Sozialismus von unten
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Marxismus und Imperialismus heute1

Alex Callinicos

Diese Zeilen werden zu einer Zeit geschrieben, da der militärische Angriff des Westens gegen den Irak wütet. Der Imperialismus - im weitestgefaßten Sinne von unmittelbarer Gewaltanwendung, um seinen Willen als Großmacht kleineren Staaten aufzuzwingen - hat Hochkonjunktur. Diese neue Wendung ist bemerkenswerterweise just zu einem Zeitpunkt eingetreten, da sich der Glaube verbreitet hat, die Welt sei in ein postimperialistisches Zeitalter eingetreten. Die zwei wichtigsten Argumente zur Begründung dieses Glaubens waren folgende.

Zum einen bestand die Erwartung, daß das Ende des Kalten Krieges etwas erzeugen würde, was George Bush "eine Neue Weltordnung" genannt hat. Es sollte eine Ordnung sein, in der zwischenstaatliche Auseinandersetzungen friedlich unter der Ägide der Vereinten Nationen geregelt werden können, Jetzt müssen wir erkennen, daß die neue Weltordnung nur die alte imperialistische ist - mit dem Unterschied, daß dank der (wahrscheinlich nur zeitweiligen) Freundschaft zwischen den Supermächten die USA jetzt die UNO benutzen können, um militärische Interventionen zu rechtfertigen, die sie früher auf die eigene Kappe nehmen mußten.

Das zweite Argument, das angeführt wird, um den Imperialismus auf den Müllhaufen der Geschichte zu weifen, rührt aus einer sehr weitverbreiteten Interpretation der dramatischen Veränderungen der Weltwirtschaft in den letzten 30 Jahren. Die Internationalisierung der Produktion und die damit einhergehende weltweite Integration des Kapitals hätten, so wird behauptet, den Krieg obsolet gemacht. Tim Congdon, ein führender britischer Monetarist, erklärte kürzlich:

    Der Ökonomische Nationalismus, eine der mächtigsten und zerstörerischsten Kräfte im zwanzigsten Jahrhundert, ist dabei sich zu überleben. Handel und Finanzen haben zunehmend einen internationalen Charakter angenommen, und die Geschäftsstrategien großer Konzerne sind dermaßen globalisiert, daß die Idee des Nationalstaates seine Bedeutung verliert.

Congdon machte klar, daß diese ökonomischen Veränderungen politische Konsequenzen zur Folge haben - darunter langfristig die Abschaffung von Kriegen:

    Die Vorstellung von einem Krieg zwischen England und Deutschland oder den USA und Japan ist natürlich schon jetzt lächerlich. Mit der Zeit werden militärische Widersprüche zwischen Nationen wirklich absurd werden, wenn die Abgeschiedenheit der Nationen abgebaut und schließlich bedeutungslos wird.2

Die Vorstellung, daß es wegen ihrer wechselseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeit nicht mehr im Interesse der Staaten liegen kann, Krieg zu führen, ist alles andere als neu. Im Vorfeld des Ersten Weltkriegs veröffentlichte der Friedensaktivist Norman Angell 1910 The Great Illusion. Darin versuchte er zu beweisen, daß ein allgemeiner Krieg zwischen den Großmächten ökonomisch so zerstörerisch wäre, daß sie wohl kaum ein solch irrationales Abenteuer wagen würden. Diese Analyse wurde dann von Karl Kautsky in eine scheinbar marxistische Form gegossen - in seinem berühmtberiichtig-ten Artikel, der unmittelbar nach Ausbruch des Weltkriegs, im August 1914, veröffentlicht wurde:

    Für die Fortsetzung des Rüstungswettlaufs nach dem Weltkrieg gibt es keine ökonomische Notwendigkeit, auch nicht vom Standpunkt der kapitalistischen Klasse selbst, mit Ausnahme von gewissen Rüstungsinteressen. Im Gegenteil, die kapitalistische Wirtschaß wird genau durch diese Auseinandersetzungen ernsthaß bedroht. Jeder weitsichtige Kapitalist muß heute seinen Kameraden zurufen: Kapitalisten aller Länder, vereinigt Euch!3

Und Kautsky setzt seine Argumentation fort, daß wirtschaftliche Entwicklungen die Kapitalisten zur weltweiten Einheit zwingen könnten:

    Was Marx über den Kapitalismus sagte, kann auch auf den Imperialismus angewandt werden: das Monopol schafft Konkurrenz und die Konkurrenz das Monopol. Die erbinerte Konkurrenz zwischen den riesigen Unternehmen, Banken und Multimillionären zwang die großen Finanzgruppen, die die Kleinen schluckten, das Kartell zu erfinden. Ahnlich kann der Weltkrieg zwischen den großen imperialistischen Mächten eine Föderation der Stärksten zum Ergebnis haben, die auf ihren Rüstungswettlauf verzichten.
    Vom rein Ökonomischen Standpunkt ist es für den Kapitalismus nicht unmöglich, jetzt in einer anderen Phase zu überleben, indem dieser Prozeß der Kartellbildung auf die Außenpolitik übertragen wird: in der Phase des Ultraimperialismus
    4.

Kautskys Voraussage, daß die interimperialistischen Widersprüche innerhalb des Rahmens eines weltweiten kapitalistischen Kartells friedlich gelöst werden könnten, blieb lange Zeit ohne praktische Bedeutung, nämlich solange "die allgemeine Krise und der 30jährige Krieg des 20. Jahrhunderts" (Arno Mayer) zwischen 1914 und 1945 währte.5 In jüngerer Vergangenheit wurde die Idee allerdings wiederbelebt, daß der Imperialismus nur eine Phase in der Geschichte des Kapitalismus sei, eine Phase, die bereits überwunden wurde bzw. derzeit überwunden wird. Am einflußreichsten war vielleicht Bill Warrens Versuch aufzuzeigen, daß die Dritte Welt seit dem Zweiten Weltkrieg "einen enormen Aufschwung der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse und Produktivkräfte" erlebt hat, und nicht, wie Dependenz-Theoretiker à la Andre Gunder Frank behaupten, eine "Entwicklung der Unterentwicklung". Daraus zieht er den Schluß:

    Im Rahmen der wachsenden gegenseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeit lockern sich oder haben sich die Bande der Abhängigkeit (bzw. Unterordnung), die die Dritte Welt und die imperialistische Welt verbinden, mit dem Aufkommen eines einheimischen Kapitalismus bereits merklich gelockert: Die Verteilung der politisch-ökonomischen Macht innerhalb der kapitalistischen Welt wird deshalb zunehmend weniger ungleich. Obwohl eine Dimension des Imperialismus die Beherrschung und Ausbeutung der nicht-kommunistischen Welt durch eine handvoll großer fortgeschrittener kapitalistischer Länder ist (USA, Westdeutschland, Großbritannien, Frankreich, Japan, usw), befinden wir uns trotzdem in einem Zeitalter des niedergehenden Imperialismus und des fortgeschrittenen Kapitalismus.6

Zweifellos sind die ökonomischen Veränderungen in den vergangenen 30 Jahren riesig: die Globalisierung des Kapitals, der Aufstieg der "Newly Industrialising Countries" (NICs), der relative Niedergang der beiden Supermächte. In diesem Artikel möchte ich der Frage nachgehen, ob diese Veränderungen (und die damit verbundenen politischen Umwälzungen, insbesondere jene, die mit dem Ende des Kalten Krieges in Zusammenhang stehen) noch im Rahmen der marxistischen Theorie des Imperialismus verstanden werden können. Je nachdem, wie man diese Frage beantwortet, hat das große praktische Bedeutung: Es wird sich zeigen, ob das Schlachten am Golf der letzte Atemzug einer sterbenden und überholten Form des Kapitalismus ist oder die wesentliche Funktionsweise eines Systems, das nach wie vor für das Entstehen imperialistischer Kriege verantwortlich ist. Um diese Frage anzugehen, muß zunächst festgehalten werden, was die marxistische Theorie des Imperialismus eigentlich ist.

