bourgeoisie.

    Erst diese dialektische Auffassung der Notwendigkeit geschichtlicher Entwicklungstendenzen schafft den theoretischen Spielraum für das selbständige Auftreten des Proletariats im Klassenkampf. Denn wird die Notwendigkeit der kapitalistischen Entwicklung Rußlands einfach bejaht, wie dies die ideologischen Vorkämpfer der russischen Bourgeoisie und die späteren Menschewiki getan haben, so ergibt sich daraus die Folgerung, daß Rußland vor allem seine kapitalistische Entwicklung vollenden muß. Träger dieser Entwicklung ist die Bourgeoisie. Erst nachdem diese Entwicklung sehr weit fortgeschritten ist, erst nachdem die Bourgeoisie ökonomisch und politisch die Überreste des Feudalismus weggeschafft und an ihre Stelle ein modernes, kapitalistisches, demokratisches usw. Land gestellt hat, kann der selbständige Klassenkampf des Proletariats beginnen. Ein vorzeitiges Hervortreten mit den selbständigen Klassenzielen des Proletariats ist nicht nur unnütz, weil das Proletariat als eigener Machtfaktor in diesem Kampf zwischen Bourgeoisie und Zarismus kaum in Betracht kommt, sondern ist auch für das Proletariat verhängnisvoll. Denn es erschreckt die Bourgeoisie, schwächt ihre Stoßkraft dem Zarismus gegenüber, treibt sie geradezu in die Arme des Zarismus. Das Proletariat kommt also - vorerst - nur als Hilfstruppe der progressiven Bourgeoisie im Kampfe für ein modernes Rußland in Betracht.

    Es ist klar - wenn dies in den damaligen Diskussionen auch nicht durchgehends deutlich gemacht wurde - daß dieser ganzen Kontroverse die Frage nach der Aktualität der Revolution zugrunde lag. Daß die Wege für jene Teilnehmer des Streites, die nicht mehr oder weniger bewußte Ideologen der Bourgeoisie waren, sich danach schieden, ob die Revolution als ein aktuelles Problem, als eine Tagesfrage der Arbeiterbewegung angesehen wurde, oder ob sie als fernes "Endziel" auf die Entscheidungen des Augenblickes keinen bestimmten Einfluß auszuüben geeignet schien. Es ist freilich mehr als fraglich, ob der menschewistische Standpunkt, selbst wenn die Richtigkeit seiner Geschichtsperspektive anerkannt werden könnte, für das Proletariat annehmbar wäre. Ob eine derart treue Gefolgschaft der Bourgeoisie gegenüber nicht das Klassenbewußtsein des Proletariats so stark verdunkeln müßte, daß eine Loslösung von ihr, ein selbständiges Handeln des Proletariats sogar in einem geschichtlichen Augenblick, den auch eine menschewistische Theorie für geeignet hielte, ideologisch unmöglich machen oder wenigstens sehr erschweren müßte. (Man denke an die englische Arbeiterbewegung.) Freilich ist diese Annahme praktisch müßig. Denn die Dialektik der Geschichte, die die Opportunisten aus dem Marxismus zu entfernen versuchen, muß in ihnen selbst - gegen ihren Willen - dennoch wirksam bleiben; sie treibt sie in das Lager der Bourgeoisie, und der Zeitpunkt für das selbständige Auftreten des Proletariats verschiebt sich bei ihnen in die nebelhafte Ferne einer nie wirklich werdenden Zukunft.

    Die Geschichte hat Lenin und den wenigen Verkündern der Aktualität der Revolution recht gegeben. Das Bündnis mit der progressiven Bourgeoisie, das sich bereits im Zeitalter der Kämpfe um die deutsche Einheit als Illusion erwiesen hatte, wäre nur tragfähig gewesen, wenn es für das Proletariat klassenmäßig möglich gewesen wäre, der Bourgeoisie bis ins Bündnis mit dem Zarismus zu folgen. Denn aus der Aktualität der proletarischen Revolution folgt, daß die Bourgeoisie aufgehört hat, eine revolutionäre Klasse zu sein. Wohl bedeutet der ökonomische Prozeß, dessen Träger und Nutznießer sie geblieben ist, dem Absolutismus und dem Feudalismus gegenüber einen Fortschritt. Aber dieser progressive Charakter der Bourgeoisie ist wiederum dialektisch geworden. Das heißt, die notwendige Verknüpfung der ökonomischen Existenzbedinungen der Bourgeoisie mit jenen Forderungen der politischen Demokratie, des Rechtsstaates usw., die in der großen französischen Revolution auf den Trümmern des Feudalabsolutismus, wenn auch nur teilweise, verwirklicht wurden, hat sich gelockert. Die immer stärker herannahende proletarische Revolution macht einerseits ein Bündnis zwischen Bourgeoisie und Feudalabsolutismus, auf Grund der Sicherung der ökonomischen Existenz- und Wachstumsbedingungen der Bourgeoisie, bei politischer Vorherrschaft der alten Mächte möglich. Anderseits hinterläßt die auf diese Weise ideologisch verkommende Bourgeoisie die Realisierung ihrer alten revolutionären Forderungen der proletarischen Revolution. Mag auch dieses Bündnis zwischen der Bourgeoisie und den alten Mächten noch so problematisch sein, da es ja ein Kompromiß aus gemeinsamer Furcht vor einem größeren Übel und nicht ein Klassenbündnis auf der Grundlage einer positiven Interessengemeinschaft ist, so bleibt es doch eine wichtige und neue Tatsache. Eine Tatsache, gegen die der schematische und mechanische "Nachweis" der "notwendigen Verknüpfung" von kapitalistischer Entwicklung und Demokratie sich unbedingt als Illusion erweisen muß. "Überhaupt ist" - sagt Lenin - "die politische Demokratie nur eine der möglichen (wenn auch theoretisch für den »reinen« Kapitalismus normalen) Formen des Überbaues über den Kapitalismus. Wie die Tatsachen beweisen, entwickelt sich sowohl der Kapitalismus als auch der Imperialismus bei jeder politischen Form und unterwirft sich alle Formen". In Rußland speziell beruht dieses schnelle Umschwenken der Bourgeoisie von einer - scheinbar radikalen Opposition zu einer Unterstützung des Zarismus wesentlich darauf, daß der nicht "organisch" gewachsene, auf Rußland aufgepfropfte Kapitalismus schon in seinen Anfängen einen stark monopolistischen Charakter zeigt. (Überwiegen der Großbetriebe, Rolle des Finanzkapitals usw.) Daraus folgt, daß die Bourgeoisie eine zahlmäßig kleinere und sozial schwächere Schicht ist als in anderen Ländern, wo eine "organischere" kapitalistische Entwicklung stattgefunden hat, daß aber zugleich in den Großbetrieben schneller die materielle Grundlage zu der Entwicklung eines revolutionären Proletariats niedergelegt wird, als es die - schematisch zahlenmäßige - Auslegung des Entwicklungstempos des russischen Kapitalismus vermutet hätte.

    Wenn aber das Bündnis mit der progressiven Bourgeoisie sich als Illusion erweist, wenn das sich zur Selbständigkeit emporarbeitende Proletariat mit dem chaotischen Begriff des 'Volkes' bereits endgültig gebrochen hat, wird es nicht gerade durch diese schwer erkämpfte Selbständigkeit in eine hoffnungslose Isolation gebracht und deshalb in einen von vornherein aussichtslosen Kampf geführt? Dieser oft gemachte und sehr naheliegende Einwand gegen die Geschichtsperspektive Lenins wäre stichhaltig, wenn die Ablehnung der Agrartheorie der Narodniki, die Erkenntnis von der notwendigen Auflösung der agrar-kommunistischen Überreste nicht ebenfalls eine dialektische Erkenntnis wäre. Die Dialektik dieses Auflösungsprozesses - denn die dialektische Erkenntnis ist stets nur die begriffliche Fassung eines real-dialektischen Tatbestandes - liegt darin, daß die Zwangsläufigkeit der Auflösung dieser Formen nur als Auflösungsprozeß, also nur negativ eine eindeutig bestimmte Richtung hat. Welche Wendung jedoch dieser Prozeß in positivem Sinne nehmen wird, ist aus ihm selbst keineswegs bestimmbar. Dies hängt von der Entwicklung der gesellschaftlichen Umwelt, von dem Schicksal des geschichtlichen Ganzen ab. Konkreter ausgedrückt: der ökonomisch unvermeidliche Auflösungsprozeß der alten Agrarformen - und zwar sowohl der junkerlichen wie der bäuerlichen - kann zwei Wege einschlagen. "Beide Formen der Lösung erleichtern", nach den Worten Lenins, "jede auf ihre Weise, den Übergang zu einer höheren Stufe der Technik, und beide liegen auf der Bahn des Fortschritts der Agrikultur". Der eine ist das Wegfegen aller mittelalterlichen (und älteren) Überreste aus dem Leben der Bauern. Der andere - Lenin nennt ihn den preußischen Weg - "ist dahin charakterisiert, daß die mittelalterlichen Landbesitzvermächtnisse nicht mit einemmal liquidiert, sondern allmählich dem Kapitalismus angepaßt werden". Beide Wege sind möglich. Und beide sind im Vergleich zum Bestehenden - ökonomisch - fortschrittlich. Sind aber beide Tendenzen gleich möglich und - im gewissen Sinne - gleich fortschrittlich: was wird dann darüber entscheiden, welche von beiden wirklich zu werden bestimmt ist? Lenins Antwort ist auf diese Frage, wie auf jede andere, klar und eindeutig: der Klassenkampf.

    Damit zeichnen sich aber die Umrisse jenes Milieus, in dem das Proletariat selbständig, als führende Klasse aufzutreten berufen ist, deutlicher und konkreter ab. Denn die entscheidende Kraft in diesem Klassenkampfe, der für Rußland die Richtung des Überganges aus dem Mittelalter in die Neuzeit weist, kann nur das Proletariat sein. Die Bauern sind nicht nur wegen ihrer fürchterlichen kulturellen Rückständigkeit, sondern vor allem wegen ihrer objektiven Klassenlage nur zu einer elementaren Auflehnung gegen ihre immer unhaltbarer werdende Lage fähig. Sie sind - von ihrer objektiven Klassenlage aus - dazu bestimmt, eine schwankende Schicht zu bleiben, eine Klasse, deren Schicksal letzten Endes der Klassenkampf in der Stadt, das Schicksal der Stadt, der Großindustrie, des Staatsapparates usw. entscheidet.

    Erst dieser Zusammenhang legt die Entscheidung in die Hände des Proletariats. Sein Kampf gegen die Bourgeoisie wäre vielleicht - im gegebenen geschichtlichen Augenblick - wenig aussichtsreich, wenn es dieser gelingen würde, den Feudalismus der Agrarverfassung Rußlands in ihrem Sinne zu liquidieren. Daß der Zarismus ihr dies erschwert, ist ein Hauptgrund ihres - vorübergehend - revolutionären oder wenigstens oppositionellen Verhaltens. Solange aber diese Frage ungelöst bleibt, ist ein elementares Losbrechen der geknechteten und ausgesaugten ländlichen Millionen jederzeit möglich. Ein elementares Losbrechen, dem nur das Proletariat eine Richtung geben kann, durch welche Richtung erst diese Massenbewegung zu einem für die Bauernmassen wirklich vorteilhaften Ziel geführt wird. Ein elementares Losbrechen, das erst das Milieu schafft, in dem das Proletariat mit allen Chancen des Sieges den Kampf gegen Zarismus und Bourgeoisie aufnehmen kann.

    So hat der ökonomisch-soziale Aufbau Rußlands die objektiven Grundlagen für das Bündnis von Proletariat und Bauernschaft geschaffen. Ihre Klassenziele sind verschieden. Darum mußte ihre chaotische Zusammenschweißung unter dem unklaren volkstümlerischen Begriff "Volk" auseinanderfallen. Aber sie können diese verschiedenen Klassenziele nur im gemeinsamen Kampfe verwirklichen. So kehrt in der Leninschen Konzeption vom Charakter der russischen Revolution der alte Gedanke der Narodniki dialektisch verwandelt wieder. Der unklare und abstrakte Begriff des "Volkes" mußte beseitigt werden, jedoch nur, um aus dem konkreten Verständnis der Bedingungen einer proletarischen Revolution den revolutionär differenzierten Begriff des Volkes, das revolutionäre Bündnis aller Unterdrückten entstehen zu lassen. Aus diesem Grunde betrachtet sich die Partei Lenins mit Recht als Erben der wirklich revolutionären Traditionen der Narodniki. Da aber das Bewußtsein und mit ihm die Fähigkeit zur Führung in diesem Kampfe - objektiv klassenmäßig - nur im Klassenbewußtsein des Proletariats vorhanden ist, kann und muß es in der nahenden Revolution die führende Klasse der gesellschaftlichen Umwälzung werden.

    III. Die führende Partei des Proletariats

    Die geschichtliche Aufgabe des Proletariats ist also: sich aus jeder ideologischen Gemeinschaft mit den anderen Klassen herauszulösen, auf der Grundlage der Eigenart seiner Klassenlage und der daraus entspringenden Selbständigkeit seiner Klasseninteressen sein klares Klassenbewußtsein zu finden. Erst auf diese Weise wird es fähig, alle Unterdrückten und Ausgebeuteten der bürgerlichen Gesellschaft in den gemeinsamen Kampf gegen ihre wirtschaftlichen und politischen Herrscher zu führen. Die objektive Grundlage dieser führenden Rolle des Proletariats ist seine Stellung im Produktionsprozeß des Kapitalismus. Es wäre jedoch eine mechanische Anwendung des Marxismus und darum ein völlig unhistorischer Illusionismus, sich nun vorzustellen, als ob das richtige, zur Führung befähigende Klassenbewußtsein im Proletariate allmählich, reibungs- und rückfallslos, von selbst entstehen; als ob das Proletariat ideologisch in seinen klassenmäßig-revolutionären Beruf hineinwachsen könnte. Die Unmöglichkeit des ökonomischen Hineinwachsens des Kapitalismus in den Sozialismus haben die Bernstein-Debatten klar erwiesen. Das ideologische Gegenstück dieser Lehre ist aber trotzdem im Denken vieler ehrlicher Revolutionäre Europas unwiderlegt wirksam geblieben, ja ist nicht einmal als Problem und Gefahr erkannt worden. Nicht als ob die Besten von ihnen die Existenz und die Bedeutung dieses Problems ganz verkannt; als ob sie nicht gesehen hätten, daß der endgültige Sieg des Proletariats über einen langen Weg durch viele Niederlagen hindurchführt, daß dabei nicht nur materielle, sondern auch ideologische Rückfälle hinter eine bereits erreichte Stufe unvermeidlich sind. Sie wußten - um die Formulierung Rosa Luxemburgs anzuführen daß die proletarische Revolution, die ihren gesellschaftlichen Voraussetzungen nach gar nicht mehr "zu früh" kommen kann, in bezug auf die Festhaltung der Gewalt (also ideologisch) notwendig "zu früh" stattfinden muß. Wenn jedoch auch bei dieser Geschichtsperspektive über den Weg des Proletariats zu seiner Befreiung die Anschauung vertreten wird, daß eine spontan-revolutionäre Selbsterziehung der proletarischen Massen (durch Massenaktionen und ihre Erfahrungen), unterstützt von einer theoretisch richtigen Agitation, Propaganda usw. der Partei, ausreicht, um die hier nötige Entwicklung zu garantieren, so ist man doch in irgendeiner Weise bei dem ideologischen Hineinwachsen des Proletariats in seinen revolutionären Beruf stehengeblieben.

    Lenin war der erste - und lange Zeit der einzige - bedeutende Führer und Theoretiker, der dieses Problem von der theoretisch zentralen und darum von der praktisch entscheidenden Seite in Angriff nahm: von der Seite der Organisation. Der Streit um den § I des Organisationsstatuts auf dem Brüssel-Londoner Kongreß 1903 ist heute schon allgemein bekannt. Er drehte sich um die Frage, ob derjenige Mitglied der Partei sein könne, der sie unterstützt und unter ihrer Kontrolle arbeitet (wie die Menschewiki es wollten), oder ob die Teilnahme an den illegalen Organisationen, das Aufgehen mit der ganzen Existenz in der Parteiarbeit, die völlige Unterordnung unter die - als sehr streng konzipierte - Parteidisziplin hierzu unerläßlich sei. Die anderen organisatorischen Fragen, z.B. Zentralisation, sind nur die notwendigen sachlichen Folgen dieser Stellungnahme.

    Auch dieser Streit kann nur aus dem Widerstreit der beiden Grundanschauungen über Möglichkeit, wahrscheinlichen Ablauf, Charakter usw. der Revolution verstanden werden; obwohl alle diese Zusammenhänge damals Lenin allein durchschaut hatte.

    Der bolschewistische Organisationsplan hebt eine Gruppe von zielklaren, zu jedem Opfer bereiten Revolutionären aus der mehr oder weniger chaotischen Masse der Gesamtklasse heraus. Ist damit nicht die Gefahr heraufbeschworen, daß diese 'Berufsrevolutionäre' sich vom wirklichen Leben der Klasse ablösen und in dieser Trennung zur Verschwörergruppe, zur Sekte ausarten? Ist dieser Organisationsplan nicht nur die praktische Folge jenes "Blanquismus", den die "scharfsinnigen" Revisionisten sogar bei Marx entdecken zu können meinten? Es kann hier nicht untersucht werden, wie weit dieser Vorwurf selbst Blanqui gegenüber fehlgeht. Den Kern der Leninschen Organisation trifft er schon darum nicht, weil die Gruppe der Berufsrevolutionäre nach Lenin keinen Augenblick die Aufgabe hat, die Revolution "zu machen" oder durch ihre selbständige, mutige Aktion die untätige Masse mitzuziehen, vor ein revolutionäres fait accompli zu stellen. Der Organisationsgedanke Lenins setzt die Tatsache der Revolution, die Aktualität der Revolution voraus. Hätten die Menschewiki in ihrer historischen Voraussicht recht behalten, wären wir einer - relativ - ruhigen Zeit der Prosperität und der langsamen Ausbreitung der Demokratie entgegengegangen, wo höchstens in den rückständigen Ländern die feudalen Überreste vom "Volk", von den "progressiven" Klassen hinweggeschwemmt werden, so hätten die Gruppen der Berufsrevolutionäre notwendig in Sektenhaftigkeit erstarren oder zu bloßen Propagandazirkeln werden müssen. Die Partei als straff zentralisierte Organisation der bewußtesten Elemente des Proletariats - und nur dieser - ist als Instrument des Klassenkampfes in einer revolutionären Zeit gedacht. "Man kann nicht" - sagt Lenin "Mechanisch das Politische vom Organisatorischen trennen", und wer die bolschewistische Parteiorganisation unabhängig von der Frage, ob wir in der Zeit der proletarischen Revolutionen leben, bejaht oder verneint, hat von ihrem Wesen sicher gar nichts verstanden.

    Es könnte aber - von ganz entgegengesetzter Seite - der Einwand auftauchen: gerade die Aktualität der Revolution macht eine derartige Organisation überflüssig. Es mag in der Zeit des Stillstandes der revolutionären Bewegung nützlich gewesen sein, die Berufsrevolutionäre organisatorisch zusammenzufassen. Jedoch in den Jahren der Revolution selbst, wenn die Massen aufs tiefste aufgewühlt sind, wenn sie in Wochen, ja in Tagen mehr revolutionäre Erfahrungen sammeln, reifer werden, als sonst in Jahrzehnten, wenn sogar jene Teile der Klasse, die sich sonst nicht einmal durch ihre unmittelbarsten Tagesvorteile in die Bewegung einbeziehen lassen, revolutionär auftreten, ist eine solche Organisation unnütz und sinnlos. Sie verschwendet brauchbare Energien; sie hemmt, wenn sie zu Einfluß gelangt, die spontane, revolutionäre Produktivität der Massen.

    Es ist klar: dieser Einwand führt wieder zum Problem des ideologischen Hineinwachsens zurück. Das Kommunistische Manifest bezeichnet sehr klar die Beziehung der revolutionären Partei des Proletariats zur Gesamtklasse. "Die Kommunisten unterscheiden sich von den übrigen proletarischen Parteien nur dadurch, daß sie einerseits in den verschiedenen nationalen Kämpfen der Proletarier die gemeinsamen, von der Nationalität unabhängigen Interessen des gesamten Proletariats hervorheben und zur Geltung bringen, anderseits dadurch, daß sie in den verschiedenen Entwicklungsstufen, welche der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie durchläuft, stets das Interesse der Gesamtbewegung vertreten. Die Kommunisten sind also praktisch der entschiedenste, immer weiter treibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder; sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus." Sie sind - mit anderen Worten - das zur sichtbaren Gestalt gewordene Klassenbewußtsein des Proletariats. Und die Frage ihrer Organisation entscheidet sich nach der Voraussicht, wie das Proletariat dieses, sein eigenes Klassenbewußtsein wirklich erringt und sich völlig zu eigen macht. Daß dies nicht von selbst, nicht durch das mechanische Sichauswirken der ökonomischen Kräfte der kapitalistischen Produktion, noch durch das schlicht organische Wachstum der Massenspontaneität geschieht, nimmt jeder an, der die revolutionäre Funktion der Partei nicht unbedingt leugnet. Der Unterschied zwischen der Leninschen Parteikonzeption und den andern beruht vor allem darauf, daß er einerseits die ökonomische Differenzierung innerhalb des Proletariats (die Entstehung der Arbeiteraristokratie usw.) tiefer und folgenschwerer erfaßt als die anderen, und daß er anderseits die revolutionäre Zusammenarbeit des Proletariats mit den anderen Klassen in der geschilderten neuen Geschichtsperspektive erblickt. Daraus folgt eine gesteigerte Bedeutung des Proletariats in der Vorbereitung und Führung der Revolution und daraus wiederum die führende Funktion der Partei der Arbeiterklasse gegenüber.

