Sozialismus von unten
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Entfremdung und Freiheit

John Rees über Georg Lukács' "Geschichte und Klassenbewußtsein"

Lukács' "Geschichte und Klassenbewußtsein" wurde während des höchsten Punktes geschrieben, den der revolutionäre Kampf bisher erreicht hat, der russischen Revolution und der revolutionären Welle, die Europa nach dem Ersten Weltkrieg überflutete.
Der Krieg rechtfertigte Lukács tiefe Abscheu vor der kapitalistischen Gesellschaft, und die russische Revolution zeigte ihm die Alternative zur eleganten Verzweiflung. "Sie hat das Fenster zur Zukunft aufgestoßen", schrieb er 1967 im Vorwort zu "Geschichte und Klassenbewußtsein".

Innerhalb des Zeitraumes von ein paar Monaten legte Lukács die Strecke vom romantischen, antikapitalistischen Philosophen zum Volkskommissar in der kurzlebigen ungarischen Sowjetrepublik von 1919 zurück. Entlang diesen Weges hinterließ er eine Vielzahl von Aufsätzen als Meilensteine seiner intellektuellen Entwicklung. Einige von ihnen sind in "Geschichte und Klassenbewußtsein" versammelt. Lukács' Übertritt zum Marxismus war keine oberflächliche Angelegenheit. Er war in der bürgerlichen philosophischen Tradition verwurzelt, er hatte mit Max Weber, dem einflußreichsten Soziologen seiner Zeit, studiert und schon Bücher der Kunstkritik veröffentlicht. Als Georg Lukács zum Marxismus kam, tat er das über eine unbarmherzige Kritik des besten, daß das bürgerliche Denken anzubieten hatte. So entwickelte er die philosophische Grundlage des Marxismus auf eine Art und Weise, die seit Marx niemand mehr in Angriff genommen hatte. "Geschichte und Klassenbewußtsein" ist das eindrucksvolle, wenn auch nicht perfekte Ergebnis.

Die Sprache des Buches ist nicht leicht verständlich und bewegt sich, als Artikelserie, die zwischen 1919 und 1922 geschrieben wurde, auf verschiedenen Niveaus der Analyse. Nur zwei Aufsätze wurden speziell für dieses Buch geschrieben, "Die Verdinglichung (oder Entfremdung, wie sie gemeinhin genannt wird) und das Bewußtsein des Proletariats" und "Methodisches zur Organisationsfrage". Auf diese zwei Aufsätze werde ich mich konzentrieren.

Lukács setzt sich mit einigen Fragen auseinander, die für Marxisten von grundlegender Bedeutung sind. Warum kann nur die Arbeiterklasse die Gesellschaft verändern? Warum kann die Arbeiterklasse von der Akzeptanz der bürgerlichen Gesellschaft zu ihrem Umsturz gelangen? Warum kann nur der Marxismus ein richtiges Bild von der Gesellschaft geben? Was ist das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis?
Zentral in seinen Antwort steht das Konzept von der Entfremdung.

In der kapitalistischen Gesellschaft, wo eine Klasse die Produktionsmittel besitzt und die andere ihre Arbeitskraft verkaufen muß, begegnen die Dinge, die der Arbeiter produziert, ihm feindlich, als fremde Kräfte. Selbst die Arbeit des Arbeiters ist ihm fremd. Sie untersteht nicht seinem Kommando, sondern hält sich auf Abruf einer feindlichen, kapitalistischen Klasse bereit. Die Arbeit seiner eigenen Händen, seines eigenen Kopfes, erscheint als Bürde und als Zwangsarbeit. Und so geschieht es durch die Waren, die diese entfremdete Arbeit produziert. Die Güter sind nicht das natürliche Ergebnis der Bemühungen des Arbeiters, seine oder ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Sie erscheinen als unerhältlich. Schlimmer noch, ihr Preis auf dem Markt wird bestimmen, ob der Arbeiter eine Stelle bekommt, für wie lange er bezahlt wird und wieviel er bekommt.