Die marxistische Theorie des Imperialismus

Der Imperialismus kann sehr weit oder sehr eng gefaßt werden: Bezogen auf die Menschheitsgeschichte bedeutet Imperialismus die Beherrschung kleiner Länder durch stärkere Staaten. Enggefaßt bezeichnet Imperialismus jene Politik, die von den Großmächten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verfolgt wurde, nämlich die Unterwerfung des größten Teils der restlichen Welt unter ihre formelle Herrschaft Die klassische marxistische Definition, die Lenin gegeben hat, ist spezifischer als die weite Definition und allgemeiner als die enge. Imperialismus ist weder eine universelle Eigenschaft der menschlichen Gesellschaft, noch eine besondere Politik, sondern "ein besonderes Stadium in der Entwicklung des Kapitalismus", bzw., wie der Titel von Lenins Schrift feststellt, "das höchste Stadium des Kapitalismus". Lenin versuchte, dieses Stadium der kapitalistischen Entwicklung zu charakterisieren, indem er folgende berühmte Definition des Imperialismus anbot:

(1) Konzentration der Produktion und des Kapitals, die eine so hohe Entwicklungsstufe erreicht hat, daß sie Monopole schafft, die im Wirtschaftsleben eine entscheidende Rolle spielen;
(2) Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital und Entstehung einer Finanzoligarchie auf der Basis dieses "Finanzkapitals";
(3) der Kapitalexport, im Unterschied zum Warenexport, gewinnt besonders wichtige Bedeutung;
(4) es bilden sich internationale monopolistische Kapitalistenverbände, die die Welt unter sich teilen, und
(5) die territoriale Aufteilung der Erde unter die kapitalistischen Großmächte ist beendet.
7

Von großen Teilen der Linken wird Lenins Definition so oft wie ein Dogma, wie eine unleugbare Wahrheit behandelt, daß es durchaus angebracht ist, auf ihre Begrenztheit hinzuweisen. Erstens ist die Definition ganz offensichtlich eine Aufzählung dessen, was Lenin die wesentlichen Züge des Imperialismus nennt. Doch anhand dieser Aufzählung ist es nicht möglich, die relative Bedeutung der einzelnen Merkmale festzulegen. Das ist eine ernsthafte Schwäche, seitdem klar geworden ist, daß einige Züge weitaus weniger wesentlich sind als andere. Z.B. war das Finanzkapital, die Integration von Bank- und Industriekapital, in einigen imperialistischen Staaten viel stärker entwickelt als in anderen, in Deutschland viel mehr als in Großbritannien. Darüber hinaus war die Beziehung zwischen kolonialer Expansion und dem Wachstum überseeischer Investitionen nicht nur beträchtlich ungleicher als Lenin nahelegt, sondern einige imperialistische Mächte, insbesondere die USA und Japan, waren bis 1914 sogar Kapitalimporteure.8

Lenins grundlegende Auffassung vom Imperialismus hält dieser Kritik jedoch stand. In weiser Voraussicht unterstrich er "den bedingten und relativen Wert aller allgemeinen Definitionen". Schließlich hatte seine Schrift Imperialismus nicht den Anspruch, eine abgeschlossene wissenschaftliche Studie zu sein, sondern eher, wie ihr Untertitel sagt, "ein gemeinverständlicher Abriß", der sich stark auf solche bahnbrechende Werke wie den Imperialismus des Radikalliberalen J.A.Hobson und das Finanzkapital des Austromarxisten Rudolf Hilferding stützte. Auf der Grundlage dieser Untersuchungen blieb Lenin keine Zweifel daß "der Imperialismus seinem ökonomischen Wesen nach Monopolkapitalismus ist. Schon dadurch ist der historische Platz des Imperialismus bestimmt, denn das Monopol, das auf dem Boden der freien Konkurrenz und eben aus der freien Konkurrenz erwächst, bedeutet den Übergang von der kapitalistischen zu einer höheren ökonomischen Gesellschaftsformation".9 Die Widersprüche und Kriege zwischen den Großmächten waren deshalb nicht nur bloße Auswüchse, wie Kautsky nahelegte, sondern entsprangen der Dynamik der kapitalistischen Entwicklung, insbesondere der Tendenz, die Marx als Tendenz zur Konzentration und Zentralisation des Kapitals analysiert hatte. Sie konnten deshalb nur durch die sozialistische Revolution beendet werden.

Nach der schärferen und systematischeren Version der Theorie von Bucha-rin entspringt der Imperialismus der dem Kapitalismus innewohnenden Tendenz zur Zentralisation:

    Der Zentralisationsprozeß entwickelt sich Schritt für Schritt weiter. Gemischte Unternehmungen und Bankkonzerne fassen die gesamte nationale Produktion zusammen, die die Form eines Verbandes der Verbände annimmt und sich somit in einen staatskapitalistischen Trust verwandelt. Die Konkurrenz erreicht die höchste und letzte denkbare Entwicklungsstufe: die Konkurrenz der staatskapitalistischen Trusts auf dem Weltmarkt... Die kapitalistische Annexion ist somit ein Sonderfall der allgemeinen kapitalistischen Tendenz zur Zentralisation des Kapitals..10

Nach dieser Auffassung hat der Imperialismus zwei grundlegende Wesenszüge. Der erste entspringt der Tendenz zur Konzentration und Zentralisation des Kapitals. Die konkurrierende Anhäufung von Kapital führt sowohl zu einem Wachstum in der Größe der einzelnen Kapitaleinheiten als auch zum Schlucken des kleineren durch das größere Kapital, insbesondere in der Krise. Die ökonomische Macht wird zunehmend konzentriert. Branchen werden monopolisiert, von einer Handvoll großer Unternehmen oder vielleicht nur von einem riesigen Konzern beherrscht. Darüberhinaus tendiert das Industriekapital zur Verschmelzung mit den großen Banken, zur Bildung des Finanzkapitals. Das letzte Stadium dieses Prozesses der "Organisation" ist die wachsende Integration des privaten Kapitals mit dem Nationalstaat, mit anderen Worten, die Entstehung des Staatskapitalismus, Der zweite Wesenszug ist, daß diese nationale Organisation des Kapitalismus im Rahmen einer wachsenden Internationalisierung der Produktivkräfte stattfindet. Die Weltwirtschaft, die Bucharin als "ein System von Produktionsverhältnissen und entsprechenden Austauschverhältnissen im internationalen Ausmaß"11 definiert, bildet eine Arena, in der die "staatskapitalistischen Trusts" konkurrieren. Die Konkurrenz zwischen den Kapitalien ist nicht mehr einfach der Kampf zwischen privaten Unternehmen um Märkte: Zunehmend nimmt sie die Form militärischer und territorialer Rivalitäten zwischen Staatskapitalien im Weltmaßstab an. "Der Kampf unter den staatskapitalistischen Trusts wird in erster Linie durch das Verhältnis ihrer militärischen Machtmittel entschieden, denn die militärische Macht eines Landes ist die letzte Instanz, an die die kämpfenden ,nationalen' Kapitalistengruppen appellieren."12 Interimperialistische Kriege wie die von 1914-1918 und 1939-1945 sind Wesensziige einer zwischen konkurrierenden Kapitalien aufgeteilten Weltwirtschaft.