    Das Entstehen und die wachsende Bedeutung der Arbeiteraristokratie heißt von diesem Standpunkt so viel, daß die stets vorhandene - relative - Divergenz der unmittelbaren Tagesinteressen gewisser Arbeiterschichten von den wirklichen Interessen der ganzen Klasse immer wächst und sich in diesem Wachstum versteinert. Die kapitalistische Entwicklung, die anfangs die örtlich, zünftlerisch usw. getrennte Arbeiterklasse gewaltsam nivelliert und vereinigt hat, schafft jetzt eine neue Differenzierung. Und diese Differenzierung hat nicht nur zur Folge, daß das Proletariat nunmehr nicht in ganz einheitlicher Feindschaft der Bourgeoisie gegenübersteht. Es entsteht daneben noch die Gefahr, daß diese Schichten, denen ihr Aufstieg zu einer kleinbürgerlichen Lebenshaltung, ihr Besetzen der Stellungen in der Partei- und Gewerkschaftsbureaukratie, stellenweise der Munizipalposten usw. - trotz oder gerade wegen - ihrer verbürgerlichten Ideologie, ihres Mangels an Reife des proletarischen Klassenbewußtseins eine Überlegenheit an formaler Bildung, Verwaltungsroutine usw. vor den übrigen proletarischen Schichten geben, die ganze Klasse in rückständiger Weise ideologisch zu beeinflussen imstande sein werden. Das heißt, daß sie durch ihren Einfluß in den Organisationen des Proletariats das Klassenbewußtsein aller Arbeiter zu verdunkeln helfen, es in der Richtung auf ein stillschweigendes Bündnis mit der Bourgeoisie beeinflussen.

    Gegen diese Gefahr können bloße theoretische Klarheit, entsprechende Agitation und Propaganda der revolutionär klaren Gruppen nicht aufkommen. Denn diese Interessengegensätze äußern sich sehr lange nicht in einer für alle Arbeiter sichtbaren Form, so sehr, daß sogar ihre ideologischen Vertreter zuweilen keine Ahnung davon haben, daß sie bereits von dem Wege der Gesamtklasse abgewichen sind. Darum können solche Differenzen sehr leicht als "theoretische Meinungsverschiedenheiten", als bloß "taktische Differenzen" usw. vor den Arbeitern verschleiert werden. Und der revolutionäre Instinkt der Arbeiter, der sich zuweilen in großen spontanen Massenaktionen entladet, bleibt außerstande, die unbewußt-handelnd erreichte Höhe des Klassenbewußtseins als dauerndes Gut für die ganze Klasse festzuhalten.

    Schon aus diesem Grunde ist die organisatorische Selbständigkeit der völlig bewußten Elemente der Klasse unerläßlich. Es zeigt sich aber in diesem Gedankengang, daß die Leninsche Organisationsform untrennbar mit der Voraussicht der nahenden Revolution verknüpft ist. Denn erst in diesem Zusammenhange erscheint jede Abweichung vom richtigen Weg der Klasse als schicksalhaft und verhängnisvoll; erst in diesem Zusammenhang kann die Entscheidung in einer scheinbar kleinen Tagesfrage von ungeheurer Tragweite für die ganze Klasse werden; erst in diesem Zusammenhange wird es zur Lebensfrage für das Proletariat, daß es das seiner Klassenlage wirklich entsprechende Denken und Handeln klar, in sichtbarer Gestalt vor Augen habe.

    Die Aktualität der Revolution bedeutet aber zugleich, daß die Gärung der Gesellschaft, das Auseinanderfallen ihres alten Gefüges sich keineswegs auf das Proletariat beschränkt, sondern sämtliche Klassen der Gesellschaft erfaßt. Ist doch nach Lenin das wirkliche Kennzeichen einer revolutionären Situation, daß "die "Unterschichten", nicht in der alten Weise leben wollen, und die "Oberschichten" nicht in der alten Weise leben können"; "die Revolution ist ohne gesamtnationale (die Ausgebeuteten wie die Ausbeuter berührende) Krisis nicht möglich". Je tiefer die Krise geht, desto größer die Aussichten der Revolution. Jedoch je tiefer sie geht, je mehr Schichten der Gesellschaft sie erfaßt, desto verschiedenere, elementare Bewegungen kreuzen sich in ihr, desto verworrener und wechselnder werden die Kräfteverhältnisse zwischen den beiden Klassen, von deren Kampf der Ausgang des Ganzen - letzten Endes - abhängt: von Bourgeoisie und Proletariat. Will das Proletariat in diesem Kampfe siegen, so muß es jede Strömung, die zur Zersetzung der bürgerlichen Gesellschafft beiträgt, fördern und unterstützen, jede elementare, wenn auch noch so unklare Bewegung von einer irgendwie unterdrückten Schicht in die revolutionäre Gesamtbewegung einzuordnen trachten. Und das Nahen eines revolutionären Zeitabschnittes zeigt sich auch darin, daß alle Unzufriedenen der alten Gesellschaft Anschluß an das Proletariat oder wenigstens Verbindung mit ihm suchen. Hier aber kann gerade eine große Gefahr stecken. Denn ist die Partei des Proletariats nicht in einer Weise organisiert, daß die klassenmäßig richtige Richtung ihrer Politik garantiert ist, so können diese in einer revolutionären Situation sich stetig mehrenden Verbündeten statt Hilfe nur Verwirrung bringen. Denn die anderen unterdrückten Schichten der Gesellschaft (Bauern, Kleinbürger, Intellektuelle) streben selbstverständlicherweise nicht dieselben Ziele an wie das Proletariat. Das Proletariat - wenn es weiß, was es will, was es klassenmäßig zu wollen hat - kann sich selbst und diesen Schichten die Rettung aus ihrer sozialen Not bringen. Ist jedoch die Partei, der kämpfende Träger seines Klassenbewußtseins, unsicher in bezug auf die Wege, die die Klasse zu gehen hat, ist sogar ihr proletarischer Charakter nicht organisatorisch garantiert, so strömen diese Schichten in die Partei des Proletariats hinein, lenken sie vom Wege ab, und ihr Bündnis, das bei klassenklarer Organisation der proletarischen Partei die Revolution gefördert hätte, kann zu ihrer größten Gefährdung werden.

    Der Leninsche Organisationsgedanke hat demzufolge als notwendige Pole: strengste Auswahl in bezug auf proletarisches Klassenbewußtsein für die Parteimitglieder; vollste Solidarität und Unterstützung für sämtliche Unterdrückten und Ausgebeuteten der kapitalistischen Gesellschaft. Er vereinigt also in dialektischer Weise zielklare Abgeschlossenheit und Universalität, Führung der Revolution im streng proletarischen Sinne und allgemeinen nationalen (und internationalen) Charakter der Revolution. Die menschewistische Organisation schwächt diese beiden Pole ab, vermischt sie, erniedrigt sie zu Kompromissen und vereinigt sie auf solche Weise in der Partei selbst. Sie schließt sich von breiten Schichten der Ausgebeuteten (z.B. von den Bauern) ab, vereinigt aber in der Partei die verschiedenartigsten Interessengruppen, die ihr das einheitliche Denken und Handeln verwehren. Statt also in dem wogenden Kampf der chaotisch ringenden Klassen - denn jede revolutionäre Lage äußert sich gerade im tief aufgewühlten chaotischen Zustand der ganzen Gesellschaft - die für den Sieg entscheidende Front, die Front des Proletariats gegen die Bourgeoisie in notwendiger Klarheit aufrichten zu helfen und die unklaren Gruppen der anderen Unterdrückten um das Proletariat zu scheren, verwandelt sich eine solche Partei selbst in ein unklares Gemenge von verschiedenen Interessengruppen. Sie kommt nur durch innere Kompromisse überhaupt zum Handeln und wird entweder von klareren oder elementarer handelnden Gruppen ins Schlepptau genommen, oder sie bleibt gezwungen, den Ereignissen fatalistisch zuzuschauen.

    Der Leninsche Organisationsgedanke bedeutet also einen doppelten Bruch mit dem mechanischen Fatalismus: sowohl mit dem, der das Klassenbewußtsein des Proletariats als mechanisches Produkt seiner Klassenlage auffaßt, wie mit dem, de in der Revolution selbst nur eine mechanische Auswirkung sich fatalistisch entladender ökonomischer Kräfte erblickt, die das Proletariat - bei hinreichender "Reife" der objektiven Bedingungen der Revolution - sozusagen automatisch zum Siege führt. Müßte darauf gewartet werden, bis das Proletariat einheitlich und klar in den entscheidenden Kampf zieht, so würde es nie eine revolutionäre Situation geben. Einerseits wird es immer - und je entwickelter der Kapitalismus ist, desto mehr - proletarische Schichten geben, die dem Befreiungskampf ihrer eigenen Klasse tatenlos zuschauen, ja sogar ins feindliche Lager übergehen. Anderseits jedoch ist das Verhalten des Proletariats selbst, seine Entschlossenheit und die Höhe seines Klassenbewußtseins keineswegs etwas mit fatalistischer Notwendigkeit aus der ökonomischen Lage Entspringendes.

    Selbstredend kann auch die größte und beste Partei der Welt keine Revolution "machen". Aber die Art, wie das Proletariat auf eine Lage reagiert, hängt weitgehend von der Klarheit und Energie ab, die die Partei seinen Klassenzielen zu geben imstande ist. So erhält im Zeitalter der Aktualität der Revolution das alte Problem, ob die Revolution "gemacht" werden kann oder nicht, eine vollkommen neue Bedeutung. Und mit diesem Bedeutungswandel wandelt sich auch die Beziehung von Partei und Klasse, die Bedeutung der Organisationsfragen für Partei und Gesamtproletariat. Der alten Fragenstellung vom "Machen" der Revolution liegt eine starre, undialektische Trennung von Notwendigkeit des Geschichtsablaufs und Aktivität der handelnden Partei zugrunde. Auf diesem Niveau, wo "Machen" der Revolution ihr Herauszaubern aus dem Nichts bedeutet, ist es auch durchaus zu verneinen. Die Aktivität der Partei im Zeitalter der Revolution bedeutet aber etwas Grundverschiedenes. Denn ist der Grundcharakter der Zeit revolutionär, so kann eine akut revolutionäre Situation jeden Augenblick eintreten. Zeitpunkt und Umstände ihres Eintretens sind kaum jemals genau vorausbestimmbar. Um so mehr aber sowohl jene Tendenzen, die zu ihrem Eintreten hintreiben, wie die Grundlinien des richtigen Handelns bei ihrem Eintreten. Die Aktivität der Partei ist auf diese Geschichtserkenntnis begründet. Die Partei muß die Revolution vorbereiten. Das heißt, sie muß einerseits durch ihr Handeln (durch ihren Einfluß auf das Handeln des Proletariats und auch der anderen unterdrückten Schichten) auf das Reifen dieser Tendenzen zur Revolution beschleunigend zu wirken versuchen. Sie muß aber anderseits das Proletariat auf das in der akut revolutionären Situation notwendige Handeln ideologisch, taktisch, materiell und organisatorisch vorbereiten.

    Damit rücken aber auch die inneren Organisationsfragen der Partei in eine neue Perspektive. Sowohl die alte - auch von Kautsky vertretene - Auffassung, daß die Organisation die Voraussetzung des revolutionären Handelns bildet, wie jene Rosa Luxemburgs, daß sie ein Produkt der revolutionären Massenbewegung ist, erscheinen als einseitig und undialektisch. Die die Revolution vorbereitende Funktion der Partei macht aus ihr zu gleicher Zeit und in gleicher Intensität Produzent und Produkt, Voraussetzung und Frucht der revolutionären Massenbewegungen. Denn die bewußte Aktivität der Partei beruht auf einer klaren Erkenntnis der objektiven Notwendigkeit der ökonomischen Entwicklung; ihre strenge organisatorische Abgeschlossenheit lebt in einer steten, fruchtbaren Wechselwirkung mit den elementaren Kämpfen und Leiden der Massen. Dieser Wechselwirkung ist Rosa Luxemburg stellenweise ganz nahe gekommen. Sie verkennt aber das bewußte und aktive Element an ihr. Darum ist sie außerstande gewesen, den springenden Punkt der Leninschen Parteikonzeption: diese vorbereitende Funktion der Partei zu erkennen; darum mußte sie alle daraus folgenden organisatorischen Prinzipien in der gröbsten Weise mißverstehen.

    Die revolutionäre Situation selbst kann natürlich nicht ein Produkt der Tätigkeit der Partei sein. Es ist ihre Aufgabe, vorauszusehen, welche Richtung die Entwicklung der objektiven, ökonomischen Kräfte einnimmt, worin die den so entstehenden Lagen angemessene Verhaltungsweise der Arbeiterschaft besteht. Sie hat, dieser Voraussicht entsprechend, die Massen des Proletariats auf das Kommende und auf seine Interessen diesem gegenüber geistig, materiell und organisatorisch soweit wie möglich vorzubereiten. Die Ereignisse und die Lagen, die in ihrer Folge entstehen, sind aber Produkte der sich blind und naturgesetzlich auswirkenden ökonomischen Kräfte der kapitalistischen Produktion. Jedoch auch hier nicht in mechanistisch-fatalistischer Weise. Denn wir haben an dem einen Beispiel der ökonomischen Zersetzung des Agrarfeudalismus in Rußland bereits sehen können, daß der ökonomische Zersetzungsprozeß selbst zwar ein zwangsläufig entstehendes Produkt der kapitalistischen Entwicklung ist, daß aber seine klassenmäßigen Auswirkungen, die neuen Klassenschichtungen, die aus ihm entstehen, keineswegs eindeutig in diesem Prozeß selbst - wenn er isoliert betrachtet wird - begründet und darum bloß aus ihm erkennbar sein werden. Das Schicksal der ganzen Gesellschaft, deren Teile diese Prozesse bilden, ist das letzthin entscheidende Moment ihrer Richtung. In dieser Ganzheit spielen aber die spontan-elementar losbrechenden oder bewußt geleiteten Handlungen der Klassen eine entscheidende Rolle. Und je aufgewühlter eine Gesellschaft ist, je mehr ihre "normale" Struktur aufgehört hat, richtig zu funktionieren, je stärker ihr sozial-ökonomisches Gleichgewicht gestört ist, das heißt, je revolutionärer eine Situation ist, desto entscheidender wird ihre Rolle. Daraus folgt, daß die Gesamtentwicklung der Gesellschaft im Zeitalter des Kapitalismus keineswegs in einer einfachen, geradlinigen Richtung erfolgt. Es ergeben sich vielmehr aus der Zusammenwirkung dieser Kräfte im gesellschaftlichen Ganzen Situationen, in denen eine bestimmte Tendenz sich verwirklichen kann -, wenn die Situation richtig erkannt und entsprechend ausgewertet wird. Aber die Entwicklung der ökonomischen Kräfte, die dem Anschein nach unwiderstehlich auf diese Situation hingetrieben hat, verfolgt, wenn diese versäumt wird, wenn ihre Konsequenzen nicht gezogen werden, keineswegs ebenso unwiderstehlich die bisherige Linie, sondern schlägt sehr oft ins Entgegengesetzte um. (Man stelle sich die Lage Rußlands vor, wenn die Bolschewiki im November 1917 nicht die Macht ergriffen, nicht die Agrarrevolution zu Ende geführt hätten. Eine "preußische" Lösung der Agrarfrage wäre unter einem konterrevolutionären, aber im Vergleich zum vorrevolutionären Zarismus modern-kapitalistischen Regime nicht vollständig ausgeschlossen gewesen.)

    Erst wenn die geschichtliche Umwelt, in der die Partei des Proletariats zu wirken hat, erkannt ist, kann ihre Organisation wirklich begriffen werden. Sie beruht auf den ungeheuren, welthistorischen Aufgaben, die Untergangsepoche des Kapitalismus dem Proletariate stellt; auf der ungeheuren welthistorischen Verantwortung, die diese Aufgaben der bewußten Führerschicht des Proletariats aufbürden. Indem die Partei aus der Erkenntnis der Totalität der Gesellschaft die Interessen des Gesamtproletariats (und dadurch vermittelt die Interessen aller Unterdrückten, die Zukunft der Menschheit) vertritt, muß sie in sich alle Gegensätze vereinigen, in denen sich diese vom Zentrum des gesellschaftlichen Ganzen gestellten Aufgaben ausdrücken. Wir haben bereits hervorgehoben, daß die strengste Auswahl der Parteimitglieder in bezug auf Klarheit des Klassenbewußtseins und unbedingte Hingebung der Sache der Revolution gegenüber mit dem restlosen Aufgehen im Leben der leidenden und kämpfenden Massen vereinigt werden muß. Und alle Bestrebungen, die erste Seite dieser Forderungen ohne ihren Gegenpol zu erfüllen, mußten mit einer sektenhaften Erstarrung selbst aus guten Revolutionären bestehender Gruppen enden. (Dies ist die Grundlage des Kampfes, den Lenin gegen "links" vom Otsowismus bis zur K.A.P. und darüber hinaus geführt hat.) Denn die Strenge der Anforderungen den Parteimitgliedern gegenüber ist nur ein Mittel, um der ganzen Klasse des Proletariats (und darüber hinaus allen vom Kapitalismus ausgebeuteten Schichten) ihre wahren Interessen, all das, was ihren unbewußten Handlungen, ihrem unklaren Denken und verworrenen Empfinden wirklich zugrunde liegt, klar vor Augen zu stellen, bewußt zu machen.

    Die Massen können aber nur handelnd lernen, nur im Kampfe ihrer Interessen bewußt werden. In einem Kampfe, dessen ökonomisch-soziale Grundlagen sich in ewigem Wechsel befinden, in dem sich deshalb die Bedingungen und Mittel des Kampfes ununterbrochen verändern. Die führende Partei des Proletariats kann ihre Bestimmung nur dann erfüllen, wenn sie in diesem Kampfe den kämpfenden Massen stets um einen Schritt voran ist, um ihnen den Weg weisen zu können. jedoch stets nur einen Schritt voran ist, um immer der Führer ihres Kampfes bleiben zu können. Ihre theoretische Klarheit ist also nur dann wertvoll, wenn diese nicht bei der allgemeinen, bei der bloß theoretischen Richtigkeit der Theorie stehenbleibt, sondern die Theorie stets in der konkreten Analyse der konkreten Lage gipfeln läßt, wenn die theoretische Richtigkeit stets nur den Sinn der konkreten Lage ausspricht. Die Partei muß also einerseits die theoretische Klarheit und Festigkeit haben, um allen Schwankungen der Massen zum Trotze, selbst eine vorübergehende Isolierung riskierend, auf dem richtigen Weg zu bleiben. Sie muß aber anderseits zugleich so elastisch und lernfähig sein, um aus jeder, wenn auch noch so verworrenen Äußerung der Massen die den Massen selbst unbewußt gebliebenen revolutionären Möglichkeiten herauszulesen.

    Eine derartige Anpassung an das Leben der Gesamtheit ist ohne strengste Disziplin in der Partei unmöglich. Wenn die Partei nicht fähig ist, ihre Erkenntnis der Lage, der ununterbrochnen wechselnden Lage augenblicklich anzupassen, so bleibt sie hinter den Ereignissen zurück, wird aus dem Führer der Geführte, verliert den Kontakt mit den Massen und desorganisiert sich. Das hat zur Folge, daß die Organisation stets mit der größten Straffheit und Strenge funktionieren muß, um diese Anpassung sogleich, wenn nötig, in Tat umzusetzen. Zugleich jedoch bedeutet es, daß diese Forderung der Schmiegsamkeit auch auf die Organisation selbst ununterbrochen angewendet werden muß. Eine Organisationsform, die in einer bestimmten Lage für bestimmte Zwecke nützlich gewesen ist, kann bei veränderten Kampfbedingungen geradezu ein Hemmnis werden.

    Denn es liegt im Wesen der Geschichte, stets Neues zu produzieren. Dieses Neue kann nicht durch irgendeine unfehlbare Theorie im voraus errechnet werden: es muß im Kampfe, aus seinen ersten sich zeigenden Keimen erkannt und bewußt zur Erkenntnis gefördert werden. Es ist keineswegs die Aufgabe der Partei, irgendwelche abstrakt ausgeklügelte Verhaltungsweise den Massen aufzudrängen. Sie hat im Gegenteil vom Kampf und von den Kampfmethoden der Massen ununterbrochen zu lernen. Sie muß aber auch im Lernen aktiv, die folgenden revolutionären Aktionen vorbereitend, tätig sein. Sie muß das von den Massen spontan, aus richtigem Klasseninstinkt Erfundene mit der Totalität der revolutionären Kämpfe verknüpfen, bewußt machen; sie muß, nach Marx' Worten, den Massen ihre eigenen Aktionen erklären, um auf diese Weise nicht nur die Kontinuität der revolutionären Erfahrungen des Proletariats zu bewahren, sondern auch die Weiterentwicklung dieser Erfahrungen bewußt und aktiv zu befördern. Die Organisation hat sich als Instrument in die Ganzheit solcher Erkenntnisse und der aus ihnen entspringenden Handlungen einzufügen. Tut sie es nicht, so wird sie die von ihr unerkannte und darum unbeherrschte Entwicklung der Dinge zersetzen. Darum ist jeder Dogmatismus in der Theorie und jede Erstarrung in der Organisation verhängnisvoll für die Partei. Denn, wie Lenin sagt: "Jede neue Form des Kampfes, die mit neuen Gefahren und Opfern verbunden ist, "desorganisiert" unvermeidlich die zu dieser neuen Kampfform nicht vorbereiteten Organisationen." Es ist Aufgabe der Partei auch in bezug auf sich selbst - und hier erst recht - den notwendigen Weg frei und bewußt zurückzulegen, sich umzubilden, bevor die Gefahr der Desorganisation akut wird und durch diese Umbildung umbildend und fördernd auf die Massen einzuwirken.