So sagte Marx:
"Für sie nimmt ihre eigene gesellschaftliche Handlung die Form der Handlung von Objekten an, die den Produzenten beherrschen, statt daß er sie beherrscht."
Ihre eigene Schöpfung ist zur fremden Kraft geworden, die ihr Leben beherrscht.
Wenn die Zeitungen vom "Konkurrenzdruck" berichten oder dem "Marktgesetz", schreiben sie, als seien es unpersönliche Kräfte, wie das Wetter oder die Gravitation und nicht das Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse. Dies ist eine der wesentlichen Einblicke, die Lukács' Buch gewährt. Hinter den unzähmbaren "Gesetzen" stehen Klassenbeziehungen, und diese verändern sich, so wie sich der Kampf entwickelt. Die Gesellschaft setzt sich nicht aus strengen und festen Institutionen zusammen, die von rigiden Gesetzen beherrscht werden, sie ist ein dynamische, eine sich immer wandelnde Garnitur sozialer Verhältnisse. Gesellschaft ist Geschichte, ein ständiger Prozeß des Wandels. Für Lukács ist sogar die Kommunistische Partei ein "Naturprozeß", weil sie nur durch Kampf und Erfahrung geschmiedet werden kann.
Lukács argumentiert, daß es ein besonderes Merkmal der kapitalistischen Gesellschaft ist, die ihre Klassenstruktur als natürlich und unausweichlich erscheinen läßt. In feudalen oder Sklavenhaltergesellschaften war die Herrschaft der unterdrückenden Klasse eine offensichtlichere Angelegenheit.
Diese Untersuchung ist es, die die Grundlage zum Verständnis dessen liefert, weshalb die Arbeiter die bürgerliche Ideologie akzeptieren.
Es reicht nicht aus zu sagen, daß das die Schuld des Fernsehens, der Presse usw. ist. Selbstverständlich propagieren sie die Ideen der herrschenden Klasse. Die Frage muß heißen: Warum akzeptieren sie die Arbeiter? Lukács hält eine materialistische Antwort bereit: Weil diese Ideen zu den wirklichen, entfremdeten Erfahrungen der Arbeiter im Kapitalismus passen.
Lukács aber sieht, daß die Arbeiter sich in einer einzigartigen Position befinden, von der aus sie den Griff dieses entfremdeten Bewußtseins brechen können. Letztendlich ist es ihre Arbeit, auf der das System beruht, und sie sind es, die das Gewicht der kapitalistischen Gesellschaft auf ihren Schultern lasten fühlen.
Die Kapitalistenklasse ist ebenfalls entfremdet; sie wähnt sich selbst hilflos in Anbetracht der unveränderlichen Marktgesetze. Aber sie sind, wie Marx sagt, "zufrieden in ihrer Entfremdung."