Bucharins Version der Theorie des Imperialismus hat auch ihre Schwächen. Er unterschätzt insbesondere das Ausmaß, in dem die beiden Tendenzen, die er dem Imperialismus zuschreibt - nämlich die Tendenz zum Staatskapitalismus und die Tendenz zur Intemationalisierung des Kapitals - miteinander in Widerspruch geraten können. Folglich behandelt er Volkswirtschaften wie vollständig "organisierte" staatskapitalistische Blöcke, in denen jede Tendenz zu wirtschaftlichen Krisen (im Gegensatz zu Kriegen) eliminiert ist.13 Trotz dieser Irrtümer können wir Bucharins Theorie benutzen, um die wesentlichen Charakterzüge des Imperialismus als ein besonderes Stadium in der Geschichte des Kapitalismus zu bestimmen. Wir können dann die Theorie des Imperialismus wie folgt zusammenfassen:

    1.  Der Imperialismus ist ein Stadium in der kapitalistischen Entwicklung, in dem i) die Konzentration und Zentralisation des Kapitals tendenziell zur Integration des privaten Monopolkapitals mit dem Staat führt; und ii) die Internationalisierung der Produktivkräfte tendenziell die Kapitalien zwingt, um Märkte, Investitionen und Rohstoffe auf internationaler Ebene zu konkurrieren.

    2.  Wesentliche Konsequenzen dieser zwei Tendenzen sind u.a. die folgenden:
    i) die Konkurrenz zwischen den Kapitalien nimmt die Form militärischer Rivalitäten zwischen Nationalstaaten an;
    ii) die Verhältnisse zwischen den Nationalstaaten sind ungleich: Die ungleiche und kombinierte Entwicklung des Kapitalismus macht es einer kleinen Zahl fortgeschrittener kapitalistischer Staaten (den imperialistischen Ländern) möglich, kraft ihrer produktiven Ressourcen und ihrer militärischen Stärke, den Rest der Welt zu beherrschen;
    iii) die ungleiche und kombinierte Entwicklung unter dem Imperialismus verschärft die militärische Konkurrenz weiter und fuhrt zu Kriegen, sowohl zu Kriegen zwischen den imperialistischen Mächten selbst, als auch Kriegen, die aus den Kämpfen unterdrückter Nationen gegen die imperialistische Herrschaft entstehen.14

Das ist eine abstraktere Definition des Imperialismus als die von Lenin, aber sie beinhaltet den Kern seiner Auffassung, Ein Vorteil dieser Definition ist, daß sie dazu benutzt werden kann zu zeigen, wie die Dynamik des Imperialismus unterscheidbare Phasen in seiner Entwicklung hervorbringt. Der Rest des vorliegenden Artikels ist größtenteils der Analyse dieser Phasen gewidmet.

Man kann in der Geschichte des Imperialismus drei Hauptphasen ausmachen: Die Periode des Klassischen Imperialismus von 1875-1945, jenes Imperialismus, der von Lenin und Bucharin, Luxemburg und Hilferding, Kautsky und Hobson analysiert wurde und zu Mayers "Dreißigjährigem Krieg" führte. Die Periode des Supermacht-Imperialismus von 1945 bis 1990, als die Welt politisch zwischen zwei militärisch konkurrierenden Supermacht-Blöcken aufgeteilt war. Und schließlich den Imperialismus nach dem Kalten Krieg, Bushs "Neue Weltordnung" - in Wirklichkeit eine instabilere Version der alten.

Jede Art Zeiteinteilung beinhaltet einen gewissen Grad an Willkür. Wie in der folgenden Diskussion genauer herausgearbeitet wird, sind Wesenszüge jeder Phase typischerweise in einer weniger entwickelten Form schon in der vorhergehenden Phase vorhanden. Eine solche Aufteilung der Geschichte des Imperialismus hilft meines Erachtens trotzdem, die zugrundeliegende Dynamik und die daraus folgenden Veränderungen zu beleuchten. Aus Gründen, die auf der Hand liegen, wird der zeitgenössische Imperialismus die detaillierteste Beachtung finden.

Archaischer Imperialismus?

Zuerst ist es jedoch sinnvoll, den anspruchsvollsten bürgerlichen Versuch zu betrachten, den Imperialismus als eine seinem Wesen nach vorkapitalistische Erscheinung zu erklären. Die bekannteste Formulierung dieser Theorie ist wohl die des österreichischen Ökonomen Joseph Schumpeter. In einem Aufsatz, der während des Ersten Weltkriegs geschrieben wurde, beschreibt er den Imperialismus als "arationale und irrationale, rein triebhafte Neigung[en] zu Krieg und Eroberung". Daraus folgt, daß der Imperialismus "ein Atavismus" ist, also zu jenen Phänomenen zählt, "die nicht aus den Lebensbedingungen der jeweiligen Gegenwart, sondern aus den Lebensbedingungen der jeweiligen Vergangenheit zu erklären sind, vom Standpunkt der ökonomischen Geschichtsauffassung also jeweils aus den vergangenen, nicht aus den gegenwärtigen Produktionsverhältnissen". Genauer gesagt, der Imperialismus spiegelt die weiterbestehende Beherrschung Europas durch quasi-absolute Monarchien und den grundbesitzenden Adel wider, deren Existenzgrund immer die Kriegsführung war. Die Bourgeoisie ist einem wesentlich feudalen "imperialistische[n] Fürstenstaat" untergeordnet, daher auch, wie Schumpeter es nennt, "ihre klägliche Schwäche in Politik, Lebensform und kulturellem Wollen", "weil sich eine kriegerisch orientierte Klasse in herrschender Position erhielt".15