    Denn Taktik und Organisation bilden nur zwei Seiten eines untrennbaren Ganzen. Nur in beiden zugleich sind wirkliche Resultate erzielbar. Man muß, sollen sie erzielt werden, in beiden zugleich konsequent und elastisch, unerbittlich am Prinzip festhaltend und offenen Blickes für jede neue Wendung eines jeden Tages sein. Es kann weder taktisch noch organisatorisch etwas geben, was an und für sich gut oder schlecht wäre. Erst die Beziehung zum Ganzen, zum Schicksal der proletarischen Revolution macht einen Gedanken, eine Maßnahme usw. richtig oder falsch. Darum hat zum Beispiel Lenin - nach der ersten russischen Revolution - mit der gleichen Unerbittlichkeit sowohl jene bekämpft, die die angeblich nutzlose und sektenhafte Illegalität aufgeben wollten, wie jene, die sich restlos der Illegalität hingebend, die legalen Möglichkeiten von sich gewiesen haben; darum hat er für das Aufgehen im Parlamentarismus und für den prinzipiellen Antiparlamentarismus die gleiche zornige Verachtung gehabt usw.

    Lenin ist nicht nur niemals ein politischer Utopist gewesen, sondern er hat auch nie in bezug auf das Menschenmaterial seiner Gegenwart irgendwelche Illusionen gehabt. "Wir wollen", sagt er in der ersten Heldenzeit der siegreichen proletarischen Revolution, "den Sozialismus mit den Menschen errichten, die vom Kapitalismus erzogen, von ihm verdorben und verderbt, aber dafür von ihm auch zum Kampf gestählt worden sind." Die ungeheuren Anforderungen, die der Leninsche Organisationsgedanke an die Berufsrevolutionäre stellt, haben nichts Utopisches an sich. Freilich auch nichts an der Oberfläche des gewöhnlichen Lebens, der gegebenen Tatsächlichkeit, der Empirie Klebendes. Die Leninsche Organisation ist insofern selbst dialektisch - also nicht nur Produkt der dialektischen Geschichtstentwicklung, sondern zugleich ihr bewußter Förderer - als auch sie selbst zugleich Produkt und Produzent ihrer selbst ist. Die Menschen machen ihre Partei selbst, sie müssen einen hohen Grad von Klassenbewußtsein und Hingebung haben, damit sie an der Organisation teilnehmen wollen und können; aber zu wirklichen Berufsrevolutionären werden sie erst in der Organisation und durch die Organisation. Der Jakobiner, der sich mit der revolutionären Klasse verbündet, gibt durch seine Entschlossenheit, seine Fähigkeit zum Handeln, sein Wissen und seinen Enthusiasmus den Taten der Klasse Form und Klarheit. Es ist aber stets das gesellschaftliche Sein der Klasse, das aus ihm entsteigende Klassenbewußtsein, das den Inhalt und die Richtung seiner Handlungen bestimmt. Es ist kein stellvertretendes Handeln für die Klasse, sondern das Aufgipfeln des Handelns der Klasse selbst. Die Partei, die die proletarische Revolution zu führen berufen ist, tritt deshalb nicht fertig an ihren Führerberuf heran: auch sie ist nicht, sondern sie wird. Und der Prozeß der fruchtbaren Wechselwirkung zwischen Partei und Klasse wiederholt sich - freilich verändert - in der Beziehung der Partei zu ihren Mitgliedern. Denn, wie Marx in seinen Feuerbach-Aphorismen sagt: "Die materialistische Lehre, daß die Menschen Produkte der Umstände und der Erziehung, veränderte Menschen also Produkte anderer Umstände und geänderter Erziehung sind, vergißt, daß die Umstände eben von den Menschen verändert werden und daß der Erzieher selbst erzogen werden muß." Die Leninsche Konzeption der Partei ist der schroffste Bruch mit der mechanistischen und fatalistischen Vulgarisation des Marxismus. Sie ist die praktische Verwirklichung seines echten Wesens, seiner tiefsten Tendenz: "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern."

    IV. Der Imperialismus: Weltkrieg und Bürgerkrieg

    Sind wir aber in die Periode der entscheidenden revolutionären Kämpfe eingetreten? Ist der Zeitpunkt schon da, wo das Proletariat seinen, die Welt verändernden Beruf, bei Strafe des eigenen Unterganges, zu erfüllen gezwungen ist? Denn unzweifelhaft kann keine ideologische oder organisatorische Reife des Proletariats diese Entscheidung herbeiführen, wenn diese Reife, diese Entschlossenheit zum Kampfe nicht eine Folge der objektiven ökonomisch-sozialen Lage der Welt ist, die zur Entscheidung drängt. Und ein Ereignis, einerlei ob Sieg oder Niederlage, vermag dieses Problem unmöglich zu entscheiden. Ja nicht einmal der Tatbestand, ob es sich überhaupt um Sieg oder Niederlage handelt, läßt sich bei einem vereinzelt betrachteten Ereignis feststellen: erst der Zusammenhang mit dem Ganzen der gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung stempelt ein Einzelereignis zum Sieg oder zur Niederlage im weltgeschichtlichen Maßstabe.

    Darum führt die Diskussion, die in der russischen Sozialdemokratie (die damals sowohl Menschewiki wie Bolschewiki umfaßt hat) noch während der ersten Revolution ausbrach, um ihren Gipfelpunkt nach der Niederlage der Revolution zu erreichen, die Diskussion über die Frage, ob man im Verhältnis zur Revolution 1847 (vor der entscheidenden Revolution), oder 1848 (nach der Niederlage der Revolution) schreibt, notwendig über die russischen Probleme im engeren Sinne hinaus. Sie ist nur zu entscheiden, wenn die Frage nach dem Grundcharakter unserer Epoche entschieden ist. Die engere, die eigentlich russische Frage, ob die Revolution von 1905 eine bürgerliche oder proletarische Revolution gewesen ist und ob das - proletarisch-revolutionäre - Verhalten der Arbeiter richtig oder "fehlerhaft" war, kann auch erst in diesem Zusammenhange beantwortet werden. Allerdings: schon das energische Aufwerfen der Frage zeigt, in welcher Richtung man die Antwort zu suchen hat. Denn die Scheidung zwischen rechts und links in der Arbeiterbewegung fängt auch außerhalb Rußlands immer mehr an, die Form einer Diskussion über den allgemeinen Charakter der Epoche anzunehmen. Einer Diskussion darüber, ob gewisse, immer klarer beobachtete ökonomische Phänomene (Konzentration des Kapitals, steigende Bedeutung der Großbanken, Kolonisation usw.) nur quantitative Steigerungen der "normalen" Entwicklung des Kapitalismus sind, oder ob an ihnen das Herannahen einer neuen Epoche des Kapitalismus, des Imperialismus abzulesen ist? Ob die nach einer relativen Friedensperiode wieder immer häufiger werdenden Kriege (Burenkrieg, spanisch-amerikanischer, russisch-japanischer Krieg usw.) als "zufällig" oder "episodisch" anzusehen sind, oder ob man in ihnen die ersten Anzeichen einer Periode von immer gewaltigeren Kriegen zu erblicken hat? Und schließlich: wenn die Entwicklung des Kapitalismus auf diese Weise in eine neue Phase eingetreten ist: reichen die alten Kampfmethoden des Proletariats aus, um seine Klasseninteressen unter diesen geänderten Bedingungen zur Geltung zu bringen? Sind deshalb jene neuen Formen des proletarischen Klassenkampfes, die vor und während der russischen Revolution aufgetaucht sind (Massenstreik, bewaffneter Aufstand), Ereignisse von bloß örtlicher, spezialer Bedeutung, ja vielleicht "Fehler" und "Verirrungen", oder muß man in ihnen die ersten, mit richtigem Klasseninstinkt unternommenen, spontanen Versuche der Massen erblicken, ihr Handeln an die Weltlage anzupassen?

    Die praktische Antwort Lenins auf den zusammenhängenden Komplex dieser Fragen ist bekannt. Sie drückt sich am klarsten darin aus, daß er - kaum nach der Niederwerfung der russischen Revolution, als die Wehklagen der Menschewiki über das fehlerhafte "Zuweit-Gehen" der russischen Arbeiter noch lange nicht verhallt waren - am Stuttgarter Kongreß den Kampf für die Klarheit und Schärfe der Stellungnahme der II. Internationale gegen die unmittelbar drohende Gefahr eines imperialistischen Weltkrieges aufnahm und diese Stellungnahme in der Richtung, was gegen diesen Krieg zu tun sei, zu beeinflussen versuchte.

    Der Lenin-Luxemburgsche Zusatzantrag ist in Stuttgart angenommen und später von den Kopenhagener und Baseler Kongressen bestätigt worden. Das heißt, daß die Gefahr eines nahenden imperialistischen Weltkrieges und die Notwendigkeit für das Proletariat, gegen ihn revolutionär anzukämpfen, von der Internationale offiziell zugegeben wurde. Hier ist also Lenin anscheinend keineswegs allein gestanden. Auch in der ökonömischen Erkenntnis des Imperialismus als neuer Phase des Kapitalismus nicht. Die ganze Linke, ja sogar Teile des Zentrums und des rechten Flügels der II. Internationale haben die ökonomischen Tatsachen, die dem Imperialismus zugrunde liegen, als vorhanden anerkannt. Hilferding hat versucht, eine ökonomische Theorie dieser neuen Erscheinungen zu geben, und Rosa Luxemburg gelang es sogar, den ökonomischen Gesamtkomplex des Imperialismus als notwendige Folge des Reproduktionsprozesses im Kapitalismus darzustellen: den Imperialismus in die Geschichtstheorie des historischen Materialismus organisch einzufügen und damit der "Zusammenbruchstheorie" ein konkret-ökonomisches Fundament zu geben. Und dennoch: als im August 1914 - und noch lange nachher - Lenin mit seinem Standpunkt dem Weltkrieg gegenüber ganz allein stand, so war diese Einsamkeit keineswegs zufällig. Sie läßt sich aber noch weniger psychologisch oder moralisch erklären: daß etwa viele andere, die den Imperialismus früher ebenfalls "richtig" beurteilt haben, jetzt aus "Feigheit" schwankend geworden wären usw. Nein. Die Stellungnahmen der einzelnen sozialistischen Strömungen im August -1914 waren die geradlinigen, sachlichen Folgen ihres bisherigen theoretischen, taktischen usw. Verhaltens.

    Die Leninsche Auffassung des Imperialismus ist in - scheinbar paradoxer Weise einerseits eine bedeutende theoretische Leistung, anderseits und zugleich enthält sie, als rein ökonomische Theorie betrachtet, wenig wirklich Neues. Sie ist in mancher Hinsicht auf Hilferding aufgebaut und verträgt, rein ökonomisch angesehen, an Tiefe und Großartigkeit keineswegs den Vergleich mit Rosa Luxemburgs wundervoller Weiterführung der Marxschen Reproduktionstheorie. Lenins Überlegenheit besteht darin - und dies ist eine theoretische Großtat ohnegleichen daß es ihm gelungen ist, die ökonomische Theorie des Imperialismus restlos mit allen politischen Fragen der Gegenwart konkret zu verknüpfen; die Ökonomik der neuen Phase zu einer Richtschnur für sämtliche konkreten Handlungen in der so entscheidenden Umwelt zu machen. Darum lehnt er zum Beispiel während des Krieges gewisse - extrem linke - Anschauungen polnischer Kommunisten als "imperialistischen Ökonomismus" ab; darum gipfelt seine Abwehr gegen die Kautskysche Auffassung vom "Ultraimperialismus", einer Theorie der Hoffnung auf einen friedlichen Welttrust des Kapitals, zu dem der Weltkrieg ein "zufälliger" und nicht einmal "richtiger" Weg ist, darin, daß Kautsky die Ökonomie des Imperialismus von seiner Politik trennt. Freilich ist die Theorie des Imperialismus von Rosa Luxemburg (und von Pannekoek und anderen Linken) keineswegs ökonomistisch im engeren, im eigentlichen Sinne. Sie alle - Rosa Luxemburg vor allem - heben gerade jene Momente der Ökonomik des Imperialismus hervor, wo sie notwendig ins Politische umschlägt (Kolonisation, Rüstungsindustrie usw.). Jedoch diese Verknüpfung wird nicht konkret. Das heißt, Rosa Luxemburg zeigt in unübertrefflicher Weise, daß infolge des Akkumulationsprozesses der Übergang in den Imperialismus, die Epoche des Kampfes um die kolonialen Absatz- und Rohstoffgebiete, um die Möglichkeiten des Kapitalexportes usw. unvermeidlich geworden ist; daß diese Epoche - die letzte Phase des Kapitalismus - eine Epoche der Weltkriege sein muß. Sie begründet aber damit bloß die Theorie der ganzen Epoche, die Theorie dieses modernen Imperialismus überhaupt. Einen Übergang aus dieser Theorie zu den konkreten Forderungen des Tages vermochte auch sie nicht zu finden; die "Juniusbroschüre" ist in ihren konkreten Teilen keineswegs eine notwendige Folge der "Akkumulation des Kapitals". Die theoretische Richtigkeit der Beurteilung der ganzen poche konkretisiert sich bei ihr nicht zu einer klaren Erkenntnis jener konkreten bewegenden Kräfte, die abzuschätzen und revolutionär auszunützen die praktische Aufgabe der marxistischen Theorie ist.

    Aber Lenins Überlegenheit an diesem Punkte läßt sich durchaus nicht mit dem Schlagwort einer "politischen Genialität" eines "praktischen Scharfblickes" usw. erledigen. Sie ist vielmehr eine rein theoretische Überlegenheit in der Beurteilung des Geamtprozesses. Denn es gibt keine einzige praktische Entscheidung in seinem ganzen Leben, die nicht die gerade sachliche und logische Folge seiner theoretischen Einstellung gewesen wäre. Und daß die Grundmaxime dieser Einstellung die Forderung der konkreten Analyse der konkreten Lage ist, verschiebt nur in den Augen der nicht dialektisch Denkenden die Frage ins "Realpolitisch"-Praktische. Für den Marxisten ist die konkrete Analyse der konkreten Lage kein Gegensatz zur "reinen" Theorie, sondern im Gegenteil: der Gipfelpunkt der echten Theorie, der Punkt, wo die Theorie wirklich erfüllt ist, wo sie - deshalb - in Praxis umschlägt.

    Diese theoretische Überlegenheit beruht darauf, daß Lenin von allen Nachfolgern Marx' derjenige war, dessen Blick am wenigsten von den fetischistischen Kategorien seiner kapitalistischen Umwelt verstellt wurde. Denn die entscheidende Überlegenheit der Marxschen Ökonomie über alle ihre Vorgänger und Nachfolger besteht darin, daß es ihr selbst in den verwickeltsten Fragen, wo, scheinbar, mit den reinsten ökonomischen (also am reinsten fetischistischen) Kategorien gearbeitet werden muß, methodisch gelungen ist, dem Problem eine solche Fassung zu geben, daß hinter den "rein-ökonomischen" Kategorien jene Klassen, deren gesellschaftliches Sein diese ökonomischen Kategorien ausdrücken, in ihren Entwicklunsprozessen sichtbar geworden sind. (Man denke an den Unterschied des konstanten und variablen Kapitals im Gegensatz zur klassischen Unterscheidung zwischen fixem und zirkulierendem Kapital. Durch diese Unterscheidungen kommt erst die Klassenstruktur der bürgerlichen Gesellschaft zum Vorschein. Die Marx'sche Fassung des Mehrwertproblems hat bereits die Klassenschichtung zwischen Bourgeoisie und Proletariat aufgedeckt. Die Zunahme des konstanten Kapitals zeigt dieses Verhältnis im dynamischen Zusammenhang des Entwicklungsprozesses der Gesamtgesellschaft und enthüllt zugleich den Kampf der verschiedenen Gruppen des Kapitals um die Aufteilung des Mehrwerts.)

    Lenins Theorie des Imperialismus ist weniger eine Theorie seines ökonomisch notwendigen Entstehens und seiner ökonomischen Schranken - wie die Rosa Luxemburgs -, sondern die Theorie der konkreten Klassenkräfte, die durch den Imperialismus entfesselt in ihm wirksam sind; die Theorie der konkreten Weltlage, die durch den Imperialismus entstanden ist. Wenn er das Wesen des Monopolkapitalismus untersucht, so interessiert ihn in erster Reihe diese konkrete Weltlage und die Klassenschichtungen, die hierdurch hervorgebracht wurden: wie die Erde durch die großen Kolonialmächte de facto aufgeteilt wurde; wie durch die Konzentrationsbewegung des Kapitals die innere Klassenschichtung von Bourgeoisie und Proletariat sich ändert (rein parasitäre Rentnerschichten, Arbeiteraristokratie usw.). Und hauptsächlich: wie die innere Bewegung des Monopolkapitalismus, wegen des ungleichmäßigen Tempos in den einzelnen Ländern, die zeitweilig erfolgten friedlichen Aufteilungen der "Interessengebiete" und andere Kompromisse wieder hinfällig macht und auf Konflikte hintreibt, die nur mit Gewalt, mit Krieg zu lösen sind.

    Indem das Wesen des Imperialismus als Monopolkapitalismus und sein Krieg als notwendige Entwicklung und Äußerung dieser Tendenz zu noch höherer Konzentration, zum absoluten Monopol bestimmt wird, wird die Schichtung der Gesellschaft in ihrer Beziehung zu diesem Kriege klar. Es zeigt sich, daß es ein naiver Illusionismus ist, sich - à la Kautsky - vorzustellen, daß Teile des Bürgertums, die am Imperialismus direkt "nicht interessiert", ja sogar von ihm "übervorteilt" sind, gegen ihn mobllisierbar sein könnten. Die monopolistische Entwicklung reißt die ganze Bourgeoisie mit sich, ja findet nicht nur in dem - schon an sich stets schwankenden - Kleinbürgertum, sondern sogar in Teilen des Proletariats eine (freilich vorübergehende) Stütze. Dennoch stimmt es nicht, wenn Kleingläubige meinen: das revolutionäre Proletariat käme durch seine unerbittliche Ablehnung des Imperialismus in eine isolierte Stellung in der Gesellschaft. Die Entwicklung, der kapitalistischen Gesellschaft ist stets widerspruchsvoll, sich in Gegensätzen bewegend. Der Monopolkapitalismus schafft zum erstenmal in der Geschichte eine Weltwirtschaft im eigentlichen Sinne; sein Krieg, der imperialistische Krieg ist deshalb der erste Weltkrieg in des Wortes strengster Bedeutung. Das bedeutet vor allem, daß zum erstenmal in der Geschichte, die vom Kapitalismus unterdrückten und ausgebeuteten Nationen nicht mehr bloß im isolierten Kampfe gegen ihre Unterdrücker stehen, sondern daß sie mit ihrer ganzen Existenz in den Strudel des Weltkriegs hineingerissen werden. Die entwickelte kapitalistische Kolonisationspolitik beutet die Kolonialvölker nicht in einer einfach räuberischen Weise aus, wie dies im Anfang der kapitalistischen Entwicklung geschah, sondern wälzt zugleich ihre gesellschaftliche Struktur um, kapitalisiert sie. Dies geschieht selbstredend um der gesteigerten Ausbeutung willen (Kapitalexport usw.) hat aber zur Folge - freilich in einer für den Imperialismus ungewollten Weise -, daß in den Kolonialländern die Anfänge einer eigenen bürgerlichen Entwicklung niedergelegt werden, als deren zwangsläufige ideologische Folge ein Kampf um die nationale Selbständigkeit eintritt. Dies wird noch dadurch gesteigert, daß der imperialistische Krieg alle verfügbaren Menschenreserven der imperialistischen Länder mobilisiert, die Kolonialvölker teils aktiv in den Kampf zerrt, teils für die schnellere Entwicklung ihrer Industrie sorgt; diesen Prozeß also ökonomisch wie ideologisch beschleunigt.

    Die Lage der Kolonialvölker ist aber nur ein extremer Fall der Beziehung des Monopolkapitalismus zu seinen Ausgebeuteten. Der geschichtliche Übergang aus einer Epoche in die andere vollzieht sich niemals mechanisch; nicht so, daß etwa eine Produktionsweise nur dann auftreten und geschichtlich wirksam werden könnte, wenn die vorangehende, von ihr überwundene Produktionsweise ihre eigene, die Gesellschaft umgestaltende Mission bereits überall erfüllt hat. Die einander überwindenden Produktionsweisen und die ihnen entsprechenden Gesellschaftsformen und Klassenschichtungen treten vielmehr einander kreuzend und gegeneinander arbeitend in der Geschichte auf. So können Entwicklungen, die, abstrakt angesehen, einander gleich scheinen (zum Beispiel Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus), infolge des völlig gewandelten geschichtlichen Milieus, in dem sie sich abspielen, eine ganz andere Beziehung zum gesellschaftlich geschichtlichen Ganzen erhalten und dementsprechend - auch für sich allein betrachtet - eine ganz neue Funktion und Bedeutung besitzen.