Lukács sagt:
"Das Riff, auf das die bürgerliche Ökonomie lief, war ihr Mißlingen, auch nur eine theoretische Lösung für das Problem der Krisen zu finden. Die Tatsache, daß eine wissenschaftlich akzeptable Lösung existiert, ist nutzlos. Diese Lösung zu akzeptieren hieße die Gesellschaft von einem Klassenstandpunkt aus zu beobachten, der sich von dem der Bourgeoisie unterschied. Und das kann keine Klasse tun. Es sei denn, sie wäre bereit, die Macht freiwillig abzugeben. So ist das Hindernis, das das Klassenbewußtsein der Bourgeoisie zu 'falschem' Klassenbewußtsein macht, ein objektives Hindernis; es ist die Klassensituation selbst."
So ist alles, was selbst die aufgeklärtesten bürgerlichen Philosophen und Sozialwissenschaftler tun können, außen vor zu stehen und die Welt mit einer Haltung des passiven Nachsinnens zu beobachten.
Das ist die Grundlage für Lukács' Kritik an der westlichen philosophischen Tradition: in ihr herrscht eine tiefe Kluft zwischen dem Beobachter (dem Subjekt) und der wirklichen Welt (dem Objekt).
Das ist der Grund für den Riß der alle bürgerlichen Sozialwissenschaften durchzieht. Ein Riß zwischen Denken und Wirklichkeit, Theorie und Praxis und zwischen der Gesellschaft, wie sie ist und die bessere, die sein sollte. Schlimmer noch, diese Sichtweise hat die Zweite Internationale befallen. Bernstein, der sich in ihrem rechten Lager befand, akzeptierte einfach die Gesellschaft, wie sie ist. Aber Kautsky, in ihrem linken Lager, war kaum besser. Er erwartete bloß, daß der Sozialismus automatisch kommt, als Resultat der ökonomischen Krisen. Keiner der beiden erfaßte die ganze Wahrheit, daß die Arbeiter auf der Grundlage der Tendenz zur Krise bewußt handeln mußten.
Das führte Lukács dazu, große Betonung auf die Vorstellung von "Totalität" zu legen. Er folgte Hegels Sichtweise, nach der "die Wahrheit das Ganze ist". Die bürgerliche Wissenschaft ist wohl in der Lage, partielle Wahrheiten zu erkennen, aber sie kenn niemals Zutritt zu ihren relativen Bedeutungen finden, weil ihre Klassenlage sie davor zurückhält, die Gesellschaft als ganze zu sehen.
Die Arbeiterklasse steht vor keiner solchen Hürde, wenn sie die Gesellschaft als ganze sehen wollen. Sie ist sowohl die Maschine, die die gesamte Gesellschaft produziert, als auch die Klasse, die die Motivation und die Mittel dafür hat, etwas zu tun, siobald sie sich dieser Tatsache bewußt ist. Es gibt, letztlich potentiell, zwischen Denken und Wirklichkeit, Theorie und Praxis.
Arbeiter sind, wenn entfremdetes Bewußtsein sie gefangenhält, das passive Objekt der Geschichte, können aber über politische Aktion zum aktiven Subjekt werden, das in der Lage ist, die Gesellschaft umzuwandeln. So existiert die Möglichkeit, die Gesellschaft als ganze zu sehen, für Arbeiter auf eine Art und Weise, wie es sie für die Bourgeoisie nicht gibt.
Totalität ist ein wichtiges Konzept für Marxisten, und Lukács hatte völlig recht das zu betonen, aber es ist eine Übertreibung von ihm, es zum einzig bestimmenden Kriterium der marxistischen Methode zu machen.
Gleichermaßen übertrieb Lukács, als er behauptete, der Marxismus könne mit seiner Untersuchungsmethode definiert werden. Die Gründe dafür werden von John Molyneux in "Die authentische marxistische Tradition" ausgeführt.
Aber Lukács' Konzept der Entfremdung lieferte auch andere wertvollere Einsichten. Entfremdung ist nichts, das die Arbeiter bloß in der Fabrik betrifft: es bedingt die ganze Struktur der kapitalistischen Gesellschaft, einschließlich der theoretischen und künstlerischen Theorien der Bourgeoisie. Daraus folgt, daß die Kämpfe, in denen Arbeiter mit dem Griff des entfremdeten Bewußtseins brechen, nicht bloß ökonomischer Natur sind.

Lukács lobt Marx Darstellung der schlesischen Weberrevolte, die festhielt, daß "ihr Kampfesruf den Herd, die Fabrik oder das Gebiet nicht einmal erwähnt haben... Wo andere Bewegungen sich ursprünglich nur gegen den Industriellen wandten, den sichtbaren Feind, griff diese auch den unsichtbaren an, namentlich den Banker."
Rückblickend sagte Lukács, seine Haltung sei die "von Lenin in 'Was tun?' gewesen, als er behauptete, daß ,sozialistisches Klassenbewußtsein sich vom spontan entwickelnden gewerkschaftlichen Bewußtsein unterscheidet'."
Einige Kritiker, üblicherweise Stalinisten oder eine andere Form mechanischer Materialisten, haben Lukács' Haltung fehlinterpretiert, nach der die Arbeiterklasse sowohl das objektive Fundament der Gesellschaft als auch die subjektive, aktive Kraft ist, die die Gesellschaft stürzt.
Sie behaupten, dies bedeute, alles was die Arbeiterklasse tun müsse, sei, ihr Bewußtsein zu ändern und die Revolution wäre vollendet. Lukács wird des Idealismus beschuldigt.
Auch nur ein flüchtiger Blick auf "Geschichte und Klassenbewußtsein" zeigt das Absurde daran.