Schumpeter war in diesem Jahrhundert einer der anspruchsvollsten intellektuellen Verteidiger des Kapitalismus. Interessanterweise wurde seine Interpretation des Imperialismus vor kurzem durch den amerikanischen linksliberalen Historiker Arno Mayer wiederbelebt. In seinem einflußreichen Buch The Persistance of the Old Regime [Das Fortdauern des Alten Regimes] legt Mayer dar, daß Europa vor 1914 "vollkommen vorindustriell und vorbürgerlich" blieb. Der grundbesitzende Adel dominierte noch sozial und politisch und konnte die Herausforderung einer industriellen Bourgeoisie abwehren, die ihrerseits bereit war, sich in die alte Ordnung kooptieren zu lassen, anstatt für sich selbst die Vorherrschaft zu fordern. Als um die Jahrhundertwende die alte Ordnung unter zunehmenden Druck geriet, setzten die adligen herrschenden Klassen eine konservative Reaktion in Gang, die die Haupttriebfeder für den Krieg in Europa bildete. So "beschickten innere Klassen-, Status- und Machtkonflikte den äußeren Krieg mit unabhängigen und ideologischen Impulsen". Der Wettlauf zum Krieg muß als Auswuchs inländischer Klassenkämpfe gesehen werden; der "Bruch des internationalen Systems in zwei starre Blöcke" vor 1914 "war eher Wirkung als Ursache. Europas militärischer Behemoth, riesig und grotesk zugleich, war der Ausdruck der allgemeinen Krise, in der die Ultra-Konservativen die Oberhand gewannen."16 Mayer hat diese Analyse in seinem berühmten Erklärungsversuch für die Vernichtung der europäischen Juden durch die Nazis fortgesetzt. Dabei argumentiert er, daß die Judenvernichtung auf dem Hintergrund "einer Epoche allgemeiner Krise" gesehen werden muß. "Die Eliten und Institutionen des alten Regimes in der Festung Europa standen in einem Todeskampf mit den Eliten einer herausfordernden neuen Ordnung," An diesem Kampf waren z.B. beteiligt "der Handels- und Manufakturkapitalismus (sic) gegen Monopol- und organisierten Kapitalismus" und "gewohnheitsmäßig herrschende Klassen gegen akademische strategische Eliten".17

Es sollte eigentlich klar sein, warum diese Theorie des Imperialismus - auch wenn von Mayer vertreten, der sich selbst als einen "linken Dissidenten der Geschichtswissenschaft" bezeichnet - als eine bürgerliche Theorie anzusehen ist.18 Es ist eine Theorie, die den Kapitalismus von der Verantwortung für die schrecklichen Katastrophen, die die Menschheit zwischen 1914 und 1945 in den Abgrund stürzten, freispricht. Mayers Untersuchung über das, was er den "Judeozid" nennt, ist ein tapferer Versuch, den Massenmord an den Juden durch die Nazis historisch zu erklären und es nicht bloß als eine einzigartige, nicht analysierbare Erscheinung zu behandeln. Dabei sieht er jedoch das größte Verbrechen in der menschlichen Geschichte nicht als Folge der schlimmsten Krise, die der Kapitalismus in seinem höchsten Stadium durchmachte, sondern als Folge des Zusammenpralls zwischen der alten Feudalordnung und der bürgerlichen Modernität.

Schumpeter unterstreicht den apologetischen Charakter seiner Theorie, wenn er sagt, daß eine "rein kapitalistische Welt keinen Nährboden für imperialistische Impulse bieten" könnte:

    Was kriegerische Energie war, wäre in einer rein kapitalistischen Welt Arbeitsenergie aller Art. Und Eroberungskriege, überhaupt die Abenteuer einer aktivistischen äußeren Politik, müßten als leidige Störung, als Zerstörung des Sinns des Lebens, als Ablenkung von den gewohnten - daher "wahren" - Aufgaben empfunden werden.19

Dieses Argument steht und fallt mit der Behauptung, daß der staatsinterven-tionistische Charakter des Imperialismus (die wichtigste Maßnahme am Ende des 19. Jahrhunderts war der Schutzzoll) vom kapitalistischen Standpunkt aus irrational war. Dies wiederum setzt eine Art Kapitalismus voraus, die man nur in den Lehrbüchern der neo-klassischen Ökonomie findet, eine Welt, die von vollkommener Konkurrenz gesteuert wird, in der kein Einzelunternehmen den Markt, für den es produziert, beeinflussen kann. Schumpeter tritt für eine solche Sichtweise des Kapitalismus ein, erkennt aber bemerkenswerterweise gleichzeitig an, daß der "Monopolkapitalismus Großbanken und Kartelle beinahe verschmolzen" und eine mächtige Klasse geschaffen hat, die ein "starkes, unzweifelhaft ökonomisches Interesse an Schutzzöllen, Kartellen, Monopolpreisen, Exportforcieren (Dumping), aggressiver Wirtschaftspolitik, aggressiver äußerer Politik überhaupt, Kriegen, schließlich Expansionskriegen von typisch imperialistischem Charakter" besitzt. Doch obwohl Schumpeter offensichtlich Hilferdings Theorie mit Stumpf und Stiel übernimmt, besteht er weiter darauf, daß "aus den grundlegenden Gesetzen der kapitalistischen Entwicklung kein Exportmonopolismus hervorwächst". Denn die Schutzzölle, von denen die Trusts und Kartelle abhingen, seien ja von Staaten eingeführt worden, die auf dem europäischen Kontinent vor 1914 vorwiegend noch vorkapitalistische absolute Monarchien waren 20

Damit setzt er aber das "Fortdauern der alten Ordnung" einfach voraus. Das ist eine sehr beliebte Argumentationslinie in Großbritannien, insbesondere in der Form von Perry Andersens und Tom Nairns Behauptung, daß die politische und ideologische Unterordnung der industriellen Bourgeoisie unter die grundbesitzende Aristokratie den "Great Reform Act" von 1832 überlebte und in der Gestalt der wirtschaftlichen Vormachtstellung der "City of London" bis ins 20. Jahrhundert fortdauert. Im gewissen Sinne ist das Argument Mayers eine Übertragung dieser Interpretation der englischen Geschichte auf Europa als Ganzes.21 Diese Theorie wurde nicht nur in ihrer britischen Version auseinandergenommen: Denn auch in dem näherliegenderen Fall des kaiserlichen Deutschlands wurde der überzeugende Nachweis erbracht, daß der Staat, obwohl von Großgrundbesitzern, den Junkern, besetzt, im Interesse des industriellen Kapitals handelte.22 Das Europa von vor 1914 war eine bürgerliche Zivilisation, in der die noch beträchtlichen Überbleibsel der alten grundherrlichen Ordnung unterhöhlt und assimiliert wurden durch einen industriellen Kapitalismus, der sich zwar ungleichmäßig entwickelte aber in wachsendem Maße den gesamten Kontinent prägte.23

Die Schumpeter-Mayer Theorie des Imperialismus kann nur zu dem Preis einer enormen Verdrehung der historischen Tatsachen aufrechterhalten werden. So argumentiert Schumpeter (der im Gegensatz zu Mayer oder Anderson keinerlei Zweifel über das vollblütige kapitalistische Wesen der britischen Gesellschaft hegte), daß der Imperialismus in Großbritannien nur eine Schlagwort war: Nicht nur seien die Kolonien während der viktorianischen Blütezeit zu einem ökonomischen Hindernis für den freien Handel geworden, sondern es sei "zweifelhaft, ob man von einem englischen Imperialismus in unserem Sinne für das 18. Jahrhundert sprechen kann"24. Das sind erstaunliche Behauptungen. Erstens: Während des 18. Jahrhunderts erhöhte der britische Staat massiv die Militärausgaben, um eine mächtige Kriegsmaschine aufzubauen, deren Kern die Königliche Flotte war. Das machte eine Reihe kolonialer Eroberungen möglich, die für die wachsende Vorherrschaft Großbritanniens auf dem Weltmarkt entscheidend waren.25 Zweitens: Die Eroberung dessen, was manchmal Großbritanniens "Zweites Imperium" genannt wird (der größte Teil des ersten war in der amerikanischen Revolution verlorengegangen), fand während der viktorianischen Ära des laissez-faire statt.26 Auch wenn es oft sehr spezifische Gründe für einzelne Eroberungen gab, so wurden doch die zugrundeliegenden Wirkungskräfte manchmal ziemlich deutlich sichtbar. Schumpeter geht großzügig über den Burenkrieg von 1899-1902 hinweg, den er "als eine aus der allgemeinen Tendenz herausfallende Zufallsaberration" abtut.27 Tatsächlich war er der größte Krieg, den Großbritannien zwischen 1815 und 1914 führte. Jüngste historische Forschungen haben Hobsons zeitgenössische Argumentation bestätigt, wonach der Krieg von einer Allianz zwischen dem britischen Imperialismus und den Bergbaukapitalisten provoziert wurde, die darauf erpicht waren, der südafrikanischen Republik die Kontrolle über die riesigen Goldlager des Witwatersrand zu entreißen.28