    Der aufstrebende Kapitalismus trat als nationbildender Faktor auf. Aus dem mittelalterlichen Gemenge von kleinen feudalen Herrschaftsformen modelte er den kapitalistisch entwickelteren Teil Europas - nach schweren revolutionären Kämpfen - in große Nationen um. Die Kämpfe um die Einheit Deutschlands und Italiens sind die letzten dieser - objektiv angesehen - revolutionären Kämpfe gewesen. Wenn aber in diesen Staaten der Kapitalismus sich zum imperialistischen Monopolkapitalismus weiterentwickelt hat, wenn er sogar in einzelnen rückständigeren Ländern (Rußland, Japan) solche Formen anzunehmen begann, so bedeutet dies nicht, daß seine nationbildende Bedeutung für die ganze übrige Welt aufgehört hätte. Im Gegenteil. Die fortschreitende kapitalistische Entwicklung schuf nationale Bewegungen in allen bisher "geschichtslosen" Völkern Europas. Nur daß ihr "nationaler Befreiungskampf" sich nunmehr nicht bloß als Kampf gegen den inneren Feudalismus oder Feudalabsolutismus abspielt, also unbedingt fortschrittlich ist, sondern sich in den Rahmen des imperialistischen Wettstreites der Weltmächte einfügen muß. Ihre geschichtliche Bedeutung, ihre Bewertung hängt deshalb davon ab, welche konkrete Funktion ihnen in diesem konkreten Ganzen zukommt.

    Die Bedeutung dieser Frage hat Marx bereits ganz klar erkannt. Zu seiner Zeit war sie freilich vorwiegend ein englisches Problem: das Problem der Beziehung Englands zu Irland. Und Marx betont mit der größten Schärfe, "daß, abgesehen von aller internationalen Gerechtigkeit, es eine Vorbedingung der Emanzipation der englischen Arbeiterklasse ist, die gegenwärtige Zwangsvereinigung - das heißt, die Sklaverei Irlands - in ein gleiches und freies Bündnis umzugestalten, wenn es möglich ist in vollständige Trennung, wenn es sein muß". Er hat nämlich klar gesehen, daß die Ausbeutung Irlands einerseits einen entscheidenden Machtposten des englischen Kapitalismus, der bereits damals, aber damals als einziger Kapitalismus schon einen monopolistischen Charakter hatte, bedeutet, und daß anderseits die unklare Stellungnahme der englischen Arbeiterklasse in dieser Frage eine Entzweiung der Unterdrückten zustande bringt, einen Kampf von Ausgebeuteten gegen andere Ausgebeutete, statt ihres einheitlichen Kampfes gegen ihre gemeinsamen Ausbeuter; daß also nur der Kampf um die nationale Befreiung Irlands eine wirklich wirksame Front in dem Kampf des englischen Proletariats gegen die englische Bourgeoisie abgeben kann.

    Diese Auffassung von Marx ist nicht nur in der zeitgenössischen englischen Arbeiterbewegung unwirksam geblieben, sie ist auch nicht in der Theorie und Praxis der II. Internationale lebendig geworden. Auch hier blieb es Lenin vorbehalten, die Theorie zu einem neuen Leben zu erwecken; aber zu einem lebendigeren, konkreteren Leben, als sie es selbst bei Marx gehabt hat. Denn sie ist aus einer bloß welthistorischen Aktualität zur Tagesfrage geworden und tritt dementsprechend bei Lenin nicht mehr theoretisch, sondern rein praktisch auf. Denn es muß jedem in diesem Zusammenhange klarwerden, daß das ganze ungeheure Problem, das sich vor uns hier auftut - die Auflehnung aller Unterdrückten, nicht bloß der Arbeiter, in wirklichem Weltmaßstabe - dasselbe Problem ist, was Lenin von Anfang an als Kern der russischen Agrarfrage gegen Narodniki, legale Marxisten, Ökonomisten usw. ununterbrochen verkündet hat. Es handelt sich in allen diesen Fällen um das, was Rosa Luxemburg den "äußeren" Markt des Kapitalismus genannt hat, worunter der nichtkapitalistische Markt zu verstehen ist, einerlei, ob er innerhalb oder außerhalb der politischen Landesgrenzen liegt. Der sich ausbreitende Kapitalismus kann einerseits ohne ihn nicht bestehen, andererseits besteht seine soziale Funktion diesem Markte gegenüber in der Zersetzung seiner ursprünglichen gesellschaftlichen Struktur, in seiner Kapitalisierung, in seiner Verwandlung zu einem - kapitalistisch - "inneren" Markte, wodurch er aber Selbständigkeitstendenzen usw. erhält. Das Verhältnis ist also auch hier ein dialektisches. Nur daß Rosa Luxemburg von dieser richtigen und großartigen Geschichtsperspektive nicht den Weg zur konkreten Lösung der konkreten Fragen des Weltkrieges gefunden hat. Sie blieb bei ihr eine Geschichtsperspektive, eine richtige und großartige Charakteristik der ganzen Epoche. Aber bloß der Epoche als Ganzem. Und es blieb Lenin vorbehalten, den Schritt aus der Theorie in die Praxis zu tun. Dieser Schritt ist jedoch - dies darf niemals vergessen werden - zugleich ein theoretischer Fortschritt. Denn er ist ein Schritt aus dem Abstrakten ins Konkrete.

    Dieser Übergang aus der abstrakt richtigen Beurteilung der aktuellen geschichtlichen Wirklichkeit, aus dem Nachweis des allgemein revolutionären Wesens der ganzen imperialistischen Epoche ins Konkrete spitzt sich auf die Frage nach dem besonderen Charakter dieser Revolution zu. Es ist eine der größten theoretischen Leistungen von Marx gewesen, bürgerliche und proletarische Revolution genau voneinander zu unterscheiden. Diese Unterscheidung war teils dem unreifen Illusionismus seiner Zeitgenossen gegenüber von höchster praktisch-taktischer Bedeutung, teils bot sie die einzige methodische Handhabe, um die wirklich neuen, wirklich proletarisch-revolutionären Elemente in den damaligen revolutionären Bewegungen klar zu erkennen. Im Vulgärmarxismus jedoch ist diese Unterscheidung zu einer mechanischen Trennung erstarrt. Diese Trennung hat bei den Opportunisten die praktische Folge, daß die empirisch richtige Beobachtung, daß so gut wie jede Revolution der Neuzeit als bürgerliche Revolution beginnt, mag sie auch noch so sehr von proletarischen Aktionen, Forderungen usw. durchsetzt sein, schematisch verallgemeinert wird. Die Revolution ist in solchen Fällen nach den Opportunisten eine bloß bürgerliche. Die Aufgabe des Proletariats ist: diese Revolution zu unterstützen. Aus dieser Trennung der bürgerlichen und proletarischen Revolution folgt, daß das Proletariat auf seine eigenen revolutionären Klassenziele zu verzichten hat.

    Jedoch auch die linksradikale Auffassung, die den mechanischen Trugschluß dieser Theorie klar durchschaut und des proletarisch-revolutionären Charakters unserer Epoche bewußt ist, verfällt auf der anderen Seite einer ebenso gefährlichen Mechanistik der Auffassung. Aus der Erkenntnis, daß die welthistorisch revolutionäre Rolle der Bourgeoisie im imperialistischen Zeitalter ausgespielt ist, folgert sie - ebenfalls auf Grund einer mechanistischen Trennung von bürgerlicher und proletarischer Revolution -, daß wir nunmehr in das Zeitalter der reinen proletarischen Revolution eingetreten sind. Diese Einstellung hat zur gefährlichen praktischen Folge, daß alle jene Zerfalls- und Gärungsbewegungen, die im imperialistischen Zeitalter notwendig entstehen (Agrarfrage, Kolonialfrage, Nationalitätenfrage) und die im Zusammenhang mit der proletarischen Revolution objektiv revolutionär sind, übersehen, ja sogar verachtet und abgestoßen werden; daß diese Theoretiker der reinen proletarischen Revolution freiwillig auf die wirklichsten und wichtigsten Verbündeten des Proletariats verzichten; daß sie jenes revolutionäre Milieu, das die proletarische Revolution konkret aussichtsreich macht, vernachlässigen und so im luftleeren Raum eine "reine", proletarische Revolution erwarten und sie vorzubereiten meinen. "Wer eine reine soziale Revolution erwartet" sagt Lenin -, "der wird sie niemals erleben, und ist nur in Worten ein Revolutionär, der die wirkliche Revolution nicht versteht."

    Denn die wirkliche Revolution ist das dialektische Umschlagen der bürgerlichen Revolution in die proletarische. Die unbestreitbare geschichtliche Tatsache, daß jene Klasse, die Führer oder Nutznießer der vergangenen großen bürgerlichen Revolutionen gewesen ist, nunmehr objektiv konterrevolutionär wurde, bedeutet keineswegs, daß damit auch jene objektiven Probleme, um die sich diese Revolutionen gedreht haben, sozial erledigt, daß jene Schichten der Gesellschaft, die an ihrer revolutionären Lösung vital interessiert waren, befriedigt wären. Im Gegenteil. Die konterrevolutionäre Wendung der Bourgeoisie bedeutet nicht bloß ihre Feindlichkeit dem Proletariate gegenüber, sondern zugleich ihre Abwendung von ihren eigenen revolutionären Traditionen. Sie tritt das Erbe ihrer revolutionären Vergangenheit an das Proletariat ab. Das Proletariat ist nunmehr die einzige Klasse, die imstande ist, die bürgerliche Revolution konsequent zu Ende zu führen. Das heißt, einerseits können nur im Rahmen einer proletarischen Revolution die noch aktuell gebliebenen Forderungen der bürgerlichen Revolution durchgesetzt werden, und anderseits führt das konsequente Durchsetzen dieser Forderungen der bürgerlichen Revolution notwendig zu einer proletarischen Revolution. Die proletarische Revolution bedeutet also heute zugleich die Verwirklichung und die Aufhebung der bürgerlichen Revolution.

    Die richtige Erkenntnis dieser Sachlage eröffnet eine ungeheure Perspektive für die Chancen und Möglichkeiten der proletarischen Revolution. Sie erhebt aber zugleich ungeheure Anforderungen an das revolutionäre Proletariat und seine führende Partei. Denn um diesen dialektischen Übergang zu finden, muß das Proletariat nicht bloß eine richtige Erkenntnis des richtigen Zusammenhanges haben, sondern in sich jene kleinbürgerlichen Neigungen, Denkgewohnheiten usw. praktisch überwinden, die ihm die Einsicht in diese Zusammenhänge versperrt haben. (Zum Beispiel nationale Befangenheit.) Es ergibt sich damit für das Proletariat die Notwendigkeit, sich durch Selbstüberwindung zum Führer aller Unterdrückten zu erheben. Vor allem ist der Kampf um die nationale Selbständigkeit der unterdrückten Völker ein großartiges Werk der revolutionären Selbsterziehung, sowohl für das Proletariat des unterdrückenden Volkes, das durch diese Durchsetzung der vollständigen nationalen Selbständigkeit seinen eigenen Nationalismus überwindet, wie für das Proletariat des unterdrückten Volkes, das durch die entsprechende Parole des Föderalismus, der internationalen proletarischen Solidarität wiederum über seinen Nationalismus hinausgeht. Denn "das Proletariat ringt" wie Lenin sagt, "um den Sozialismus und gegen seine eigenen Schwächen" Der Kampf um die Revolution, das Benützen der objektiven Chancen der Weltlage und das innere Ringen um die eigene Reife des revolutionären Klassenbewußtseins sind untrennbare Momente eines und desselben dialektischen Prozesses.

    Der imperialistische Krieg schafft also für das Proletariat, wenn es revolutionär gegen die Bourgeoisie kämpft, überall Verbündete. Er zwingt aber das Proletariat, wenn es seine Lage und seine Aufgaben nicht erkennt, in Gefolgschaft der Bourgeoisie zu einer fürchterlichen Selbstzerfleischung. Der imperialistische Krieg schafft eine Weltlage, wo das Proletariat wirklich zum Führer aller Unterdrückten und Ausgebeuteten, wo sein Befreiungskampf das Signal und der Wegweiser für die Befreiung aller Versklavten des Kapitalismus werden kann. Er schafft aber gleich eine Weltlage, wo Millionen und Millionen Proletarier einander mit der raffiniertesten Grausamkeit ermorden müssen, um die monopolistische Stellung ihrer Ausbeuter zu befestigen und zu verbreitern. Welches Schicksal von beiden dem Proletariate zuteil wird, hängt von seiner Einsicht in seine geschichtliche Lage, von seinem Klassenbewußtsein ab. Denn "die Menschen machen ihre Geschichte selbst". Aber allerdings "nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen" Es handelt sich hier also nicht um die Wahl, ob das Proletariat kämpfen oder nicht kämpfen will, sondern nur um die Wahl: um wessen Interessen es kämpfen soll, um die eigenen oder um die der Bourgeoisie. Die Frage, die die geschichtliche Situation dem Proletariate stellt, ist nicht die Wahl zwischen Krieg und Frieden, sondern die Wahl zwischen imperialistischem Krieg und Krieg gegen diesen Krieg: Bürgerkrieg.

    Die Notwendigkeit des Bürgerkrieges, als Abwehr des Proletariats dem imperialistischen Kriege gegenüber, entspringt, wie alle Kampfesweisen des Proletariats, aus den Kampfbedingungen, die die Entwicklung der kapitalistischen Produktion, der bürgerlichen Gesellschaft dem Proletariate aufzwingt. Die Aktivität der Partei, die Bedeutung der richtigen theoretischen Voraussicht erstreckt sich nur so weit, dem Proletariate jene Widerstands- oder Stoßkraft zu geben, die es kraft der Klassenschichtung in der gegebenen Lage objektiv besitzt, die es aber aus theoretischer und organisatorischer Unreife nicht auf die Höhe der gegeben objektiven Möglichkeit erhebt. So ist noch vor dem imperialistischen Kriege der Massenstreik als spontane Reaktion des Proletariats auf die imperialistische Phase des Kapitalismus entstanden, und dieser Zusammenhang, den die Rechte und das Zentrum der II. Internationale mit allen Mitteln zu verschleiern versucht haben, ist für den radikalen Flügel allmählich zum theoretischen Gemeingut geworden.

    Aber auch hier war Lenin der einzige, der bereits sehr früh, bereits 1905, erkannt hat, daß der Massenstreik als Waffe des entscheidenden Kampfes nicht ausreicht. Wenn er, nach dem niedergeworfenen Moskauer Aufstand Plechanow gegenüber, der die Ansicht vertrat, daß "man nicht hätte zu den Waffen greifen sollen" den mißglückten Aufstand als eine entscheidende Etappe bewertet und seine konkreten Erfahrungen zu fixieren versucht hat, so hat er damit bereits die notwendige Taktik des Proletariats im Weltkrieg theoretisch begründet. Denn die imperialistische Phase des Kapitalismus und insbesondere ihr Aufgipfeln im Weltkriege zeigt, daß der Kapitalismus in den Zustand der Entscheidung über sein Bestehen oder Untergehen eingetreten ist. Und mit dem richtigen Klasseninstinkt einer an die Herrschaft gewohnten Klasse, die sich dessen bewußt ist, daß mit der Ausbreitung ihres Herrschaftsbereiches, mit der Entfaltung ihres Herrschaftsapparates zugleich die reale soziale Basis ihrer Herrschaft verengert wird, macht sie die energischsten Versuche, sowohl diese Basis zu erweitern (Mittelschichten in ihre Gefolgschaft zu bringen, die Arbeiteraristokratie zu korrumpieren usw.), wie ihre entscheidenden Feinde entscheidend zu schlagen, bevor diese sich zu einem wirklichen Widerstand aufgerafft hätten. Darum ist es überall die Bourgeoisie, die die "friedlichen" wenn auch noch so problematisches Funktionieren die ganze Theorie des Revisionismus begründet war, liquidiert und "energischere" Kampfmittel bevorzugt. (Man denke an Amerika.) Es gelingt ihr immer stärker, den Staatsapparat kraftvoll in die Hand zu nehmen, sich so stark mit ihm zu identifizieren, daß selbst die anscheinend bloß wirtschaftlichen Forderungen der Arbeiterklasse immer stärker an diese Wand stoßen; daß die Arbeiter den Kampf mit der Staatsmacht (also, wenn auch unbewußt, den Kampf um die Staatsmacht) aufzunehmen gezwungen sind, wenn sie nur die Verschlechterung ihrer Wirtschaftslage, das Verlieren von bisher errungenen Machtpositionen verhüten wollen. So wird dem Proletariate von dieser Entwicklung die Taktik des Massenstreiks aufgezwungen, wobei der Opportunismus aus Angst vor der Revolution stets darauf bedacht ist, lieber bereits Errungenes aufzugeben, als die revolutionären Konsequenzen der Lage zu ziehen. Der Massenstreik ist aber seinem objektiven Wesen nach - ein revolutionäres Mittel. Jeder Massenstreik schafft eine revolutionäre Lage, in der die Bourgeoisie mit der Hilfe ihres Staatsapparats nach Möglichkeit die für sie notwendigen Folgerungen zieht. Diesen Mitteln gegenüber ist aber das Proletariat machtlos. Auch die Waffe des Massenstreiks muß ihnen gegenüber versagen, wenn es den Waffen der Bourgeoisie gegenüber nicht ebenfalls zu den Waffen greift. Das bedeutet das Bestreben, sich selbst zu bewaffnen, die Armee der Bourgeoisie, die ja in ihrer Masse aus Arbeitern und Bauern besteht, zu desorganisieren, die Waffen der Bourgeoisie gegen diese selbst zu kehren. (Die Revolution von 1905 zeigt viele Beispiele eines sehr richtigen Klasseninstinktes, aber nur eines Instinktes in dieser Hinsicht.)

    Der imperialistische Krieg bedeutet nun die äußerste Zuspitzung dieser Lage. Die Bourgeoisie stellt das Proletariat vor die Wahl: für ihre monopolistischen Interessen seine Klassengenossen in den anderen Ländern zu töten, für diese Interessen zu sterben, oder die Herrschaft der Bourgeoisie mit Waffengewalt zu stürzen. Alle anderen Kampfmittel gegen diese äußerste Vergewaltigung werden machtlos, denn sie müssen ohne Ausnahme am Militärapparat der imperialistischen Staaten zerschellen. Wenn also das Proletariat dieser äußersten Vergewaltigung entgehen will, muß es den Kampf gegen diesen Militärapparat selbst aufnehmen: ihn von innen zersetzen und die Waffen, die die imperialistische Bourgeoisie dem ganzen Volke zu geben gezwungen war, gegen die Bourgeoisie wenden, zum Untergang des Imperialismus benutzen.

    Also auch hier liegt nichts, was - theoretisch - ganz unerhört wäre. Im Gegenteil. Der Kern der Lage steckt in dem Klassenverhältnis zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Der Krieg ist, nach der Definition von Clausewitz, nur die Fortsetzung der Politik; er ist es aber in jeder Beziehung. Das heißt, nicht nur für die äußere Politik eines Staates bedeutet der Krieg bloß das äußerste und aktivste Zu-Ende-Führen jener Linie, die das Land bis dahin, im 'Frieden' verfolgt hat, sondern auch für die innere Klassenschichtung eines Landes (und der ganzen Welt) steigert der Krieg bloß aufs Höchste und spitzt bis ins Letzte jene Tendenzen zu, die innerhalb der Gesellschaft bereits im "Frieden" wirksam gewesen sind. Der Krieg schafft also keineswegs eine absolut neue Lage, weder für ein Land noch für eine Klasse innerhalb einer Nation. Das Neue an ihm liegt bloß darin, daß die unerhörte quantitative Steigerung aller Probleme ins Qualitative umschlägt und dadurch - aber nur dadurch - eine neue Situation hervorbringt.

    Der Krieg ist also sozial-ökonomisch angesehen nur eine Etappe der imperialistischen Entwicklung des Kapitalismus. Er ist deshalb notwendigerweise ebenfalls nur eine Etappe im Klassenkampfe des Proletariats gegen die Bourgeoisie. Die Bedeutung der Leninschen Theorie des Imperialismus liegt nun darin, daß Lenin - was außer ihm keinem gelang - diesen Zusammenhang des Weltkrieges mit der Gesamtentwicklung theoretisch folgerichtig hergestellt und an den konkreten Problemen des Krieges klar erwiesen hat. Da aber der historische Materialismus die Theorie des proletarischen Klassenkampfes ist, wäre die Herstellung dieses Zusammenhanges unvollständig geblieben, wenn die Theorie des Imperialismus nicht zugleich eine Theorie der Strömungen der Arbeiterbewegung im imperialistischen Zeitalter gewesen wäre. Es galt also nicht nur, klar zu sehen, wie das Proletariat in der durch den Krieg geschaffenen neuen Weltlage seinen Klasseninteressen gemäß zu handeln hat, sondern zugleich nachzuweisen, worauf die anderen "proletarischen" Stellungnahmen zum Imperialismus und zu seinem Krieg theoretisch fundiert sind, welche Umschichtungen im Proletariate diesen Theorien eine Gefolgschaft verleihen und sie dadurch zu politischen Strömungen erheben.

    Vor allem galt es nachzuweisen, daß diese Strömungen überhaupt als Strömungen vorhanden sind. Nachzuweisen, daß die Stellungnahme der Sozialdemokratie zum Kriege nicht die Folge einer - momentanen - Abirrung, Feigheit usw. gewesen ist, sondern eine notwendige Folge der bisherigen Entwicklung. Daß also diese Stellungnahme aus der Geschichte der Arbeiterbewegung zu verstehen, daß sie im Zusammenhange mit den bisherigen "Meinungsverschiedenheiten selbst bei dem revolutionären Flügel der Arbeiterbewegung schwer durchgedrungen. Selbst die Gruppe der "Internationale", die Gruppe Rosa Luxemburgs und Franz Mehrings war nicht imstande, diesen methodischen Gesichtspunkt konsequent zu Ende zu denken und anzuwenden. Es ist aber klar, daß jede Verurteilung des Opportunismus und seiner Stellungnahme dem Krieg gegenüber, die den Opportunismus nicht als eine geschichtlich zu erkennende Strömung in der Arbeiterbewegung auffaßt und ihre Gegenwart als organisch gewachsenen Frucht aus ihrer Vergangenheit ableitet, sich weder auf eine wirklich prinzipielle Höhe der marxistischen Diskussion zu erheben, noch die konkret-praktischen, die im Moment des Handelns notwendigen, taktisch-organisatorischen Folgerungen aus dieser Verurteilung zu ziehen vermag.