Lukács beabsichtigte, entfremdetes Bewußtsein und völliges Klassenbewußtsein als zwei gegensätzliche Pole darzustellen. Er wußte, daß zu jedem bestimmten Punkt in der Geschichte jede Form von Abstufungen und Verschmelzungen beider Ideengarnituren in den Arbeiterköpfen existieren würden.
Er sagt: "Das Klassenbewußtsein des Proletariats entwickelt sich nicht gleichmäßig... große Teile des Proletariats verbleiben intellektuell unter der Vormundschaft der Bourgeoisie; selbst die schlimmste ökonomische Krise schafft es nicht sie wachzurütteln."
Lukács fährt fort: "Diese ideologische Umwandlung schuldet ihre Existenz tatsächlich der ökonomischen Krise, die die objektive Möglichkeit zur Machtergreifung geschaffen hat. Der Verlauf, den sie nimmt, bewegt sich nicht automatisch parallel zur Krise selbst. Diese Krise kann nur durch den freien Willen des Proletariats gelöst werden."
Das ist kein Idealismus. Es ist nur die Feststellung, daß ökonomische Krisen zwar ausschlaggebend sind, aber nicht ausreichen; die bewußte Tat ist notwendig.
Das genau ist der Grund für den Bedarf einer revolutionären Partei, die auf den fortschrittlichsten Teilen der Klasse beruht.

Lukács war sich darüber im klaren, daß das theoretische Skellett, das er geliefert hatte, mit dem Fleisch des wirklichen Lebens an ihm ganz anders aussähe. Tatsächlich unternimmt er einen gesonderten Versuch aufzuzeigen, wie die zugrundeliegenden aber unsichtbaren Gesellschaftsstrukturen mit den sehr unterschiedlichen Erscheinungen an der Oberfläche in Verbindung stehen.
Er spricht davon, wie entfremdetes Bewußtsein von der Staatsbürokratie, dem Fabriksystem und den reformistischen Parteien übertragen und verstärkt (oder vermittelt) wird. All das geschieht natürlich auf unterschiedliche Weisen.
Einer der großen Vorteile von Lukács' Werk liegt darin, daß er diesem Prozeß der Vermittlung einen besonderen und bedeutsamen Platz im Marxismus zuweist, wo sie zuerst viele mechanische Marxisten auf einer ad hoc?Grundlage hineingezogen haben, um eine Kluft zwischen Theorie und Realität aufzudecken.
Damit verbunden wird Lukács' "Geschichte und Klassenbewußtsein" vorgeworfen, es führe zur Ultra-Linkstümelei. Während es stimmt, daß Lukàcs eine zeitlang einer ultralinken Strömung angehörte, ist es nicht wahr, daß ultralinke Positionen automatisch aus "Geschichte und Klassenbewußtsein" hervorgehen.
Tatsächlich hatte Lukács zur Zeit, wo er den Schlußaufsatz schrieb, Lenins Kritik an der Ultra?Linkstümelei angenommen. Er verurteilt jede Sekte, die ja glaubt, daß sie als "'bewußte' Minderheit für die 'unbewußte' Masse zu handeln hat", weil sie den "wirklichen Geschichtsprozeß von der Bewußtseinsentwicklung der 'Masse' getrennt betrachtet" (S. 489).
Gerade deshalb, weil der Hauptfeind, dem er gegenüberstand, der Fatalismus der Zweiten Internationale war, betrachtete Lukács die Organisationsfrage "als eine der wichtigsten geistigen Fragen der Revolution" (S. 453). Deshalb hebt seine Arbeit die Bedeutung des Arbeiterbewußtseins hervor.
Dieses Werk und sein Buch "Lenin" von 1924 macht Lukács zum ersten Marxisten, der ausdrücklich Lenins Parteitheorie in den allumfassenden theoretischen Rahmen des Marxismus stellt. Als solche gab sie denjenigen die definitive Antwort, die den Leninismus als listig pragmatischen Opportunismus ansahen.
Das hätte Lukács nicht erreichen können, ohne erst eine systematische Theorie des Klassenbewußtseins zu entwickeln. "Geschichte und Klassenbewußtsein" umfaßt ein ungeheuer weites Gebiet und vertritt unnachgiebig die Schlußfolgerung, daß eine revolutionäre Partei notwendig ist.
Es gibt nur wenige Bücher, die so schwer zu lesen sind; es gibt aber ebenso wenige Bücher, die, richtig verstanden, so wertvoll für Marxisten sind.



George Lukács zum download:
  • Methodisches zur Organisationsfrage
  • Lenin - Studie über den Zusammenhang seiner Gedanken




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