Diese und andere Absurditäten (Schumpeter behauptet sogar, daß die USA, die "am wenigsten mit vorkapitalistischen Elementen, Tatbeständen, Remineszenzen und Machtfaktoren belastet" waren, daher "den schwächsten Imperialismus aufweisen" müßten!) sollten uns nicht dazu verleiten, die Bedeutung seiner Theorie des Imperialismus als einer "atavistischen" Erscheinung zu unterschätzen. Sie stellt den ernsthaftesten Versuch dar aufzuzeigen, daß "der Kapitalismus seinem Wesen nach anti-imperialistisch ist".29 Die politischen Folgerungen sind weitreichend Der Kapitalismus geht nicht nur aus den Schrecken von 1914-1945 mit sauberer Weste hervor, sondern er ist auch eine Produktionsweise, die erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorherrschend wurde. Tom Nairn betont diesen Punkt ausdrücklich:

    Im Lichte von Mayers Paradigma war die Zeit von 1914 bis 1945 ein einziger "Dreißigjähriger Krieg" der Zersetzung undRache. Mitanderen Worten, das europäische ancien règime ist noch nicht uralt, sondern gerade Geschichte geworden: Der Donnerschlag seines Zusammenbruchs klingt noch in unseren Ohren, der charakteristischste Klang des Jahrhunderts, und der Staub hat sich erst seit den 50er Jahren gelegt... Wenn der "Triumph" der bürgerlichen Klasse und der industriekapitalistischen Werte die Herausbildung einer Reihe von einigermaßen homogenen, von diesen Normen regulierten Gesellschaften - also eines stabilen und friedlichen Staatensystems auf etwa der gleichen Entwicklungsstufe - bedeutet, dann ist das gerade eben erst soweit. Wir würden deshalb in der ersten Dekade eines wirklichen kapitalistischen Aufstiegs leben und nicht (worauf so viele linke und kommunistische Theoretiker bestanden haben) in seinen "letzten Tagen" - in etwas, wie dem vollen Strom der kapitalistischen gesellschaftlichen Evolution, und nicht in einer erschöpften "spätbürgerlichen Welt", die ihrem sozialistischen Schicksal nicht mehr entrinnen kann.30

Diese Argumentation wurde vor den osteuropäischen Revolutionen veröffentlicht, aber sie paßt perfekt zu der in weiten Teilen der Linken und der Rechten verbreiteten Vorstellung, daß diese Erhebungen den Triumph der kapitalistischen freien Marktwirtschaft und den Anfang einer neuen Ära des Wachstums und der Prosperität signalisieren. Wenn der "Kapitalismus seinem Wesen nach antiimperialistisch ist", dann folgt aus seiner Vorherrschaft, daß man ein Ende der militärischen Konkurrenz und des Krieges erwarten kann. Schumpeter argumentiert auch, daß die "vorkapitalistischen Elemente unseres sozialen Lebens" nicht unendlich "das Klima der modernen Welt" überleben können und daß "mit ihnen werden die Imperialismen verkümmern".31 Warum hat dann die Periode seit 1945, die Nairn "den vollen Strom der kapitalistischen gesellschaftlichen Evolution" nennt, so viele Kriege erlebt, wenn auch keinen Weltkrieg zwischen den Großmächten? Eine verbreitete Erklärung auf der Linken war, diese Konflikte auf einen globalen "Kampf der Systeme" zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Produktionsweise zu reduzieren.32 Doch ganz abgesehen von der Problematik, den nun weitgehend gestorbenen Ostblock als irgendeine Form von Sozialismus zu betrachten, ist es schwierig, aus dieser Perspektive zu erklären, warum auf das Ende des Kalten Krieges so rasch ein größerer Krieg zwischen dem scheinbaren Sieger und einer Regionalmacht der Dritten Welt folgte. Hier scheint es nur zwei Alternativen zu geben. Entweder lehnt man die Theorie ab, wonach der Imperialismus seine Wurzeln in "vergangenen Produktionsverhältnissen" hat, und setzt an ihre Stelle die These von einem unabhängigen Prozeß der militärischen Konkurrenz, um das Fortbestehen von zwischenstaatlichen Rivalitäten und Kriegen zu erklären. Wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, führt uns dieser Ansatz allerdings nicht sehr weit.33 Oder aber man kehrt zurück zur marxistischen Theorie des Imperialismus als unentbehrliches Erklärungsmuster für die Veränderungen, die das kapitalistische Weltsystem in den vergangenen 125 Jahren erfahren hat. Dieser zweite Weg scheint sehr viel attraktiver zu sein.

Der Klassische Imperialismus 1875 - 1945

1. Eine ökonomisch und politisch multipolare Welt. Die moderne europäische Geschichte seit dem 15. Jahrhundert wird von einem kontinuierlichen, grausamen Prozeß militärischer und territorialer Konkurrenz zwischen den Großmächten beherrscht. Eine Möglichkeit, das Wesen des Imperialismus zu erfassen, ist den Punkt zu bestimmen, an dem sich dieser Prozeß mit der Ausdehnung des industriellen Kapitalismus verband und ihr untergeordnet wurde. Eric Hobsbawm beobachtete, daß beim Kapitalismus des späten 19. Jahrhunderts "die Weltwirtschaft nun bemerkenswert pluralistischer war als vorher. Großbritannien hörte auf, die einzige vollständig industrialisierte, genau genommen die einzige industrialisierte Wirtschaft zu sein."34 Ein Faktor in diesem Wandel war, was William McNeill die "Industrialisierung des Krieges" Mitte des 19. Jahrhunderts nennt: die Zunahme der Mobilität, die möglich wurde durch die Eisenbahn und das Dampfschiff, die Massenproduktion neuer Waffen wie das Hinterladergewehr und das Maschinengewehr. Die militärische Macht der Staaten hing nun direkt vom Grad ihrer Industrialisierung ab. Die großen absoluten Monarchien Zentral- und Osteuropas - Preußen, Österreich-Ungarn, Rußland - waren nun gezwungen, die Ausdehnung des industriellen Kapitalismus zu fördern, um die materielle Basis für eine moderne Streitmacht zu schaffen. Zur gleichen Zeit verschärfte die Ausbreitung des industriellen Kapitalismus die Rivalitäten zwischen den Großmächten, vor allem als Großbritannien seine Vorherrschaft in der Industrie und in der Kriegsmarine durch Deutschland bedroht sah. Das Ergebnis war ein Wettrennen in der Flottenbewaffnung, das von schnellen technologischen Innovationen vorangetrieben wurde, sowie die Eingliederung Großbritanniens in einen der beiden großen Militärblöcke, in die Europa nun gespalten war. Ökonomische und militärische Konkurrenz verstärkten sich wechselseitig in einer Welt, die von einer Handvoll Staaten beherrscht wurde.35