    Für Lenin, und wiederum für Lenin allein, war es vom Ausbruch des Weltkrieges an klar, daß das Verhalten von Scheidemann-Plechanow-Vandervelde usw. dem Weltkrieg gegenüber nichts anderes ist als die folgerichtige Anwendung der Prinzipien des Revisionismus auf die gegenwärtige Lage.

    Worin besteht aber - kurz gefaßt - das Wesen des Revisionismus? Erstens darin, daß er die "Einseitigkeit" des historischen Materialismus: sämtliche Phänomene des geschichtlich-gesellschaftlichen Geschehens ausschließlich vom Klassenstandpunkt des Proletariats zu betrachten, zu überwinden versucht. Er wählt als Standpunkt die Interessen der "ganzen Gesellschafft" Da es aber solche Gesamtinteressen - konkret betrachtet - gar nicht gibt, da das, was als solches erscheinen könnte, nichts weiter ist als eine momentane Resultante des kämpfenden Aufeinanderwirkens der verschiedenen Klassenkräfte, faßt der Revisionist das sich stets wandelnde Resultat des Geschichtsprozesses als den immer gleichen methodischen Ausgangspunkt auf. Er stellt damit die Dinge auch theoretisch auf den Kopf. Praktisch ist sein Wesen schon wegen dieses theoretischen Ausgangspunktes stets und notwendig ein Kompromiß. Der Revisionismus ist immer eklektisch; das heißt, er versucht - schon theoretisch - die Klassengegensätze aneinander abzustumpfen, auszugleichen und ihre auf den Kopf gestellte, nur in seinem Kopf vorhandene - Einheit zum Maßstab der Beurteilung der Geschehnisse zu machen.

    Aus diesem Grunde verwirft der Revisionist - zweitens - die Dialektik. Denn die Dialektik ist nichts anderes als der begriffliche Ausdruck dafür, daß die Entwicklung der Gesellschaft sich in der Wirklichkeit in Gegensätzen bewegt, daß diese Gegensätze (die Gegensätze der Klassen, das antagonistische Wesen ihres ökonomischen Seins usw.) die Grundlage und der Kern alles Geschehens sind und eine 'Einheit' der Gesellschaft, solange sie auf Klassenschichtung beruht, immer nur ein abstrakter Begriff, ein - stets vorübergehendes - Resultat des Aufeinanderwirkens dieser Gegensätze sein kann. Da aber die Dialektik als Methode nur die theoretische Formulierung jenes gesellschaftlichen Tatbestandes ist, daß die Gesellschaft sich in Gegensätzen, im Umschlagen aus einem Gegensatz in den anderen, also revolutionär fortentwickelt, bedeutet das theoretische Verwerfen der Dialektik notwendig ein prinzipielles Brechen mit jedem revolutionären Verhalten.

    Indem die Revisionisten auf diese Weise - drittens - sich weigern, das Vorhandensein der Dialektik mit ihrer Bewegung in Gegensätzen, die eben darum stets Neues hervorbringt, als in der Wirklichkeit vorhanden, anzuerkennen, verschwindet aus ihrem Denken das Geschichtliche, das Konkrete, das Neue. Die Wirklichkeit, die sie erleben, ist schematisch-mechanisch wirkenden, "ewigen, ehernen Gesetzen" unterworfen, die ununterbrochen - dem Wesen nach - dasselbe produzieren, denen der Mensch, ebenso wie den Naturgesetzen fatalistisch unterworfen ist. Es genügt also, diese Gesetze ein für allemal zu kennen, um zu wissen, wie sich das Schicksal des Proletariats entwickeln wird. Die Annahme, daß es neue, von diesen Gesetzen nicht erfaßte Lagen geben könnte, oder solche, wo die Entscheidung vom Entschluß des Proletariats abhängt, ist für den Revisionisten unwissenschaftlich. (Die Überschätzung der großen Individualität, der Ethik usw. sind nur die notwendigen Gegenpole dieser Auffassung.)

    Diese Gesetze sind aber - viertens - die Gesetze der kapitalistischen Entwicklung, und das Betonen ihrer überhistorisch-zeitlosen Geltung bedeutet, daß für den Revisionisten die kapitalistische Gesellschaft ebenso die Wirklichkeit, die sich im wesentliehen nicht verändern kann, ist wie für die Bourgeoisie. Der Revisionist betrachtet die bürgerliche Gesellschaft nicht mehr als etwas geschichtlich Entstandenes und darum geschichtlich zum Untergang Verurteiltes, auch die Wissenschaft nicht als Mittel, die Epoche dieses Unterganges zu erkennen und auf seine Beschleunigung hinzuarbeiten, sondern - bestenfalls - als Mittel, um die Stellung des Proletariats innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft zu verbessern. Jedes Denken, das praktisch über den Horizont der bürgerlichen Gesellschaft hinausweist, ist für den Revisionismus illusionistisch, ein Utopismus.

    Der Revisionismus ist deshalb - fünftens - "realpolitisch" eingestellt. Er opfert stets die wirklichen Interessen der Gesamtklasse, deren konsequente Vertretung er eben Utopismus nennt, um die Tagesinteressen einzelner Gruppen vertreten zu können. Und es ist - selbst aus diesen wenigen Bemerkungen - klar, daß der Revisionismus nur darum zu einer wirklichen Strömung in der Arbeiterbewegung werden konnte, weil die neue Entwicklung des Kapitalismus es gewissen Arbeiterschichten möglich macht - vorübergehend - ökonomische Vorteile aus dieser Lage Zu gewinnen. Und weil die Organisationsform der Arbeiterparteien diesen Schichten und ihren intellektuellen Vertretern einen größeren Einfluß zusichert als den - wenn auch unklar und bloß instinktiv - revolutionären breiten Massen des Proletariats.

    Das Gemeinsame aller opportunistischen Strömungen, daß sie die Ereignisse niemals vom Klassenstandpunkt des Proletariats betrachten und deshalb in eine unhistorische und undialektische, eklektische "Realpolitik" verfallen, verbindet ihre verschiedenen Auffassungen des Krieges miteinander und zeigt sie zugleich ausnahmslos als notwendige Folgen des bisherigen Opportunismus, Die bedingungslose Gefolgschaft, die der rechte Flügel den imperialistischen Mächten des "eigenen" Landes leistet, erwächst organisch aus der Anschauung, die - wenn auch anfangs mit noch soviel Vorbehalten - die Bourgeoisie als die führende Klasse der geschichtlichen Entwicklung ansieht und dem Proletariat die Unterstützung ihrer "progressiven Rolle" zuweist. Und wenn Kautsky die Internationale als für den Krieg untaugliches, als bloßes Friedensinstrument bezeichnet, was sagt er anderes als der russische Menschewik Tscherewanin, der nach der ersten russischen Revolution in Lamentationen ausbricht: "Doch im revolutionären Feuer, wo die revolutionären Ziele ihrer Verwirklichung so nahe erscheinen, läßt sich nur schwer ein Weg bahnen für eine vernünftige menschewistische Taktik" usw.

    Der Opportunismus differenziert sich nach den Schichten der Bourgeoisie, bei denen er Anlehnung sucht, in deren Gefolgschaft er das Proletariat zu bringen versucht. Dies kann, wie beim rechten Flügel, die Schwerindustrie und das Bankkapital sein. In diesem Fall wird der Imperialismus bedingungslos als notwendig anerkannt. Das Proletariat soll die Erfüllung seiner Interessen im imperialistischen Krieg, in der Größe, im Sieg der "eigenen" Nation finden. Oder es kann an jene Schichten der Bourgeoisie der Anschluß gesucht werden, die die Entwicklung zwar mitzumachen gezwungen sind, jedoch fühlen, daß sie in den zweiten Plan gedrängt werden; die deshalb dem Imperialismus zwar praktisch Gefolgschaft leisten (und leisten müssen), jedoch gegen diesen Zwang murren und eine andere Wendung der Dinge "wünschen"; die aus diesem Grunde den baldigen Frieden, den Freihandel, die Wiederkehr "normaler" Zustände usw. herbeisehnen. Dabei aber selbstredend niemals als aktive Gegner des Imperialismus aufzutreten imstande sind. Im Gegenteil, bloß einen - vergeblichen - Kampf um ihren Anteil an der imperialistischen Beute führen. (Teile der Fertigindustrie, das Kleinbürgertum usw.) Aus dieser Perspektive erscheint der Imperialismus als "zufällig"; es wird versucht auf eine pazifistische Lösung, auf ein Abstumpfen der Gegensätze hinzuarbeiten. Und das Proletariat - aus dem das Zentrum eine Gefolgschaft dieser Schichten machen will - soll auch nicht aktiv gegen den Krieg kämpfen. (Aber nicht kämpfen heißt: praktisch an dem Krieg teilnehmen.) Es soll bloß die Notwendigkeit eines "gerechten" Friedens verkünden usw.

    Die Internationale ist der organische Ausdruck für die Interessengemeinschaft des gesamten Weltproletariats. In dem Augenblick, wo es als theoretisch möglich anerkannt wird, daß Arbeiter gegen Arbeiter im Dienste der Bourgeoisie kämpfen, hat die Internationale praktisch aufgehört zu existieren. Und in dem Augenblick, wo es eingesehen werden muß, daß dieser blutige Kampf von Arbeiter gegen Arbeiter in Gefolgschaft der rivalisierenden imperialistischen Mächte eine notwendige Folge des bisherigen Verhaltens der entscheidenden Elemente der Internationale ist, kann von ihrer Wiedererrichtung, von ihrem Zurückführen auf den richtigen Weg, von ihrer Wiederherstellung keine Rede mehr sein. Die Erkenntnis des Opportunismus als Strömung bedeutet, daß der Opportunismus der Klassenfeind des Proletariats im eigenen Lager ist. Die Entfernung der Opportunisten aus der Arbeiterbewegung ist also die erste, unerläßliche Vorbedingung der erfolgreichen Aufnahme des Kampfes gegen die Bourgeoisie. Zur Vorbereitung der proletarischen von diesem, sie ins Verderben führenden Einfluß geistig wie organisatorisch befreit werden. Und da dieser Kampf eben der Kampf der Gesamtklasse gegen die Weltbourgeoisie ist, so erwächst aus dem Kampf gegen den Opportunismus als Strömung die notwendige Folge: die Schaffung einer neuen proletarisch-revolutionären Internationale.

    Das Versinken der alten Internationale im Sumpf des Opportunismus ist die Folge einer Epoche, deren revolutionärer Charakter nicht auf der Oberfläche sichtbar gewesen ist. Ihr Zusammenbrechen, die Notwendigkeit einer neuen Internationale ist ein Zeichen dessen, daß der Eintritt in die Epoche der Bürgerkriege nunmehr unvermeidlich wurde. Dies bedeutet keineswegs, daß sofort und jeden Tag auf den Barrikaden gekämpft werden soll. Es bedeutet aber, daß diese Notwendigkeit sofort, jeden Tag eintreten kann; daß die Geschichte den Bürgerkrieg auf die Tagesordnung gestellt hat. Und eine Partei des Proletariats und gar eine Internationale kann nur dann lebensfähig sein, wenn sie diese Notwendigkeit klar erkennt und das Proletariat auf sie und ihre Folgen geistig und materiell, theoretisch und organisatorisch vorzubereiten entschlossen ist.

    Diese Vorbereitung muß bei der Erkenntnis des Charakters der Epoche ihren Ausgangspunkt nehmen. Erst indem die Arbeiterklasse den Weltkrieg als die notwendige Folge der imperialistischen Entwicklung des Kapitalismus erkennt; indem es ihr klar wird, daß der Bürgerkrieg ihre einzig mögliche Abwehr gegen ihr Zugrundegehen im Dienste des Imperialismus ist, kann die materielle und organisatorische Vorbereitung dieser Abwehr beginnen. Und erst indem diese Abwehr wirksam wird, wird die dumpfe Gärung aller Unterdrückten zum Verbündeten des sich befreienden Proletariats. Das Proletariat muß also vorerst sein eigenes richtiges Klassenbewußtsein in unverhüllt sichtbarer Gestalt vor Augen haben, um mit seiner Hilfe zum Führer des wahren Befreiungskampfes, der wirklichen Weltrevolution zu werden. Die Internationale, die aus diesem Kampfe, für diesen Kampf entsteht, ist demnach die theoretisch-klare, kampffähig-feste Vereinigung der wirklich revolutionären Elemente der Arbeiterklasse; zugleich jedoch das Organ und der Mittelpunkt für den Befreiungskampf aller Unterdrückten der ganzen Welt. Sie ist die bolschewistische Partei. Lenins Parteikonzeption im Weltmaßstabe. So wie der Weltkrieg selbst im Makrokosmos einer gigantischen Weltzerstörung jene Mächte des untergehenden Kapitalismus und jene Möglichkeiten des Kampfes gegen ihn gezeigt hat, die Lenin im Mikrokosmos des entstehenden russischen Kapitalismus, in den Möglichkeiten der russischen Revolution bereits ganz klar erblickt hat.

    V. Der Staat als Waffe

    Das revolutionäre Wesen einer Epoche äußert sich am sichtbarsten darin, daß der Kampf der Klassen und Parteien nicht mehr den Charakter eines Kampfes innerhalb einer bestimmten Staatsordnung besitzt, sondern ihre Grenzen zu sprengen beginnt, über ihre Grenzen hinausweist. Einerseits erscheint er als Kampf um die Staatsmacht, anderseits und zugleich wird der Staat selbst - offenkundig - zum Teilnehmer des Kampfes gemacht. Es wird nicht nur gegen den Staat gekämpft, sondern der Staat selbst enthüllt seinen Charakter als Waffe des Klassenkampfes, als eines der wichtigsten Instrumente für die Aufrechterhaltung der Klassenherrschaft.

    Dieser Charakter des Staates ist von Marx und Engels stets erkannt und in allen seinen Beziehungen zur geschichtlichen Entwicklung, zur proletarischen Revolution untersucht worden. Marx und Engels haben in ganz unmißverstehbarer Weise die theoretischen Grundlagen einer Staatstheorie im Rahmen des historischen Materialismus niedergelegt. Der Opportunismus hat sich aber gerade hier - konsequenterweise - am weitesten von Marx und Engels entfernt. Denn auf jedem anderen Punkt war es möglich, entweder die "Revision" von einzelnen ökonomischen Theorien so darzustellen, als ob ihre Grundlage mit dem Wesen der Methode von Marx doch übereinstimmen würde (Richtung Bernstein), oder den "orthodox" festgehaltenen ökonomischen Lehren eine mechanistisch-fatalistische, eine undialektisch-unrevolutionäre Wendung zu geben (Richtung Kautsky). Aber das bloße Aufwerfen jener Probleme, die Marx und Engels als Grundfragen ihrer Staatstheorie betrachtet haben, bedeutet schon das Anerkennen der Aktualität der proletarischen Revolution. Der Opportunismus aller in der II. Internationale herrschenden Tendenzen offenbart sich am deutlichsten darin, daß keine sich ernsthaft mit dem Problem des Staates befaßt hat; hier - am entscheidenden Punkte - ist zwischen Kautsky und Bernstein kein Unterschied. Sie haben alle, ausnahmslos, den Staat der bürgerlichen Gesellschaft einfach hingenommen. Und wenn sie ihn kritisiert haben, so sollten dadurch bloß einzelne, für das Proletariat schädliche Erscheinungsformen, Äußerungsweisen des Staates bekämpft werden. Der Staat wurde ausschließlich vom Standpunkt partikularer Tagesinteressen betrachtet, niemals aber wurde sein Wesen vom Standpunkt der Gesamtklasse des Proletariats untersucht und bewertet. Und die revolutionäre Unreife und Unklarheit des linken Flügels der II. Internationale zeigt sich ebenfalls darin, daß auch er außerstande war, das Problem des Staates klarzustellen. Er kam zuweilen bis zum Problem der Revolution, bis zum Problem des Kampfes gegen den Staat, ohne aber imstande zu sein, die Frage - selbst rein theoretisch - konkret zu stellen, geschweige denn ihre konkreten Folgen in der aktuellen geschichtlichen Wirklichkeit praktisch aufzuweisen.

    Auch hier ist Lenin der einzige gewesen, der die theoretische Höhe der Marxschen Auffassung, die Reinheit der proletarisch-revolutionären Stellungnahme zum Problem des Staates wieder erreicht hat. Und wenn seine Leistung nur hierin bestünde, so wäre sie schon eine theoretische Leistung von hohem Range. Aber diese Wiederherstellung der Marxschen Staatstheorie ist bei Lenin weder eine philologische Wiederherstellung der ursprünglichen Lehre noch eine philosophische Systematisation ihrer echten Prinzipien, sondern - wie überall - ihre Weiterführung ins Konkrete, ihre Konkretisierung ins Aktuell-Praktische. Lenin hat die Staatsfrage als Tagesfrage des kämpfenden Proletariats erkannt und dargestellt. Er hat schon damit - um vorerst bei der Bedeutung dieser bloßen Fragestellung zu bleiben - den Weg zur entscheidenden Konkretisierung der Frage beschritten. Denn die objektive Möglichkeit für die opportunistische Verschleierung der sonnenklaren Staatstheorie des historischen Materialismus lag darin, daß diese Theorie vor Lenin nur als allgemeine Theorie, als geschichtliche, ökonomische, philosophische usw. Erklärung des Wesens des Staates aufgefaßt wurde. Wohl haben Marx und Engels an den konkreten revolutionären Erscheinungen ihrer Zeit den realen Fortschritt des proletarischen Staatsgedankens abgelesen (Kommune); wohl haben sie scharf auf jene Fehler hingewiesen, die die falschen Staatstheorien für die Führung des proletarischen Klassenkampfes bedeuten (Kritik des Gothaer Programmes). Jedoch selbst ihre unmittelbarsten Schüler, die besten Führer dieser Zeit haben den Zusammenhang des Staatsproblems mit ihrer Tagesarbeit nicht erfaßt. Dazu war eben damals das theoretische Genie von Marx und Engels nötig, um das bloß im weltgeschichtlichen Sinne Aktuelle in diesem Zusammenhang mit den kleinen Kämpfen des Alltags zu sehen. Und das Proletariat war selbstredend noch weniger imstande, dieses Kernproblem mit den ihm unmittelbar erscheinenden Problemen seiner Tageskämpfe organisch zu verknüpfen. Das Problem erhielt immer mehr den Akzent einer "Endzielfrage", deren Entscheidung der Zukunft vorbehalten bleiben darf.

    Erst durch Lenin ist die "Zukunft" auch theoretisch zur Gegenwart geworden. Aber erst wenn die Staatsfrage als Tagesproblem erkannt wird, wird es dem Proletariate möglich, den kapitalistischen Staat in konkreter Weise nicht mehr als seine unabänderliche natürliche Umwelt, als die für sein gegenwärtiges Dasein einzig mögliche Ordnung der Gesellschaft zu betrachten. Erst diese Stellungnahme zum bürgerlichen Staat gibt dem Proletariat die theoretische Unbefangenheit dem Staat gegenüber, macht sein Verhalten ihm gegenüber zu einer rein taktischen Frage. Es ist zum Beispiel ohne weiters einleuchtend, daß sowohl hinter der Taktik einer Legalität um jeden Preis wie hinter der einer Romantik der Illegalität derselbe Mangel an theoretischer Unbefangenheit dem bürgerlichen Staate gegenüber verborgen ist. Der bürgerliche Staat wird nicht als Instrument des Klassenkampfes der Bourgeoisie betrachtet, mit dem als mit einem realen Machtfaktor, aber nur als mit einem realen Machtfaktor zu rechnen ist; dessen Respektieren zu einer Frage der bloßen Zweckmäßigkeit herabsinkt.

    Aber die Leninsche Analyse des Staates als Waffe des Klassenkampfes konkretisiert die Frage noch viel weiter. Es werden nämlich nicht nur die unmittelbar praktischen (taktischen, ideologischen usw.) Konsequenzen der richtigen geschichtlichen Erkenntnis des bürgerlichen Staates herausgearbeitet, sondern die Umrisse des proletarischen Staates erscheinen zugleich konkret und mit den anderen Kampfmitteln des Proletariats organisch verbunden. Die traditionelle Arbeitsteilung der Arbeiterbewegung (Partei, Gewerkschaft, Genossenschaft) erweist sich heute als unzureichend für den revolutionären Kampf des Proletariats. Es erscheint als notwendig, daß Organe entstehen, die imstande sind, das ganze Proletariat und darüber hinaus alle Ausgebeuteten der kapitalistischen Gesellschaft (Bauern, Soldaten) in ihren großen Massen zu erfassen und in den Kampf zu führen. Diese Organe, die Sowjets, sind jedoch ihrem Wesen nach - bereits innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft - Organe des sich zur Klasse organisierenden Proletariats. Damit ist aber die Revolution auf die Tagesordnung gestellt. Denn wie Marx sagt: "Die Organisation der revolutionären Elemente als Klasse setzt die fertige Existenz aller Produktionskräfte voraus, die sich überhaupt im Schoß der alten Gesellschaft entfalten konnten."