2. Koloniale Expansion. "Der Übergang des Kapitalismus zum Stadium des Monopolkapitalismus, zum Finanzkapital, [ist] mit einer Verschärfung des Kampfes um die Aufteilung der Welt verknüpft", schrieb Lenin.36 Der europäische Kolonialbesitz stieg von 2,7 Millionen Quadratmeilen und 148 Millionen Einwohnern im Jahr 1860 auf 29 Millionen Quadratmeilen und 568 Millionen Einwohnern im Jahr 1914. Dabei war dieser Prozeß der Expansion noch nicht einmal beendet, da die Besitzungen des Osmanischen Reiches im Nahen und Mittleren Osten erst nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zwischen Frankreich und Großbritannien aufgeteilt wurden. Die koloniale Eroberung wurde von einem riesigen Anstieg der europäischen Auslandsinvestitionen begleitet, von zwei Mrd. Pfund 1862 auf 44 Mrd. Pfund 1913.37

Daraus folgt nicht, wie grobe Interpretationen der Leninschen Theorie nahelegen, daß der Imperialismus seine Dynamik aus dem Kapitalexport zur Ausbeutung kolonialer Sklaven schöpfte. Denn eines ist festzuhalten: Die Ausdehnung der Auslandsinvestitionen war höchst ungleichmäßig. Großbritannien war, beginnend mit den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts, der erste und bei weitem größte Exporteur von Kapital, Frankreich folgte in den späten 70er, Deutschland erst nach 1900, während die USA und Japan vor 1914 Kapital importierten. Ferner, wie Hobsbawm betont,

    fanden beinahe 80 Prozent des europäischen Handels während des 19. Jahrhunderts, sowohl Export als auch Import, mit anderen entwickelten Ländern statt, und das Gleiche gilt für die europäischen Auslandsinvestitionen. Insoweit diese nach Übersee gelenkt wurden, gingen die meisten zu einer Handvoll sich schnell entwickelnder Länder, die hauptsächlich von Siedlern europäischer Herkunft bevölkert waren -Kanada, Australien, Südafrika, Argentinien, usw. - wie natürlich auch in die USA.38

Dieses Muster tritt auch sehr klar in den Zahlen über die britischen Überseeinvestitionen in Tabelle l hervor.

Tabelle 1
Regionales Muster britischer Überseeinvestitionen 1860-1929 (in %)39
Regionen                    1860-70    1881-90   1911-13   1927-29
------------------------------------------------------------------
Britisches Reich insgesamt     36        47        46        59

Kanada                         25        13        13        17

Südliche Dominions              9,5      16        17        20

Indien                         21        15       104        14

andere                          3         3         5,5       8

Südamerika                     10,5      20        22        22

USA                            27        22        19         5,5

Europa                         25         8         6         8

andere                          1,5       3         7         5,5
Quelle: M Barratt Brown, The Economics of Imperialism, Harmondsworth 197,4 Tabelle 17,S.190-91

Trotzdem spielten die Kolonien eine lebenswichtige wirtschaftliche Rolle. Indien zahlte Großbritannien ein jährliches Tribut in Form von direkt herausgepreßten imperialen Steuern (Home Charges); hinzu kamen der Handelsüberschuß, Zinsen für Investitionen und andere unsichtbare Einkünfte.40 Laut Berrick Saul "beglich Großbritannien mehr als ein Drittel seines Defizits gegenüber Europa und den USA durch Indien."41 Avner Offers jüngste hervorragende Untersuchung über den Ersten Weltkrieg hat gezeigt, daß das britische Kolonialreich eine noch unmittelbarere Rolle im Prozeß der interimperialistischen Konkurrenz gespielt hat. Großbritannien und Deutschland, die beiden am stärksten industrialisierten Großmächte zur Jahrhundertwende, hatten beide hochspezialisierte Wirtschaften entwickelt, die stark von importierten Nahrungsmitteln und Rohstoffen abhingen. Die britische herrschende Klasse erfreute sich jedoch eines entscheidenden Vorteils: Sie kontrollierte ein ausgedehntes Kolonialreich, aus dem sie sich mit den benötigten Waren bedienen konnte, während ihre überlegene Seemacht es ihr erlaubte, sowohl die eigenen Seewege zu schützen, wie auch den Zugang Deutschlands zu Nahrungsmitteln und Rohstoffen, die es importieren mußte, zu blockieren. Die Planung für einen Wirtschaftskrieg war deshalb ein wichtiger Bestandteil der britischen Kriegsvorbereitungen vor 1914. Der Kampf um Nahrungsmittel und Rohstoffe war ein entscheidender Faktor für diedeutsche Niederlage 1918, einerseits wegen der Auswirkungen der britischen Blockade auf die Mittelmächte, zum ändern weil der deutsche U-Boot Krieg im Atlantik die USA in den Krieg zog und damit die Balance zugunsten der Entente kippte.42

Die Bedeutung der Kolonien in der interimperialistischen Konkurrenz zeigte sich wieder während der Großen Depression in den 30er Jahren, als die Weltwirtschaft in rivalisierende Handelsblöcke zerbrach. Diejenigen Mächte, wie Großbritannien und Frankreich, die sich auf ihre Kolonien und deren geschützte Märkte und Rohstoffe stützen konnten, überstanden die Wirtschaftskrise besser als diejenigen, wie die USA und Deutschland, denen ein Kolonialreich fehlte. Für die beiden letztgenannten Staaten bot der Zweite Weltkrieg einen Ausweg aus diesen Problemen.

3. Militarisierter Staatskapitalismus. Lenin, Hilferding und Bucharin, sie alle hoben die qualitativ größere Zentralisation der ökonomischen Macht als entscheidendes Merkmal des neuen Stadiums der kapitalistischen Entwicklung hervor, das sich um die Jahrhundertwende herausschälte. In Wirklichkeit war die Entwicklung dessen, was Hilferding den "organisierten Kapitalismus" nannte, sehr unterschiedlich ausgeprägt - so hinkte Großbritannien beträchtlich hinter Deutschland und den USA her. Um diese Unterschiede zu erklären, führte Hilferding den Begriff der ungleichzeitigen und kombinierten Entwicklung des Kapitalismus ein. Die relativ "organische" Entwicklung des britischen Kapitalismus bedeutete, daß sich das Investitionskapital allmählich in den Händen einzelner Industrieller anhäufte, ohne daß sie auf Banken oder den Aktienmarkt zurückgreifen mußten, um ihre Ausdehnung zu finanzieren. Das nötige Kapital zusammenbringen, das konnte ein deutscher Kapitalist, der die Industrialisierung im Schatten des britischen Verarbeitungsmonopols betrieb, hingegen nur durch einen viel höheren Grad an Organisation leisten - durch Aktiengesellschaften und durch die Hilfestellung der Banken bei der Finanzierung produktiver Investitionen:

    In Deutschland, und auch in etwas anderer Weise in den USA, waren deshalb die Beziehungen zwischen Banken und Industrie von Anfang an notwendigerweise ganz anders als in England. Dieser Unterschied folgte aus der ruckständigen und verspäteten kapitalistischen Entwicklung Deutschlands. Aber die enge Verbindung zwischen Industrie- und Bankkapital in beiden Ländern, Deutschland und Amerika, wurde wiederum zu einem wichtigen Faktor in ihrer Entwicklung zu einer höheren Form der kapitalistischen Organisation.43

Aus ähnlichen Gründen entwickelten sowohl Deutschland wie auch die USA viel früher als Großbritannien einen interventionistischen Staat, der Schutzzölle einführte, um ihre verarbeitenden Industrien von der Konkurrenz durch die "Werkstatt der Welt" zu isolieren. Es bedurfte der Großen Depression der 30er Jahre, um die britische herrschende Klasse davon zu überzeugen, den Freihandel aufzugeben - ein Schritt, den ihr amerikanischer Gegenspieler bereits 70 Jahre früher zu Beginn des Bürgerkriegs vollzogen hatte.

Es ist diese Verschränkung des Staates und des privaten Kapitals, die die Neigung des Imperialismus zum Krieg erklärt: Der von Hilferding und Bucharin analysierte Organisationsprozeß hatte riesige, national integrierte Kapitalblöcke entstehen lassen, die nun in eine weltweite ökonomische Konkurrenz miteinander traten. Der Ausgang dieses allgemeinen Wettrennens konnte letztlich nur durch das Messen ihrer relativen militärischen Stärke entschieden werden. Gleichermaßen trägt der interimperialistische Krieg selbst ebenfalls stark dazu bei, die Tendenz zum Staatskapitalismus zu beschleunigen. Bucharin verstand diesen Zusammenhang schon sehr früh, im Jahr 1915. Die Mobilisierung der Ressourcen, die für den totalen Krieg gebraucht werden, trägt dazu bei, die Wirtschaft in "eine Organisation zu verwandeln, die unmittelbar der Kontrolle der Staatsmacht untergeordnet ist". Deshalb "ist der Krieg nicht nur von einer ungeheuren Zerstörung der Produktivkräfte begleitet: zusätzlich führt er zu einer außerordentlichen Verstärkung und Intensivierung der dem Kapitalismus immanenten Entwicklungstendenzen."44

Die Kriegswirtschaften von 1914-18 und 1939-45 sahen eine qualitative Ausdehnung der staaüichen Wirtschaftslenkung, die in der folgenden Friedensperiode nicht rückgängig gemacht wurde. Im Gegenteil, die Große Depression von 1929-39 stellt eine Fortsetzung dieses Prozesses dar, als der Weltmarkt in protektionistische Handelsblöcke auseinanderfiel, und alle großen imperialistischen Mächte ihre Apparate zur Staatsintervention stärkten - ein Prozeß, der seinen Höhepunkt im stalinistischen Rußland erreichte. Eine Konsequenz war die Lockerung der weltweiten ökonomischen Integration verglichen mit dem, was vor 1914 erreicht worden war. So überschritt der Anteil des Handels mit Fertigfabrikaten an der Weltproduktion erst Mitte der 70er Jahre wieder das Niveau von 1913.45

Die Tendenz zur wirtschaftlichen Autarkie der Großmächte diente nur dazu, die Spannungen zwischen ihnen zu verschärfen. Denn sie war ein mächtiger Anreiz für jene imperialistischen Staaten, die keinen direkten Zugang zu kolonialen Märkten und Rohstoffen besaßen - vor allem Deutschland und Japan -, für sich einen größeren Anteil aus den Weltressourcen auf militärischem Weg herauszuschneiden zu versuchen. So produzierte der Widerspruch, den Bucharin zwischen der Internationalisierung und der Staatifizierung erkannt hatte, einen zweiten, noch zerstörerischen Versuch der imperialistischen Mächte, die Welt unter sich neu aufzuteilen.46

Der Supermacht-Imperialismus, 1945 - 1990

1. Eine politisch bipolare, aber ökonomisch multipolare Welt. Nach der Niederlage Deutschlands und Japans 1945 veränderte sich die interimperia- listische Konkurrenz grundlegend. Das europäische Staatensystem war nicht mehr wie einst Dreh- und Angelpunkt der Weltpolitik. Der europäische Kontinent war nun geteilt, und seine Staaten waren in zwei weltweite Militärbündnisse eingebunden, die jeweils von einer der Supermächte, den USA bzw. der UdSSR, dominiert wurden. Diese Lage hatte sich schon in der Epoche der beiden Weltkriege angekündigt. Die Instabilität des europäischen Staatensystems, die den "Dreißigjährigen Krieg" von 1914-45 entstehen ließ, spiegelte die Unfähigkeit wider, den Aufstieg Deutschlands zu einer Weltmacht zu verhindern. Großbritanniens beispiellose Vorherrschaft in der europäischen Politik im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs war der Versuch einer bisher führenden imperialistischen Macht, ein tödlich geschwächtes Staatensystem zusammenzuhalten. Diese Rolle konnte Großbritannien, dessen relativer ökonomischer Niedergang durch den Krieg brutal aufgedeckt wurde, nur solange spielen, wie die beiden großen Festlandsmächte, die USA und die UdSSR, von der Bühne fernblieben - "off-stage", wie Paul Kennedy es bezeichnet.47

Als diese beiden Staaten 1945 ins Rampenlicht traten, endete der "letzte europäische Krieg", wie ein Historiker ihn nannte. Die USA ersetzten endgültig Großbritannien als vorherrschende Weltmacht, indem sie ihre riesige wirtschaftliche Stärke in überwältigende militärische Macht umsetzten. Gleichzeitig nutzte die amerikanische herrschende Klasse ihre Vormachtstellung in der Allianz gegen Hitler, um die Grundlagen für eine Nachkriegs-Weltwirtschaft zu legen, die offen war für Investitionen und Exporte der USA. Damit wollten die USA eine Wiederholung der Katastrophe verhindern, die ihre Wirtschaft infolge der Handelskriege der 30er Jahre heimsuchte. Das Haupthindernis für die Erreichung dieses Ziels war die herrschende Klasse in Rußland: Die Stellung der stalinistischen Bürokratie ruhte auf der Verschmelzung der ökonomischen mit der politischen Macht im Zuge der staatskapitalistischen Transformation der 30er Jahre, und die Einbindung in einen von den USA beherrschten Weltmarkt stellte diese direkt in Frage. Das war der Widerspruch, der der Teilung Europas in der Nachkriegszeit zwischen zwei rivalisierenden Militärblöcken zugrunde lag.48