    Diese Organisation der Gesamtklasse muß - ob sie es will oder nicht - den Kampf gegen den Staatsapparat der Bourgeoisie aufnehmen. Hier gibt es keine Wahl: entweder desorganisieren die proletarischen Räte den bürgerlichen Staatsapparat, oder es gelingt diesem, die Räte zu einem Scheindasein zu korrumpieren und sie damit absterben zu lassen. Es entsteht eine Lage, in der entweder die Bourgeoisie ein konterrevolutionäres Unterdrücken der revolutionären Massenbewegung zustande bringt und die "normalen" Zustände, die "Ordnung" wiederherstellt, oder aber aus den Räten, den Kampforganisationen des Proletariats seine Herrrschaftsorganisation, sein Staatsapparat, der ja ebenfalls eine Klassenkampforganisation ist, entsteht. Die Arbeiterräte zeigen selbst in ihren allerersten, unentwickeltsten Formen schon 1905 diesen Charakter: sie sind eine Gegenregierung. Während sich andere Organe des Klassenkampfes auch an eine Zeit der unbestrittenen Herrschaft der Bourgeoisie taktisch anpassen, das heißt, unter diesen Umständen revolutionär arbeiten können, gehört es zum Wesen des Arbeiterrates, zu der Staatsmacht der Bourgeoisie im Verhältnis einer mit ihr konkurrierenden Doppelregierung zu stehen. Wenn also etwa Martow die Räte als Kampforgane anerkennt, jedoch ihre Eignung, Staatsapparat zu werden, leugnet, so hat er gerade die Revolution, die reale Machtergreifung des Proletariats aus der Theorie entfernt. Wenn dagegen einzelne extrem-linke Theoretiker aus dem Arbeiterrat eine permanente Klassenorganisation des Proletariats machen und durch sie Partei und Gewerkschaft ersetzen wollen, so zeigen sie, daß sie den Unterschied von revolutionären und nichtrevolutionären Situationen nicht begreifen und daß sie mit der eigentlichen Funktion der Arbeiterräte nicht im klaren sind. Nicht wissen, daß zwar die bloße Erkenntnis der konkreten Möglichkeit von Arbeiterräten über die bürgerliche Gesellschaft hinausweist, eine Perspektive der proletarischen Revolution ist (daß der Arbeiterrat deshalb im Proletariate ununterbrochen propagiert, das Proletariat auf diese Aufgabe ununterbrochen vorbereitet werden muß), daß aber ihr wirkliches Dasein - wenn es keine Farce sein soll - bereits den ernsten Kampf um die Staatsmacht, den Bürgerkrieg bedeutet.

    Der Arbeiterrat als Staatsapparat: das ist der Staat als Waffe im Klassenkampf des Proletariats. Die undialektische und darum unhistorische und unrevolutionäre Auffassung des Opportunismus hat aus der Tatsache, daß das Proletariat die Klassenherrschaft der Bourgeoisie bekämpft, daß es eine klassenlose Gesellschaft herbeizuführen bestrebt ist, die Folgerung gezogen, daß das Proletariat, als Bekämpfer der Klassenherrschaft der Bourgeoisie, Bekämpfer einer jeden Klassenherrschaft sein müsse; daß deshalb seine eigenen Herrschaftsformen unter keinen Umständen Organe der Klassenherrschaft, der Klassenunterdrückung sein dürfen. Diese Grundanschauung ist abstrakt angesehen eine Utopie, denn eine derartige Herrschaft des Proletariats kann niemals real eintreten. Sie erweist sich aber, sobald sie konkreter gefaßt und auf die Gegenwart angewendet wird, als 1. ideologische Kapitulation vor der Bourgeoisie. Die entwickeltste Herrschaftsform der Bourgeoisie, die Demokratie erscheint für diese Auffassung zumindest als eine Vorform einer proletarischen Demokratie, zumeist jedoch als diese Demokratie selbst, in der bloß - durch friedliche Agitation - dafür gesorgt werden muß, daß die Mehrheit der Bevölkerung für die "Ideale" der Sozialdemokratie gewonnen werde. Der Übergang aus der bürgerlichen Demokratie in die proletarische Demokratie ist also nicht notwendig revolutionär. Revolutionär ist bloß der Übergang aus rückständigen Staatsformen in die Demokratie; unter Umständen ist eine revolutionäre Verteidigung der Demokratie gegen die soziale Reaktion notwendig. (Wie unrichtig und konterrevolutionär diese mechanische Trennung der proletarischen Revolution von der bürgerlichen ist, zeigt sich praktisch darin, daß die Sozialdemokratie nirgends einer faschistischen Reaktion ernsthaften Widerstand geleistet und die Demokratie revolutionär verteidigt hat.)

    Infolge dieser Anschauung wird aber nicht bloß die Revolution aus der geschichtlichen Entwicklung entfernt und diese durch allerhand plump oder fein konstruierte Übergänge als ein "Hineinwachsen" in den Sozialismus dargestellt, sondern es muß auch der bürgerliche Klassencharakter der Demokratie für das Proletariat verdunkelt werden. Das Moment der Täuschung liegt in dem undialektisch gefaßten Begriff der Mehrheit. Da nämlich die Herrschaft der Arbeiterklasse ihrem Wesen nach die Interessen der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung vertritt, entsteht in vielen Arbeitern sehr leicht die Illusion, als ob eine reine, formale Demokratie, in der die Stimme eines jeden Staatsbürgers in gleicher Weise zur Geltung kommt, das geeignetste Instrument wäre, die Interessen der Gesamtheit auszudrücken und zu vertreten. Hierbei wird aber bloß - bloß! - die Kleinigkeit außer acht gelassen, daß die Menschen eben nicht abstrakte Individuen, abstrakte Staatsbürger, isolierte Atome eines Staatsganzen sind, sondern ohne Ausnahme konkrete Menschen, die einen bestimmten Platz in der gesellschaftlichen Produktion einnehmen, deren gesellschaftliches Sein (und dadurch vermittelt ihr Denken usw.) von dieser Stellung aus bestimmt ist. Die reine Demokratie der bürgerlichen Gesellschaft schaltet nun diese Vermittlung aus: sie verbindet unmittelbar das bloße, das abstrakte Individuum mit dem - in diesem Zusammenhang ebenso abstrakt erscheinenden - Staatsganzen. Schon durch diesen formalen Grundcharakter der reinen Demokratie wird die bürgerliche Gesellschaft politisch pulverisiert. Was nicht einen bloßen Vorteil für die Bourgeoisie bedeutet, sondern geradezu die entscheidende Voraussetzung ihrer Klassenherrschaft ist.

    Denn so sehr eine jede Klassenherrschaft letzten Endes auf Gewalt aufgebaut ist, so gibt es doch keine Klassenherrschaft, die sich auf die Dauer durch bloße Gewalt zu halten vermöchte. "Man kann", hat schon Talleyrand gesagt, "mit den Bajonetten alles mögliche anfangen, nur kann man sich nicht auf sie setzen." Jede Minderheitsherrschaft ist also sozial in einer Weise organisiert, die die herrschende Klasse konzentriert und zum einheitlich-geschlossenen Auftreten tauglich macht und zugleich die unterdrückten Klassen desorganisiert und zersplittert. Bei der Minderheitsherrschaft der modernen Bourgeoisie muß nun stets vor Augen gehalten werden, daß die große Mehrheit der Bevölkerung zu keiner der im Klassenkampf ausschlaggebenden Klassen, weder zum Proletariat noch zur Bourgeoisie gehört; daß mithin die reine Demokratie die soziale, klassenmäßige Funktion hat, der Bourgeoisie die Führung dieser Zwischenschichten zu sichern. (Dazu gehört selbstredend auch die ideologische Desorganisation des Proletariats. je älter die Demokratie in einem Lande ist, je reiner sie sich entwickelt hat, desto größer ist diese ideologische Desorganisation; wie man dies in England und Amerika am deutlichsten sehen kann.) Freilich würde eine solche politische Demokratie allein für diesen Zweck keineswegs ausreichen. Sie ist aber auch nur der politische Gipfelpunkt eines gesellschaftlichen Systems, dessen andere Glieder: die ideologische Trennung von Wirtschaft und Politik, die Schaffung eines bureaukratischen Staatsapparats, der große Teile des Kleinbürgertums an dem Bestand des Staates materiell und moralisch interessiert macht, das bürgerliche Parteiwesen, Presse, Schule, Religion usw. sind. Sie alle verfolgen - in einer mehr oder minder bewußten Arbeitsteilung - den Zweck: das Entstehen einer selbständigen, die eigenen Klasseninteressen aussprechenden Ideologie in den unterdrückten Klassen der Bevölkerung zu verhindern; die einzelnen "Staatsbürger" usw. mit dem abstrakten - über den Klassen thronenden - Staate in Verbindung zu setzen; diese Klassen als Klassen zu desorganisieren, in von der Bourgeoisie leicht lenkbare Atome zu pulverisieren.

    Die Erkenntnis, daß die Räte (die Räte der Arbeiter und der Bauern und der Soldaten) die Staatsmacht des Proletariats sind, bedeutet den Versuch des Proletariats als der führenden Klasse der Revolution, diesem Desorganisationsprozeß entgegen zu arbeiten. Es muß vorerst sich selbst als Klasse konstituieren. Es will aber daneben die aktiven, sich gegen die Herrschaft der Bourgeoisie instinktiv auflehnenden Elemente der Zwischenschichten ebenfalls zur Aktivität organisieren. Zugleich aber soll für die anderen Teile dieser Klassen der Einfluß der Bourgeoisie materiell wie ideologisch gebrochen werden. Klügere Opportunisten, wie zum Beispiel Otto Bauer, haben auch erkannt, daß der soziale Sinn der Diktatur des Proletariats, der Diktatur der Räte zum großen Teil darin liegt: der Bourgeoisie die Möglichkeit einer ideologischen Führung dieser Klassen, speziell der Bauern, radikal zu entreißen und diese Führung für die Übergangszeit dem Proletariate zu sichern. Die Unterdrückung der Bourgeoisie, das Zerschlagen ihres Staatsapparates, das Vernichten ihrer Presse usw. ist eine Lebensnotwendigkeit für die proletarische Revolution, weil die Bourgeoisie nach ihren ersten Niederlagen im Kampfe um die Staatsmacht keineswegs auf das Wiedererlangen ihrer ökonomisch wie politisch führenden Rolle verzichtet und sogar in dem so unter veränderten Bedingungen weitergeführten Klassenkampfe noch lange Zeit die mächtigere Klasse bleibt.

    Das Proletariat setzt also mit Hilfe des Rätesystems als Staat denselben Kampf fort, den es früher um die Staatsmacht, gegen die kapitalistische Staatsmacht geführt hat. Es muß die Bourgeoisie ökonomisch vernichten, politisch isolieren, ideologisch zersetzen und unterwerfen. Es muß aber gleichzeitig allen anderen Schichten der Gesellschaft, die das Proletariat aus dem Geführtsein von der Bourgeoisie herausreißt, ein Führer zur Freiheit werden. Das heißt, es genügt nicht, daß das Proletariat objektiv ihr die Interessen der anderen ausgebeuteten Schichten kämpfe. Seine Staatsform muß auch dazu dienen, um die Dumpfheit und Zersplitterung dieser Schichten erzieherisch zu überwinden, sie zur Aktivität, zur selbständigen Teilnahme am Staatsleben zu erziehen. Es ist eine der vornehmsten Funktionen des Rätesystems, jene Momente des gesellschaftlichen Lebens, die der Kapitalismus zerreißt, zu verbinden. Dort, wo dieses Zerreißen bloß im Bewußtsein der unterdrückten Klassen liegt, muß ihnen die Verbundenheit dieser Momente bewußt gemacht werden. Das Rätesystem bildet zum Beispiel stets eine untrennbare Einheit von Wirtschaft und Politik; es verknüpft auf diese Weise das unmittelbare Dasein der Menschen, ihre unmittelbaren Tagesinteressen usw. mit den entscheidenden Fragen der Gesamtheit. Es stellt aber auch in der objektiven Wirklichkeit die Einheit dort her, wo die Klasseninteressen der Bourgeoisie eine "Arbeitsteilung" zustande gebracht haben. So vor allem die Einheit zwischen "Machtapparat" (Armee, Polizei, Verwaltung, Gericht usw.) und "Volk". Die bewaffneten Bauern und Arbeiter als Staatsmacht sind zugleich Produkte des Kampfes der Räte und Voraussetzung ihrer Existenz. Das Rätesystem versucht eben überall die Aktivität der Menschen mit den allgemeinen Fragen des Staates, der Wirtschaft, der Kultur usw. zu verknüpfen, indem es dagegen ankämpft, daß die Verwaltung all dieser Fragen das Privileg einer geschlossenen, vom Gesamtleben der Gesellschaft isolierten - bureaukratischen - Schicht werde. Indem das Rätesystem, der proletarische Staat auf diese Weise den realen Zusammenhang aller Momente des gesellschaftlichen Lebens für die Gesellschaft bewußt macht (und in einem späteren Stadium: auch heute objektiv Getrenntes - zum Beispiel Stadt und Land, geistige und physische Arbeit usw. - objektiv vereinigt), ist es ein entscheidender Faktor in der Organisation des Proletariats zur Klasse. Das, was im Proletariate in der kapitalistischen Gesellschaft nur als Möglichkeit vorhanden war, erwächst erst hier zur wirklichen Existenz; die eigentliche produktive Energie des Proletariats kann erst nach dem Ergreifen der Staatsmacht erwachen. Was aber für das Proletariat gilt, gilt auch für die anderen unterdrückten Schichten der bürgerlichen Gesellschaft. Auch sie können sich erst in diesem Zusammenhang zum Leben entwickeln, nur daß sie auch in dieser Staatsordnung Geführte bleiben. Freilich bestand ihr Geführtsein im Kapitalismus darin, daß sie ihrer eigenen ökonomisch-sozialen Zersetzung, Ausbeutung und Unterdrückung nicht bewußt zu werden vermochten. Dagegen können sie jetzt - unter Führung des Proletariats nicht nur ihren eigenen Interessen gemäß leben, sondern auch zur Entfaltung ihrer bis dahin verborgenen oder verkrüppelten Energien gelangen. Ihr Geführtsein äußert sich bloß darin, daß der Rahmen und die Richtung dieser Entwicklung vom Proletariat, als der führenden Klasse der Revolution, bestimmt wird.

    Das Geführtsein der nicht proletarischen Zwischenschichten unterscheidet sich also im proletarischen Staate materiell sehr wesentlich von ihrem Geführtsein in der bürgerlichen Gesellschaft. Daneben besteht aber noch ein nicht unwesentlicher formaler Unterschied: der proletarische Staat ist der erste Klassenstaat in der Geschichte, der sich ganz offen und ungeheuchelt als Klassenstaat, als Unterdrückungsapparat, als Instrument des Klassenkampfes bekennt. Diese rückhaltlose Offenheit, dieser Mangel an Heuchelei macht erst die wirkliche Verständigung zwischen Proletariat und anderen Schichten der Gesellschaft möglich. Es ist aber noch darüber hinaus ein ungeheuer wichtiges Mittel der Selbsterziehung für das Proletariat. Denn so unendlich wichtig es gewesen ist, im Proletariate das Bewußtsein zu erwecken, daß die Phase der entscheidenden revolutionären Kämpfe da ist, daß der Kampf um die Staatsmacht, um die Führung der Gesellschaft bereits entbrannt ist, so gefährlich wäre es, diese Wahrheit undialektisch erstarren zu lassen. Es wäre also sehr gefährlich, wenn das Proletariat, indem es sich aus der Ideologie des Klassenkampfpazifismus befreit, indem es die geschichtliche Bedeutung, die Unerläßlichkeit der Gewalt begreift, sich nun einbilden würde: sämtliche Probleme der Herrschaft des Proletariats ließen sich unter allen Umständen mit Gewalt erledigen. Aber noch gefährlicher wäre es, wenn etwa die Vorstellung im Proletariate aufkäme, daß mit der Eroberung der Staatsmacht der Klassenkampf zu Ende geführt oder wenigstens zu einem Stillstand gekommen sei. Das Proletariat muß begreifen, daß die Eroberung der Staatsmacht nur eine Phase in diesem Kampfe ist. Der Kampf nach der Eroberung der Staatsmacht wird nur noch heftiger, und man kann keineswegs behaupten, daß die Kräfteverhältnisse sich sogleich und entscheidend zugunsten des Proletariats verschoben hätten. Lenin wiederholt unermüdlich, daß die Bourgeoisie auch im Anfang der Räterepublik, auch nach ihrer ökonomischen Expropriation, auch während ihrer politischen Unterdrückung noch immer die mächtigere Klasse bleibt. Aber die Kräfteverhältnisse haben sich insofern verschoben, als das Proletariat eine neue, mächtige Waffe für seinen Klassenkampf erobert hat: den Staat. Freilich: der Wert dieser Waffe, ihre Fähigkeit, die Bourgeoisie zu zersetzen, zu isolieren, zu vernichten, die anderen Schichten der Gesellschaft zur Mitarbeit am Staate der Arbeiter und Bauern zu gewinnen und zu erziehen, das Proletariat selbst wirklich zur führenden Klasse zu organisieren, ist mit der bloßen Eroberung keineswegs automatisch gegeben, noch entwickelt sich der Staat als Kampfmittel zwangsläufig aus dem bloßen Faktum der Eroberung der Staatsmacht. Der Wert des Staates als Waffe für das Proletariat hängt davon ab, was das Proletariat aus ihm zu machen imstande sein wird.

    Die Aktualität der Revolution drückt sich in der Aktualität des Staatsproblems für das Proletariat aus. Damit ist aber zugleich das Problem des Sozialismus selbst aus der Ferne eines bloßen Endzieles in die Nähe einer unmittelbaren Tagesfrage vor das Proletariat gestellt. Diese greifbare Nähe der Verwirklichung des Sozialismus ist aber wiederum ein dialektisches Verhältnis, und es könnte für das Proletariat verhängnisvoll werden, wenn es - in mechanistisch-utopistischer Weise - diese Nähe des Sozialismus als sein Realisiertsein durch die bloße Machtergreifung (Expropriation der Kapitalisten, Sozialisierung usw.) auffassen würde. Marx hat den Übergang vom Kapitalismus in den Sozialismus in der scharfsinnigsten Weise analysiert und auf die vielfachen bürgerlichen Strukturformen hingewiesen, die nur im Laufe einer langwierigen Entwicklung langsam ausgemerzt werden können. Lenin zieht auch hier die Trennungslinie vom Utopismus so scharf wie möglich. "Kein Kommunist hat", sagt er, "glaube ich, ferner bestritten, daß der Ausdruck "sozialistische Räterepublik" die Entschlossenheit der Rätemacht bedeutet, den Übergang zum Sozialismus zu verwirklichen und nicht etwa eine Anerkennung der gegebenen Wirtschaftsverhältnisse als sozialistisch." Die Aktualität der Revolution bedeutet also allerdings den Sozialismus als Tagesfrage für die Arbeiterbewegung. Jedoch nur in dem Sinne, daß nun Tag für Tag um das Herbeischaffen seiner Voraussetzungen gekämpft werden muß; daß einige der konkreten Maßregeln des Tages bereits konkrete Schritte zu seiner Verwirklichung bedeuten.

    Der Opportunismus enthüllt nun gerade an diesem Punkte, in seiner Kritik der Beziehung von Sowjet und Sozialismus, daß er endgültig ins Lager der Bourgeoisie übergegangen, daß er ein Klassenfeind des Proletariats geworden ist. Denn einerseits betrachtet er alle Scheinkonzessionen, die eine momentan erschrockene oder desorganisierte Bourgeoisie dem Proletariate - auf Widerruf - gibt, als wirkliche Schritte zum Sozialismus. (Man denke an die längst liquidierten "Sozialisierungskommissionen" von 1918-1919 in Deutschland und Österreich.) Anderseits verhöhnt er die Räterepublik, weil sie den Sozialismus nicht sofort wirklich ins Leben ruft, weil sie unter proletarischen Formen, unter proletarischer Führung nur eine bürgerliche Revolution macht. ("Rußland als Bauernrepublik", "Wiedereinführung des Kapitalismus" usw.) In beiden Fällen zeigt es sich, daß für den Opportunismus aller Schattierungen der eigentliche Feind, der wirklich bekämpft werden soll: eben die proletarische Revolution selbst ist. Auch dies ist nichts anderes als seine konsequente Weiterentwicklung von der Stellungnahme zum imperialistischen Kriege an. Es ist aber ebenfalls nur die konsequente Weiterführung seiner Kritik des Opportunismus vor und während des Krieges, wenn Lenin in der Räterepublik die Opportunisten auch praktisch als Feinde der Arbeiterklasse behandelt hat. Zu der Bourgeoisie, deren geistiger und materieller Apparat zerstört, deren Gefüge durch die Diktatur desorganisiert werden soll, damit ihr Einfluß die - ihrer objektiven Klassenlage gemäß - schwankenden Schichten nicht ergreife, gehört auch der Opportunismus. Gerade die Aktualität des Sozialismus macht diesen Kampf viel schärfer, als er etwa zur Zeit der Bernstein-Debatten gewesen ist. Der Staat als Waffe des Proletariats zum Kampfe für den Sozialismus, zur Unterdrückung der Bourgeoisie ist zugleich seine Waffe zur Vertilgung der opportunistischen Gefahr für den Klassenkampf des Proletariats, der in der Diktatur in unverminderter Heftigkeit weitergeführt werden muß.

    VI. Revolutionäre Realpolitik

    Das Proletariat ergreift die Staatsmacht und richtet seine revolutionäre Diktatur auf: das bedeutet, daß die Verwirklichung des Sozialismus zur Tagesfrage geworden ist. Ein Problem, auf das das Proletariat ideologisch am allerwenigsten vorbereitet war. Denn die "Realpolitik" der Sozialdemokratie, die alle Tagesfragen immer bloß als Tagesfragen, ohne Zusammenhang mit dem Weg der Gesamtentwicklung, ohne Beziehung zu den letzten Problemen des Klassenkampfes, also ohne jemals real und konkret über den Horizont der bürgerlichen Gesellschaft hinauszuweisen, behandelt hat, gab gerade dadurch dem Sozialismus in den Augen der Arbeiter wieder den Charakter einer Utopie. Die Trennung des Endzieles von der Bewegung verfälscht nicht nur die richtige Perspektive zu den Fragen des Alltags, der Bewegung, sondern verwandelt zugleich das Endziel in eine Utopie. Dieser Rückfall in den Utopismus äußert sich in sehr verschiedenen Formen. Vor allem darin, daß der Sozialismus in den Augen der Utopisten nicht als ein Werden, sondern als ein Sein erscheint. Das heißt, man untersucht die Probleme des Sozialismus - soweit sie überhaupt aufgeworfen werden - nur daraufhin, welche ökonomischen, kulturellen usw. Fragen und welche für sie günstigsten technischen usw. Lösungen möglich sind, wenn der Sozialismus bereits ins Stadium der praktischen Verwirklichung eingetreten ist. Es wird aber weder die Frage, wie eine solche Situation sozial möglich, wie sie erreicht wird, aufgeworfen, noch die, wie eine solche Situation sozial-konkret beschaffen ist, welche Klassenverhältnisse, welche Wirtschaftsformen das Proletariat in dem geschichtlichen Augenblick vorfindet, in dem es an die Aufgabe der Verwirklichung des Sozialismus herantritt. (So wie seinerzeit Fourier die Einrichtung der Phalanstères genau analysiert hat, ohne den konkreten Weg, wie sie zu verwirklichen sind, aufzeigen zu können.) Der opportunistische Eklektizismus, die Entfernung der Dialektik aus der Methode des sozialistischen Denkens, hebt also den Sozialismus selbst aus dem geschichtlichen Prozeß des Klassenkampfes heraus. Die vom Gift dieses Denkens angesteckten müssen deshalb sowohl die Voraussetzungen der Verwirklichung des Sozialismus wie die Probleme seiner Verwirklichung in einer verstellten Perspektive sehen. Diese Falschheit der Grundeinstellung geht so tief, daß sie nicht nur vom Denken der Opportunisten, für die ja der Sozialismus immer ein fernes Endziel bleibt, Besitz ergreift, sondern auch die ehrlichen Revolutionäre zu verkehrten Vorstellungen verleitet. Diese - ein großer Teil der Linken der II. Internationale - haben wohl den revolutionären Prozeß selbst, den Kampf um die Macht als Prozeß, im Zusammenhang mit den praktischen Fragen des Alltags erblickt, sie waren aber außerstande, die Lage des Proletariats nach der Machtergreifung und die konkreten Probleme, die aus dieser Lage folgen, ebenfalls in diesen Zusammenhang einzufügen. Sie sind hier ebenfalls zu Utopisten geworden.

    Der großartige Realismus, mit dem Lenin während der Diktatur alle Probleme des Sozialismus behandelt hat, der selbst seinen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Gegnern Achtung abringen mußte, ist also nichts weiter als die konsequente Anwendung des Marxismus, der geschichtlich-dialektischen Betrachtungsweise auf die nunmehr aktuell gewordenen Probleme des Sozialismus. Man wird in Lenins Schriften und Reden - wie übrigens auch in den Werken von Marx - sehr wenig über den Sozialismus als Zustand finden. Um so mehr dagegen über die Schritte, die zu seiner Verwirklichung führen können. Denn wir können uns den Sozialismus als Zustand unmöglich in seinen Details konkret vorstellen. So wichtig die theoretisch zutreffende Erkenntnis seiner Grundstruktur ist, so liegt die Wichtigkeit dieser Erkenntnis vor allem darin, daß durch sie ein Maßstab für die Richtigkeit der Schritte gegeben ist, die wir ihm entgegen tun. Die konkrete Erkenntnis des Sozialismus ist - ebenso wie dieser selbst - ein Produkt des Kampfes, der um ihn geführt wird; sie läßt sich nur im Kampf um den Sozialismus, nur durch diesen Kampf erwerben. Und jeder Versuch, zu einer Erkenntnis über den Sozialismus nicht auf dem Weg dieser seiner dialektischen Wechselwirkung mit den Alltagsproblemen des Klassenkampfes zu gelangen, macht aus dieser Erkenntnis eine Metaphysik, eine Utopie, etwas bloß Anschauendes, nicht Praktisches.

    Lenins Realismus, seine "Realpolitik" ist also die endgültige Liquidierung eines jeden Utopismus, die konkret inhaltliche Erfüllung des Programmes von Marx: eine praktisch gewordene Theorie, eine Theorie der Praxis zu geben. Lenin hat mit dem Problem des Sozialismus dasselbe getan, was er mit dem Staatsproblem getan hat: er hat es der bisherigen metaphysischen Isolierung, der Verbürgerlichung entrissen und es in den Gesamtzusammenhang der Probleme des Klassenkampfes eingefügt. Er hat die genialen Andeutungen, die Marx in der "Kritik des Gothaer Programmes" und anderswo gegeben hat, an dem konkreten Leben des Geschichtsprozesses erprobt, sie an der geschichtlichen Wirklichkeit konkreter und erfüllter gemacht, als es im Zeitalter von Marx, selbst für ein Genie wie Marx, möglich gewesen ist.

    Die Probleme des Sozialismus sind demnach die Probleme der ökonomischen Struktur und der Klassenverhältnisse im Zeitpunkt, wo das Proletariat die Staatsmacht ergreift. Sie entspringen unmittelbar aus der Lage, in der das Proletariat seine Diktatur errichtet. Sie können deshalb nur aus diesen Problemen heraus verstanden und zur Lösung geführt werden; sie enthalten aber - aus demselben Grunde - dieser Lage und allen vorangehenden Lagen gegenüber dennoch etwas prinzipiell Neues. Mögen alle ihre Elemente aus der Vergangenheit herausgewachsen sein, ihre Verknüpfung mit der Erhaltung und Befestigung der Herrschaft des Proletariats ergibt Probleme, die weder in Marx noch in anderen früher entstandenen Theorien enthalten sein konnten, die nur aus dieser wesentlich neuen Lage zu erfassen und zu lösen sind.

    De "Realpolitik" Lenins erweist sich hiermit - wenn man auf ihren Zusammenhang und ihre Grundlegung zurückgeht - als der bisher erreichte Höhepunkt der materialistischen Dialektik. Auf der einen Seite eine streng-marxistische, schlichte und nüchterne, aber ins Allerkonkreteste gehende Analyse der gegebenen Lage, der Wirtschaftsstruktur und der Klassenverhältnisse. Auf der anderen Seite eine durch keinerlei theoretische Voreingenommenheit, durch keinen utopistischen Wunsch verstellte Klarsicht allen neuen Tendenzen gegenüber, die sich aus dieser Lage ergeben. Diese scheinbar einfache und tatsächlich aus dem Wesen der materialistischen Dialektik - die ja eine Theorie der Geschichte ist - stammende Forderung ist aber keineswegs leicht zu erfüllen. Die Denkgewohnheiten des Kapitalismus haben allen Menschen, vor allem den wissenschaftlich Orientierten, die Neigung anerzogen, das Neue stets völlig aus dem Alten, das Heutige restlos aus dem Gestrigen erklären zu wollen. (Der Utopismus der Revolutionäre ist ein Versuch, sich am eigenen Zopf aus dem Graben zu ziehen, sich mit einem Sprung in eine völlig neue Welt zu versetzen, statt das dialektische Entstehen des Neuen aus dem Alten mit Hilfe der Dialektik zu begreifen.) "Deshalb werden", sagt Lenin, "viele und sehr viele durch den Staatskapitalismus verwirrt. Um nicht verwirrt zu werden, muß man stets an das Grundlegende denken, daß der Staatskapitalismus in der Form, wie wir ihn gegenwärtig haben, in keiner Theorie, in keiner Literatur analysiert worden ist, aus dem einfachen Grunde, weil alle Begriffe, die mit diesem Worte verknüpft sind, sich auf die bürgerliche Macht in der kapitalistischen Gesellschaft beziehen. Und wir haben einen Staat, der das kapitalistische Geleise verlassen hat und noch nicht auf das neue Geleise geraten ist."

    Was findet aber das zur Herrschaft gelangte russische Proletariat als konkrete, reale Umwelt der Verwirklichung des Sozialismus vor? Erstens einen - relativ - entwickelten Monopolkapitalismus, zusammenbrechend infolge des Weltkrieges, in einem zurückgebliebenen Bauernland, dessen Bauernschaft sich nur im Zusammenhang mit der proletarischen Revolution aus den Fesseln der feudalen Überreste befreien konnte. Zweitens außerhalb Rußlands eine feindlich gesinnte kapitalistische Umwelt, die sich mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln auf den neu entstandenen Arbeiter- und Bauernstaat zu werfen gewillt ist, die auch stark genug wäre, diesen militärisch oder ökonomisch zu erdrücken, wenn sie nicht durch das immer wachsende Sichauswirken der Gegensätze des imperialistischen Kapitalismus in sich zerklüftet wäre, so daß dem Proletariate stets Gelegenheiten geboten sind, diese Rivalitäten usw. zu seinem Nutzen auszuwerten. (Freilich sind damit nur die beiden Hauptproblemkomplexe bezeichnet; auf wenigen Seiten können aber nicht einmal diese beiden erschöpfend behandelt werden.)

    Die materielle Grundlage des Sozialismus als den Kapitalismus ablösende höhere Wirtschaftsform kann nur die Umorganisierung, die Höherentwicklung der Industrie sein, ihre Anpassung an die Bedürfnisse der arbeitenden Klassen, ihre Umgestaltung im Sinne eines immer sinnvoller werdenden Lebens (Aufhören des Gegensatzes von Stadt und Land, von geistiger und physischer Arbeit usw.). Der Zustand dieser materiellen Grundlage des Sozialismus bedingt mithin die Möglichkeiten und Wege seiner konkreten Verwirklichung. Und hier hat Lenin - bereits im Jahre 1917, vor dem Ergreifen der Staatsmacht - die ökonomische Lage und die aus ihr entspringenden Aufgaben für das Proletariat klar bestimmt. "Die Dialektik der Geschichte ist eben diejenige, daß der Krieg, indem er die Umwandlung des monopolistischen Kapitalismus in den staatsmonopolistischen ungeheuer beschleunigt hat, gerade dadurch die Menschheit dem Sozialismus ungeheuer näher gebracht hat. Der imperialistische Krieg ist der Vorabend der sozialistischen Revolution. Und das nicht nur deshalb, weil der Krieg mit seinem Entsetzen den proletarischen Aufstand gebiert - kein Aufstand kann den Sozialismus schaffen, wenn er ökonomisch nicht gereift ist -, sondern deshalb, weil der staatsmonopolistische Kapitalismus eine vollkommene materielle Vorbereitung des Sozialismus ist, die Eingangspforte zu ihm, weil er in der historischen Leiter jene Stufe bedeutet, zwischen welcher und der folgenden Stufe, die man Sozialismus nennt, es keine zwischenliegenden Stufen gibt." Folglich ist "der Sozialismus nichts anderes als ein staatskapitalistisches Monopol, eingestellt zum Nutzen des ganzen Volkes und insofern kein kapitalistisches Monopol mehr". Und anfangs 1918:" ... der Staatskapitalismus würde bei der gegenwärtigen Lage der Dinge in unserer Räterepublik einen Schritt vorwärts bedeuten. Würde bei uns, beispielsweise, nach einem halben Jahre, der Staatskapitalismus festen Fuß fassen, so würde das einen gewaltigen Erfolg und die sicherste Gewähr dafür bedeuten, daß bei uns der Sozialismus nach einem Jahre sich endgültig etablieren und unbesiegbar sein würde."

    Diese Stellen mußten besonders ausführlich wiedergegeben werden, um der weit verbreiteten bürgerlichen und sozialdemokratischen Legende, als ob Lenin nach dem Scheitern des "doktrinär-marxistischen" Versuches, den Kommunismus "auf einmal" einzuführen, aus "realpolitischer Klugheit" ein Kompromiß geschlossen hätte, von der ursprünglichen Linie seiner Politik abgewichen wäre. Gerade das Gegenteil ist die geschichtliche Wahrheit. Der sogenannte Kriegskommunismus, den Lenin eine "durch Bürgerkrieg und Zerstörung bedingte provisorische Maßnahme" nennt, die "keine den wirtschaftlichen Aufgaben des Proletariats entsprechende Politik war und keine sein konnte", war die Abweichung von der Linie, auf der sich - nach seiner theoretischen Voraussicht - die Entwicklung zum Sozialismus abspielt. Freilich eine durch den inneren und äußeren Bürgerkrieg bedingte, also unvermeidliche, aber doch bloß provisorische Maßnahme. Es wäre aber, nach Lenin, für das revolutionäre Proletariat verhängnisvoll gewesen, diesen Charakter des Kriegskommunismus zu verkennen, ihn gar - wie viele ehrliche Revolutionäre, die aber nicht auf der theoretischen Höhe Lenins gestanden sind - als einen wirklichen Schritt in der Richtung auf den Sozialismus zu bewerten.

    Es kommt also nicht darauf an, wie stark die äußeren Formen des Wirtschaftslebens einen sozialistischen Charakter an sich tragen, sondern ausschließlich darauf, wie weit es dem Proletariate gelingt, jenen Wirtschaftsapparat, den es mit der Machtergreifung in seinen Besitz gebracht hat, der zugleich die Grundlage seines gesellschaftlichen Seins ist, die Großindustrie, tatsächlich zu beherrschen und dieses Beherrschen tatsächlich in den Dienst seiner Klassenziele zu stellen. So sehr aber die Umwelt dieser Klassenziele und dementsprechend die Mittel ihrer Verwirklichung verändert worden sind, so mußte doch ihre allgemeine Grundlage dieselbe bleiben: mit Hilfe der Führung der - stets schwankenden - Mittelschichten (besonders der Bauern) auf der entscheidenden Front, auf der Front gegen die Bourgeoisie, den Klassenkampf weiter zu führen. Und hier darf niemals vergessen werden, daß trotz des ersten Sieges das Proletariat noch immer die schwächere Klasse geblieben ist und es noch lange Zeit - bis zu einem Siege der Revolution im Weltmaßstabe - bleiben wird. Sein Kampf hat sich also ökonomisch nach zwei Prinzipien zu richten: einerseits die Zerrüttung der Großindustrie durch Krieg und Bürgerkrieg, so rasch und so vollständig wie irgend möglich aufzuhalten, denn ohne diese Basis muß das Proletariat als Klasse zugrunde gehen. Anderseits alle Probleme der Produktion und Distribution so zu regeln, daß die Bauernschaft, die durch die revolutionäre Lösung der Agrarfrage zum Verbündeten des Proletariats geworden ist, durch die möglichste Erfüllung ihrer materiellen Interessen in diesem Bündnis erhalten bleibe. Die Mittel zur Verwirklichung dieser Ziele ändern sich nach den Umständen. Das allmähliche Durchsetzen dieser Ziele ist dieser Ziele ist aber der einzige Weg, die Herrschaft des Proletariats, die erste Voraussetzung des Sozialismus, aufrechtzuerhalten.

    Der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat geht also auch an der inneren Wirtschaftsfront in unverminderter Heftigkeit weiter. Der Kleinbetrieb, den abzuschaffen, zu "sozialisieren" in diesem Stadium ein reiner Utopismus ist, "erzeugt den Kapitalismus und die Bourgeoisie unausgesetzt, täglich, stündlich, elementar und im Massenmaßstab". Es kommt darauf an, ob in diesem Wettkampf die sich neu formende, neu akkumulierende Bourgeoisie oder die vom Proletariat beherrschte staatliche Großindustrie siegreich sein wird. Diesen Wettkampf muß das Proletariat riskieren, wenn es nicht riskieren will, durch Abschnürung der Kleinbetriebe, des Handels usw. (deren wirkliche Durchführung sowieso illusorisch ist) auf die Dauer das Bündnis mit den Bauern zu lockern. Daneben tritt noch die Bourgeoisie in der Form des ausländischen Kapitals, der Konzessionen usw. in den Wettkampf ein. Hier entsteht nun die paradoxe Lage, daß diese Bewegung - einerlei, was ihre Absichten sind - objektiv-ökonomisch zum Verbündeten des Proletariats gemacht werden kann, indem durch sie die wirtschaftliche Macht der Großindustrie gestärkt wird. Es entsteht "ein Bündnis gegen die Elemente des Kleinbetriebes". Wobei freilich anderseits die natürliche Tendenz des Konzessionskapitals, den proletarischen Staat allmählich in eine kapitalistische Kolonie zu "verwandeln, energisch bekämpft werden muß. (Konzessionsbedingungen, Außenhandelsmonopol usw.)

    Es kann unmöglich die Aufgabe dieser spärlichen Anmerkungen sein, die Wirtschaftspolitik Lenins auch nur in ihren gröbsten Umrissen zu skizzieren. Das hier Angedeutete sollte nur als Beispiel dienen, um die Prinzipien der Politik Lenins, ihre theoretische Grundlage einigermaßen deutlich hervortreten zu lassen. Und dieses Prinzip ist: die Herrschaft des Proletariats in einem Universum von offenen und heimlichen Feinden, von schwankenden Verbündeten um jeden Preis aufrechtzuerhalten. So wie das Grundprinzip seiner Politik vor der Machtergreifung gewesen ist: in dem Gewirr der sich kreuzenden sozialen Tendenzen des untergehenden Kapitalismus jene Momente aufzufinden, deren Ausnützung durch das Proletariat dieses zur führenden, zur herrschenden Klasse der Gesellschaft emporzuheben imstande war. An diesem Prinzip hat Lenin sein ganzes Leben lang unerschütterlich und konzessionslos festgehalten. Er hat aber dieses Prinzip - ebenso unerbittlich konzessionslos - als ein dialektisches Prinzip festgehalten. In dem Sinne, "daß der Grundsatz der marxistischen Dialektik darin besteht, daß alle Grenzen in der Natur und in der Geschichte bedingt und beweglich sind, daß es keine einzige Erscheinung gibt, die unter gewissen Bedingungen nicht in ihr Gegenteil umschlagen könnte". Darum erfordert "die Dialektik eine allseitige Untersuchung der betreffenden gesellschaftlichen Erscheinung in ihrer Entwicklung sowie ein Zurückführen der äußerlichen und scheinbaren Momente auf die grundsätzlichen, bewegenden Kräfte, die Entfaltung der Produktivkräfte und den Klassenkampf" Die Größe Lenins als Dialektiker besteht darin, daß er die Grundprinzipien der Dialektik, die Entfaltung der Produktivkräfte und den Klassenkampf stets ihrem innersten Wesen nach, konkret, ohne abstrakte Voreingenommenheit, aber auch ohne fetischistisches Verwirrtsein durch Oberflächenerscheinungen klar gesehen hat. Daß er sämtliche Erscheinungen, mit denen er zu tun hatte, stets auf diese ihre letzte Grundlage: auf das konkrete Handeln konkreter (das heißt klassenmäßig bedingter) Menschen auf Grund ihrer realen Klasseninteressen zurückgeführt hat. Erst von diesem Prinzip aus gesehen zerfällt die Legende vom "klugen Realpolitiker" Lenin, dem "Meister der Kompromisse" um den wahren Lenin, den konsequenten Ausbauer der Marxschen Dialektik, vor uns zu enthüllen.

    Vor allem muß schon bei der Begriffsbestimmung des Kompromisses jeder Sinn, als ob es sich um einen Kniff, um eine Geschicklichkeit, um ein raffiniertes Übervorteilen handeln wurde, abgewiesen werden. "Personen" sagt Lenin, "die unter Politik kleine Tricks verstehen, die manchmal an Betrug grenzen, müssen bei uns die entschiedenste Ablehnung erfahren. Klassen können nicht betrogen werden." Kompromiß bedeutet also für Lenin soviel: daß reale Entwicklungstendenzen von Klassen (eventuell, wie zum Beispiel bei unterdrückten Völkern, von Nationen), die unter bestimmten Umständen, auf eine gewisse Zeitdauer, in bestimmten Fragen mit den Lebensinteressen des Proletariats parallel gehen, zu diesem Zwecke - zum Vorteile beider ausgewertet werden.

    Freilich können Kompromisse auch eine Form des Klassenkampfes mit dem entscheidenden Feind der Arbeiterklasse, mit der Bourgeoisie, sein. (Man denke nur an die Beziehung Sowjetrußlands zu den imperialistischen Staaten.) Und die Theoretiker des Opportunismus klammern sich auch an diese Spezialform der Kompromisse, teils um Lenin auch hier als "undogmatischen Realpolitiker" zu loben oder herabzusetzen, teils um damit für ihre eigenen Kompromisse einen Deckmantel zu finden. Auf das Hinfällige des ersten Arguments haben wir bereits hingewiesen, bei der Beurteilung des zweiten muß - wie bei jeder Frage der Dialektik - jene Totalität, die die konkrete Umwelt des Kompromisses bildet, berücksichtigt werden. Und hier tritt alsbald zutage, daß der Kompromiß Lenins und das der Opportunisten von direkt entgegengesetzten Voraussetzungen ausgehen. Die sozialdemokratische Taktik ist - ob eingestanden oder unbewußt - darauf begründet, daß die eigentliche Revolution noch fern ist; die objektiven Vorbedingungen der sozialen Revolution sind noch nicht da, das Proletariat ist ideologisch noch nicht reif zur Revolution, die Partei und die Gewerkschaften sind noch zu schwach usw.: darum muß das Proletariat Kompromisse mit der Bourgeoisie schließen. Je mehr die subjektiven wie objektiven Vorbedingungen der sozialen Revolution vorhanden sein werden, desto "reiner" wird das Proletariat seine Klassenziele verwirklichen können. So daß der Kompromiß in der Praxis oft einen großen Radikalismus, ein vollständiges "Reinhalten" der Prinzipien in bezug auf die "Endziele" zur Kehrseite hat. (In diesem Zusammenhang können selbstredend nur jene sozialdemokratischen Theorien überhaupt berücksichtigt werden, die in irgendeiner Weise noch an der Theorie des Klassenkampfes festhalten zu müssen meinen. Denn für die anderen Anschauungen ist ja der Kompromiß gar kein Kompromiß mehr, sondern ein natürliches Zusammenarbeiten der verschiedenen Berufsschichten zum Wohle der Gesamtheit.)

    Für Lenin hingegen folgt der Kompromiß direkt und logisch aus der Aktualität der Revolution. Wenn der Grundcharakter der ganzen Epoche die Aktualität der Revolution ist;, wenn diese Revolution - sowohl in jedem einzelnen Lande wie im Weltmaßstabe - jeden Augenblick ausbrechen kann, ohne daß dieser Augenblick je genau vorausbestimmbar sein könnte; wenn der revolutionäre Charakter der ganzen Epoche sich in der ständig steigenden Zersetzung der bürgerlichen Gesellschaft offenbart, was zur notwendigen Folge hat, daß die verschiedenartigsten Tendenzen sich ununterbrochen abwechseln und kreuzen: so bedeutet all dies, daß das Proletariat seine Revolution nicht unter selbstgewählten, "günstigsten" Bedingungen beginnen und vollführen kann, daß dementsprechend jede Tendenz, die, wenn auch noch so vorübergehend, die Revolution fördern oder wenigstens die Feinde der Revolution schwächen kann, unter allen Umständen von ihm ausgenützt werden muß. Wir haben früher einige Aussprüche Lenins angeführt, aus denen ersichtlich ist, wie wenig Illusionen er - noch vor der Machtergreifung - in bezug auf das Tempo der Verwirklichung des Sozialismus gehabt hat. Folgende Sätze aus einem seiner letzten Aufsätze, nach der Periode der "Kompromisse" geschrieben, zeigen aber ebenso deutlich, daß diese Voraussicht für ihn niemals ein Verschieben des revolutionären Handelns bedeutet hat. "Napoleon schrieb: "On s'engage et puis on voit." In freier Übersetzung heißt das. "Man muß zunächst einen ernsten Kampf aufnehmen, dann wird schon das weitere ersichtlich". So haben wir auch zunächst einen ernsten Kampf im Oktober 1917 aufgenommen, und dann wurden schon einige solcher Einzelheiten ersichtlich (vom Gesichtspunkt der Weltgeschichte sind es zweifellos Einzelheiten), wie der Brester Frieden oder die "neue ökonomische Politik" usw. Die Leninsche Theorie und Taktik der Kompromisse ist also nur die sachlich-logische Folge aus der marxistischen, der dialektischen Geschichtserkenntnis, daß die Menschen zwar ihre Geschichte selbst machen, sie aber nicht unter selbstgewählten Umständen machen können. Sie ist eine Folge der Erkenntnis, daß die Geschichte stets Neues produziert; daß deshalb diese geschichtlichen Augenblicke, momentane Kreuzungspunkte von Tendenzen, nie in derselben Gestalt wiederkehren; daß Tendenzen heute für die Revolution ausgewertet werden können, die morgen eine Lebensgefahr für diese bedeuten würden und umgekehrt. So will Lenin am 1. September 1917 den Menschewiki und S.R. auf Grund der alten bolschewistischen Parole "Alle Macht den Räten" ein gemeinsames Vorgehen, ein Kompromiß anbieten. Jedoch bereits am 17. September schreibt er: "Am Ende ist das Anerbieten eines Kompromisses schon verspätet. Vielleicht sind die wenigen Tage, im Laufe deren die friedliche Entwicklung noch möglich war, ebenfalls vorüber. ja, nach allem ist es evident, daß sie schon vorbei sind." Die Anwendung dieser Theorie auf Brest-Litowsk, auf die Konzessionen usw. ergibt sich von selbst.

    Wie sehr die ganze Leninsche Theorie der Kompromisse auf seine Grundanschauung von der Aktualität der Revolution begründet ist, zeigt sich vielleicht noch schärfer in seinen theoretischen Kämpfen gegen den linken Flügel seiner eigenen Partei (nach der ersten Revolution und nach dem Brester Frieden im russischen, in den Jahren 1920 und 1921 im europäischen Maßstab). In allen diesen Debatten war die prinzipielle Ablehnung eines jeden Kompromisses die Parole des Links-Radikalismus. Und die Polemik Lenins geht wesentlich darauf hinaus, daß in dem Ablehnen eines jeden Kompromisses ein Ausweichen vor den entscheidenden Kämpfen enthalten ist, daß dieser Anschauung ein Defaitismus der Revolution gegenüber zugrunde liegt. Denn die echte revolutionäre Lage - und dies ist nach Lenin der Grundzug unserer Epoche - äußert sich darin, daß es kein Feld des Klassenkampfes geben kann, wo nicht revolutionäre (oder konterrevolutionäre) Möglichkeiten vorhanden wären. Der echte Revolutionär also, derjenige, der es weiß, daß wir in einer revolutionären Epoche leben und praktisch die Konsequenzen dieser Erkenntnis zieht, muß stets das Ganze der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit von diesem Standpunkt betrachten und im Interesse der Revolution alles, das Größte und Kleinste, das Gewohnte und Überraschende je nach ihrer Wichtigkeit für die Revolution - aber nur danach - intensiv berücksichtigen. Wenn Lenin den Links-Radikalismus zuweilen einen Links-Opportunismus genannt hat, so hat er damit sehr richtig und tief auf die gemeinsame Geschichtsperspektive dieser beiden sonst so entgegengesetzten Strömungen, deren eine ein jeder Kompromiß verpönt, deren andere im Kompromiß das Prinzip der "Realpolitik" im Gegensatz zum "starren Festhalten an dogmatischen Prinzipien" erblickt, hingewiesen: auf einen Pessimismus in bezug auf Nähe und Aktualität der proletarischen Revolution. Aus dieser Art, wie er beide Tendenzen von dem gleichen Prinzip aus ablehnt, zeigt es sich, daß der Kompromiß bei Lenin und bei den Opportunisten nur dasselbe Wort ist, das aber bei jedem auf eine grundverschiedene Wirklichkeit bezogen wird und deshalb bei jedem einen grundverschiedenen Begriff deckt.

    Eine richtige Erkenntnis darüber, was Lenin unter Kompromiß verstanden, wie er die Taktik der Kompromisse theoretisch fundiert hat, ist nicht nur von grundlegender Bedeutung für das zutreffende Verständnis seiner Methode, sondern auch praktisch von sehr weittragender Wichtigkeit. Der Kompromiß ist bei Lenin nur in der dialektischen Wechselwirkung mit dem Festhalten an den Prinzipien und der Methode des Marxismus möglich; im Kompromiß zeigt sich stets der nächste reale Schritt der Verwirklichung der Theorie des Marxismus. Wie also diese Theorie und Taktik sich von der mechanischen Starrheit eines Festhaltens an "reinen" Prinzipien scharf abheben, so müssen sie auch von jeder prinzipienlos schematisierenden "Realpolitik" streng ferngehalten werden. Das heißt, es reicht für Lenin nicht aus, daß die konkrete Lage, in der gehandelt wird, die konkreten Kräfteverhältnisse, die den Kompromiß bestimmen, die Tendenz der notwendigen Weiterentwicklung der proletarischen Bewegung, die ihre Richtung bedingt, in ihrer Tatsächlichkeit richtig erkannt und bewertet werden, sondern er betrachtet es als eine ungeheure praktische Gefahr für die Arbeiterbewegung, wenn solche richtigen Erkenntnisse der Tatsächlichkeit nicht in einen Rahmen der allgemein richtigen Erkenntnis des ganzen Geschichtsprozesses eingefügt werden. So hat er das praktische Verhalten der deutschen Kommunisten zu der nach dem Niederwerfen des Kapp-Putsches geplanten "Arbeiterregierung", die sogenannte loyale Opposition als richtig anerkannt, hat aber zugleich aufs schärfste gerügt, daß diese richtige Taktik mit einer theoretisch falschen - von demokratischen Illusionen erfüllten Geschichtsperspektive begründet wurde.

    Die dialektisch richtige Vereinigung des Allgemeinen und des Besonderen, die Erkenntnis des Allgemeinen (der allgemeinen Grundtendenz der Geschichte) im Besonderen (in der konkreten Lage), das daraus entspringende Konkretwerden der Theorie ist also der Grundgedanke dieser Theorie der Kompromisse. Diejenigen, die in Lenin bloß einen klugen oder eventuell sogar genialen "Realpolitiker" erblicken, verkennen das Wesen seiner Methode durchaus. Aber diejenigen, die in seinen Entscheidungen überall anwendbare "Rezepte", "Vorschriften" für ein richtiges praktisches Handeln zu finden vermeinen, verkennen ihn erst recht. Lenin hat nie "allgemeine Regeln" aufgestellt, die auf eine Reihe von Fällen "angewendet" werden könnten. Seine "Wahrheiten" entwachsen der konkreten Analyse der konkreten Lage mit Hilfe der dialektischen Geschichtsbetrachtung. Aus einer mechanischen "Verallgemeinerung" seiner Winke oder Entscheidungen kann nur eine Karikatur, ein Vulgär-Leninismus entstehen; so zum Beispiel bei jenen ungarischen Kommunisten, die bei völlig verschiedener Lage, bei der Beantwortung der Clemenceau-Note im Sommer 1919, den Brester Frieden schematisch nachzuahmen versucht haben. Denn, wie Marx bei Lasalle scharf tadelt: " ... die dialektische Methode wird falsch angewandt. Hegel hat nie die Subsumption einer Masse von "Fällen" under a general principle (unter ein allgemeines Prinzip) Dialektik genannt."

    Die Berücksichtigung aller vorhandenen Tendenzen in der jeweiligen konkreten Lage bedeutet aber keineswegs, daß diese Tendenzen nun mit gleichem Gewicht in die Waagschale der Entscheidung fallen. Im Gegenteil. Jede Lage hat ein zentrales Problem, von dessen Entscheidung sowohl die der gleichzeitigen anderen Fragen wie die Weiterentwicklung aller gesellschaftlichen Tendenzen in der Zukunft abhängt. "Man muß es verstehen", sagt Lenin, "in jedem Augenblick jenes besondere Glied der Kette zu ergreifen, an das man sich mit allen Kräften klammern muß, um die ganze Kette festzuhalten und den festen Übergang zum nächsten Gliede der Kette vorzubereiten, wobei die Reihenfolge der Glieder, ihre Form, ihre Verkettung, ihr Unterschied voneinander in der historischen Kette der Ereignisse nicht so einfach und sinnlos sind wie bei einer gewöhnlichen, von einem Schmiede angefertigten Kette." Welches Moment des gesellschaftlichen Lebens im gegebenen Augenblick zu einer solchen Bedeutung erwächst, kann sich nur aus der marxistischen Dialektik, aus der konkreten Analyse der konkreten Lage ergeben. Der Leitfaden, mit dem es gefunden werden kann, ist aber die revolutionäre Betrachtung der Gesellschaft, als eines sich im Prozeß befindenden Ganzen. Denn nur diese Beziehung zum Ganzen erhebt das jeweilige entscheidende Kettenglied zu dieser Bedeutung: es muß ergriffen werden, weil nur auf diese Weise das Ganze ergriffen wird. So hebt Lenin, ebenfalls in einem seiner letzten Aufsätze, wo er von den Genossenschaften spricht und darauf hinweist, daß "vieles davon, was in den Träumen der alten Genossenschaftler phantastisch oder selbst übelriechend romantisch war, die nackteste Wirklichkeit geworden" ist, dieses Problem besonders scharf und konkret hervor. Er sagt: "Eigentlich bleibt uns "nur" das eine übrig: unsere Bevölkerung so "zivilisiert" zu machen, daß sie alle Vorteile der persönlichen Beteiligung an der Kooperation begreift und zu dieser Beteiligung schreitet. "Nur" so viel. Keiner anderen Spitzfindigkeiten bedürfen wir jetzt, um zum Sozialismus überzugehen. Aber um dieses "Nur" zu vollbringen, dazu ist ein ganzer Umschwung, eine ganze Strecke der kulturellen Entwicklung der ganzen Volksmasse notwendig." Es ist hier leider nicht möglich, den ganzen Aufsatz ausführlich zu analysieren. Eine solche Analyse - und zwar die eines beliebigen taktischen Winkes von Lenin - würde zeigen, wie in jedem solchen "Kettengliede" stets das Ganze enthalten ist. Daß das Kriterium der richtigen marxistischen Politik darin liegt, stets jene Momente aus dem Prozesse herauszuheben und die größte Energie auf sie zu konzentrieren, welche Momente - im gegebenen Augenblick, in der gegebenen Phase - diese Beziehung zum Ganzen, zum Ganzen der Gegenwart und zum zentralen Entwicklungsproblem der Zukunft, also auch zur Zukunft in ihrer praktisch-ergreifbaren Ganzheit in sich bergen. Dieses energische Anfassen des nächsten, des entscheidenden Kettengliedes bedeutet also keineswegs, daß nun dieses Moment aus dem Ganzen herausgerissen würde und die anderen Momente seinetwegen vernachlässigt werden sollten. Im Gegenteil. Es bedeutet, daß alle anderen Momente, in Beziehung auf dieses zentrale Problem gebracht, in dieser Beziehung richtig verstanden und gelöst werden. Der Zusammenhang aller Probleme miteinander wird durch diese Auffassung nicht gelockert, sondern im Gegenteil intensiver und konkreter gemacht.

    Diese Momente werden vom Geschichtsprozeß, von der objektiven Entwicklung der Produktionskräfte hervorgebracht. Es hängt aber vom Proletariate ab, ob und wie weit es sie zu erkennen, zu ergreifen und dadurch ihre Weiterentwicklung zu beeinflussen imstande sein wird. Der grundlegende, bereits öfter angeführte Satz des Marxismus, daß die Menschen ihre Geschichte selbst machen, erhält im Zeitalter der Revolution, nach der Ergreifung der Staatsmacht eine sich stets steigernde Bedeutung; wenn auch selbstredend seine dialektische Ergänzung durch die Bedeutung der nicht selbstgewählten Umstände zu seinem Wahrbleiben unerläßlich ist. Das bedeutet praktisch, daß die Rolle der Partei in der Revolution - der große Gedanke des jungen Lenin - im Zeitalter des Überganges zum Sozialismus noch größer und entscheidender wird, als sie es in der vorbereitenden Epoche gewesen ist. Denn je größer der aktive, den Gang der Geschichte bestimmende Einfluß des Proletariats wird, je schicksalhafter - im guten wie im schlechten Sinne - die Entscheidungen des Proletariats für sich und für die ganze Menschheit werden, desto wichtiger bleibt es, den einzigen Kompaß auf diesem wilden, sturmbewegten Meer, das Klassenbewußtsein des Proletariats in reiner Gestalt zu bewahren; diesen Geist, den einzig möglichen Führer im Kampfe, zu immer wachsender Klarheit heranzubilden. Diese Bedeutung der aktiv-geschichtlichen Rolle der Partei des Proletariats ist ein Grundzug der Theorie und deshalb der Politik Lenins, den er nicht müde wird, immer wieder hervorzuheben und seine Bedeutung für die praktischen Entscheidungen zu betonen. So sagt er am XI. Parteitag der R.K.P., als er die Gegner der staatskapitalistischen Entwicklung bekämpft hat:"Der Staatskapitalismus ist jener Kapitalismus, den zu beschränken, dessen Grenzen festzustellen wir imstande sein werden; dieser Staatskapitalismus ist mit dem Staate verbunden, und der Staat, das sind Arbeiter, der vorgeschrittenste Teil der Arbeiter, die Avant-Garde, das sind wir... Und das hängt schon von uns ab, wie dieser Staatskapitalismus sein wird."

    Darum ist jeder Wendepunkt in der Entwicklung zum Sozialismus stets und in entscheidender Weise zugleich ein inneres Problem der Partei. Eine Umgruppierung der Kräfte, eine Anpassung der Parteiorganisationen an die neue Aufgabe: die Entwicklung der Gesellschaft in dem Sinne zu beeinflussen, den die sorgsame und genaue Analyse des Ganzen vom Klassenstandpunkt des Proletariats ergibt. Darum steht in der Rangordnung der entscheidenden Mächte im Staate - der wir sind - die Partei auf der allerhöchsten Stufe. Darum ist aber diese Partei selbst da die Revolution nur im Weltmaßstabe siegen kann, da das Proletariat nur als Weltproletariat sich wirklich zur Klasse konstituiert - als Sektion dem höchsten Organ der proletarischen Revolution, der kommunistischen Internationale eingeordnet und untergeordnet. Die mechanistische Starrheit des Denkens, die alle Opportunisten und Bürgerlichen kennzeichnet, wird in solchen Verknüpfungen stets unlösbare Widersprüche sehen. Sie wird nicht verstehen, wieso die Bolschewiki, nachdem sie "zum Kapitalismus zurückgekehrt" sind, dennoch an der alten Parteistruktur, an der alten "undemokratischen" Diktatur der Partei festhalten. Sie wird nicht verstehen, wieso die kommunistische Internationale keinen Augenblick auf die Weltrevolution verzichtet, ja sie mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln vorzubereiten und zu organisieren trachtet, während der Staat des russischen Proletariats gleichzeitig seinen Frieden mit den imperialistischen Mächten; die möglichste Beteiligung des imperialistischen Kapitalismus am wirtschaftlichen Aufbau Rußlands zu fördern versucht. Sie wird nicht verstehen, wieso die Partei an ihrem inneren strengen Charakter unerbittlich festhält und ihre ideologische und organisatorische Festigung mit den energischesten Mitteln betreibt, während die Wirtschaftspolitik der Räterepublik ängstlich darüber wacht, daß jenes Bündnis mit den Bauern, dem sie ihr Bestehen verdankt, nicht gelockert werde, während die Räterepublik in den Augen der Opportunisten immer mehr zu einem Bauernstaat wird, immer mehr ihren proletarischen Charakter verliert usw. usw. Die mechanische Starrheit des undialektischen Denkens vermag es nicht zu fassen, daß diese Widersprüche objektive, seiende Widersprüche des gegenwärtigen Zeitalters sind; daß die Politik der R.K.P. die Politik Lenins nur insofern widerspruchsvoll ist, als sie die dialektisch richtigen Antworten auf die objektiven Widersprüche ihres eigenen gesellschaftlichen Seins sucht und findet.

    So führt uns die Analyse der Politik Lenins stets zu den Grundfragen der dialektischen Methode zurück. Sein ganzes Lebenswerk ist die konsequente Anwendung der Marxschen Dialektik auf die ununterbrochen wechselnden, stets Neues hervorbringenden Erscheinungen eines ungeheuren Übergangszeitalters. Da aber die Dialektik keine fertige Theorie ist, die mechanisch auf die Erscheinungen des Lebens angewendet werden könnte, sondern nur in dieser Anwendung, durch diese Anwendung als Theorie existiert, ist die dialektische Methode aus der Praxis Lenins erweiterter, erfüllter und theoretisch entwickelter hervorgegangen, als er sie aus der Erbschaft von Marx und Engels übernommen hat.

    Es ist deshalb vollkommen berechtigt, vom Leninismus als einer neuen Phase in der Entwicklung der materialistischen Dialektik zu sprechen. Lenin hat nicht nur die Reinheit der Marxschen Lehre nach einer jahrzehntelangen Verflachung und Entstellung, die der Vulgärmarxismus zustande gebracht hat, wie konkreter und reifer gemacht. Wenn es aber nun zur Aufgabe der Kommunisten wird, auf dem Pfade des Leninismus weiter zu gehen, so kann dieses Weitergehen nur dann fruchtbar werden, wenn sie sich zu Lenin so zu verhalten versuchen, wie sich Lenin selbst zu Marx verhalten hat, Art und Inhalt dieses Verhaltens sind von der Entwicklung der Gesellschaft, von den Problemen und Aufgaben, die der Geschichtsprozeß dem Marxismus stellt, sein Gelingen von der Höhe des proletarischen Klassenbewußtseins in der führenden Partei des Proletariats bestimmt. Der Leninismus bedeutet, daß die Theorie des historischen Materialismus den Tageskämpfen des Proletariats noch näher gerückt ist, noch praktischer geworden ist, als sie es zu Marx' Zeiten sein konnte. Die Tradition des Leninismus kann also nur darin bestehen, diese lebendige und lebenspendende, diese wachsende und das Wachstum fördernde Funktion des historischen Materialismus unverfälscht und unerstarrt zu bewahren. Darum muß - wir wiederholen - Lenin von den Komministen so studiert werden, wie Marx von Lenin studiert wurde. Studiert, um die dialektische Methode handhaben zu lernen. Um zu erlernen: wie durch die konkrete Analyse der konkreten Lage im Allgemeinen das Besondere und im Besonderen das Allgemeine; im neuen Moment einer Situation das, was es mit dem bisherigen Prozeß verbindet und in der Gesetzlichkeit des Geschichtsprozesses das immer wieder entstehende Neue; im Ganzen der Teil und im Teil das Ganze; in der Notwendigkeit der Entwicklung das Moment des aktiven Handelns und in der Tat die Verknüpfung mit der Notwendigkeit des Geschichtsprozesses gefunden werden kann. Der Leninismus bedeutet eine bisher unerreichte Stufe des konkreten, nicht schematischen, nicht mechanischen, rein auf Praxis gerichteten Denkens. Dies zu erhalten ist die Aufgabe der Leninisten. Aber in dem Geschichtsprozeß kann sich nur das sich lebendig Entwickelnde erhalten. Und ein solches Erhalten der Tradition des Leninismus bedeutet heute die vornehmste Aufgabe eines jeden, der die dialektische Methode als Waffe im Klassenkampf des Proletariats ernst nimmt.





    Sozialismus von unten