Der Kalte Krieg, entstanden aus dem Konflikt zwischen den Siegern von 1945, führte zu einem neuen Muster der interimperialistischen Konkurrenz. Das wichtigste war, daß militärische und territoriale Rivalitäten zwischen den Staaten in ein bipolares Muster gepreßt wurden. Vorher hatte die zwischenstaatliche Konkurrenz unter einer Vielzahl von Großmächten stattgefunden. Sie bildeten zwar zeitweilige Bündnisse, normalerweise in endlosen Manövern zwischen den europäischen Kanzlerämtern, und hielten ihre Optionen offen. Das war das Material der internationalen Politik vom 15. Jahrhundert bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Der Grundsatz europäischer Staatskunst wurde von einem ihrer Erzpraktiker, Palmerston, in dem Spruch zusammengefaßt: "England hat keine ewigen Freunde, keine ewigen Feinde, sondern nur ewige Interessen." So führten Deutschland und Rußland zwei schreckliche Kriege im 20, Jahrhundert, trotz der langen Freundschaft zwischen dem Haus der Hohenstaufen und der Romanows im vorigen Jahrhundert; Großbritannien und Frankreich, die sich ständig zwischen 1689 und 1815 bekriegt hatten, waren in beiden Weltkriegen gegen Deutschland verbündet; die britischen Kriegsvorbereitungen gaben Trotzki noch in den frühen 20er Jahren Grund für die Annahme, daß es zu einem Konflikt zwischen Großbritannien und den USA kommen könnte.49 Nach 1945 verlor die internationale Politik ihren beweglichen Zustand. Die europäischen Staaten waren in zwei Supermachtblöcke eingezwängt. Diese Lage widerspiegelte die mehr oder minder große Interessenübereinstimmung zwischen den miteinander verbündeten herrschenden Klassen, aber auch das Fehlen jeder anderen Alternative.

Die zwischenstaatliche Politik war an den Rändern des Systems, in der Dritten Welt, instabiler. Vielleicht zeigt das Ägypten der Nachkriegszeit am besten den dramatischen Standortwechsel: zuerst eine britische Halbkolonie, dann ein neutraler Staat, der zwischen den beiden Supermächten balancierte, später der wichtigste Verbündete der UdSSR in der Dritten Welt und schließlich der zweitgrößte Empfänger von US-Militärhilfe in der Welt.50 Nichtsdestotrotz schränkte die Teilung der Welt in zwei Supermachtblöcke den Spielraum aller Staaten sehr stark ein. Als Ägypten - von der UdSSR hochgerüstet, obwohl Präsident Anwar Sadat die russischen Militärberater erst im Juli 1972 rausgeworfen hatte - im Oktober 1973 den bislang erfolgreichsten militärischen Angriff der arabischen Staaten gegen Israel anführte, antworteten die USA mit einem riesigen Waffen-Lufttransport für die gebeutelte israelische Armee und setzten zu einem Zeitpunkt sogar ihre eigenen Nuklearwaffen in Alarmbereitschaft.51 Der Kalte Krieg wirkte wie eine Art Zwangsjacke, die die einzelnen Staaten dazu brachte, ihre Aktionen nach den Interessen eines der Supermachtblöcke auszurichten.

Zweitens führte die interimperialistische Konkurrenz nach 1945 zu keinem allumfassenden Krieg zwischen den Großmächten, Kriege tobten natürlich weiterhin an den Rändern des Systems, genauso, wie es während des 19. Jahrhunderts europäische Eroberungen in Afrika und Asien52 gegeben hatte, doch der Kern blieb friedlich. Aus welchen Gründen auch immer (am offensichtlichsten ist der beidseitige Besitz von Atomwaffen, der zwar den allumfassenden Krieg nicht unmöglich machte, aber sicherlich Washington und auch Moskau vorsichtiger machte, als sie es möglicherweise sonst gewesen wären), es war jedenfalls eine bemerkenswerte Unterbrechung des Zustandes ständiger Kriegsführung, die Europa seit dem Aufstieg des Absolutismus in Spannung gehalten hatte: Selbst das als friedlich erachtete 19. Jahrhundert hatte einen erschütternden Ausbruch von Kriegen zwischen den Großmächten in der Zeit zwischen 1855 und 1871 erlebt, deren Ergebnis die Vereinigung Italiens und Deutschlands sowie die Verdrängung Frankreichs durch Deutschland als Hauptmacht auf dem Festland gewesen war. Das Fehlen jedes allumfassenden Kriegs nach 1945 verstärkte die Starrheit der Weltpolitik, Es entzog dem Kapitalismus den Haupthebel, durch den das Staatensystem früher in Einklang gebracht wurde mit der sich verändernden Verteilung der weltweiten ökonomischen Macht. Gleichzeitig jedoch wurde die Vorbereitung auf den Krieg zu einem Dauerzustand.

Der Rüstungswettlauf zwischen Großbritannien und Deutschland vor 1914 wurde von dem zwischen NATO und Warschauer Pakt ab Ende der 40er Jahre in den Schatten gestellt. Nach 1945 beanspruchten die Rüstungsausgaben 30 Jahre lang einen für Friedenszeiten noch nie gekannten Anteil am Bruttosozialprodukt - vor allem in den USA und der UdSSR. Auf ihrem Höhepunkt, in den 50er und frühen 60er Jahren, hatte diese permanente Rüstungswirtschaft die unbeabsichtigte Folge, der Tendenz zum Fall der Profitrate entgegenzuwirken - und regte dadurch den längsten und kräftigsten Aufschwung in der Geschichte des Kapitalismus an. Zwischen 1948 und 1973 hat sich das Welteinkommen mehr als verdreifacht.53

Der lange Aufschwung ist eng verbunden mit einer dritten Besonderheit der interimperialistischen Konkurrenz in der Nachkriegsära. Die Teilung der Welt zwischen den Supermachtblöcken war höchst ungleich, denn das westliche Bündnis umfaßte neben den USA - die bei weitem größte Wirtschaft in der Welt - noch Westeuropa, Japan und Kanada. Das war für den russischen Block ein schwerer Nachteil, förderte aber gleichzeitig innerhalb des westlichen Lagers zunehmend Widersprüche. Die Einbindung aller fortgeschrittenen Wirtschaften in einen einzigen politischen Block unter der überwältigenden militärischen Vorherrschaft der USA schuf einen riesigen Wirtschaftsraum, in dem die Konkurrenz zwischen den Kapitalien eben nicht in jene für die Zeit vor 1945 so charakteristischen militärische Konflikte mündete. Hierin brach das Muster, das Bucharin analysiert hatte, zusammen. Denn die interimperialistischen Rivalitäten innerhalb des westlichen Kapitalismus entwikelten sich weiter, ohne irgendeine Tendenz hervorzurufen, sie durch "das blutige Schiedsgericht des Krieges" (Shakespeare) zu lösen. Die ökonomische Konkurrenz zwischen den Kapitalien wurde auf diese Weise vom militärischen Konflikt zwischen den Staaten entkoppelt.

Diese Entwicklung hatte jedoch langfristige Konsequenzen, die eine hohe Instabilität hervorbrachten. Die erste Instabilität will ich an dieser Stelle nur erwähnen, aber ich werde später darauf zurückkommen: Die am Ende des Zweiten Weltkriegs unter der Führung der USA errichtete Weltwirtschaftsordnung schuf einen institutioneilen Rahmen (die Vereinbarung von Bretton Woods, usw.), der eine beträchtliche Intemationalisierung des Kapitals förderte. Zweitens war dieser Rahmen, worauf ich oben bereits aufmerksam gemacht habe, darauf ausgerichtet, den USA Märkte und Investitionsmöglichkeiten zu verschaffen. Die Erholung der europäischen und japanischen Wirtschaften von ihren Kriegszerstörungen während des langen Aufschwungs (eine Entwicklung, die von den USA gefördert wurde, um Bollwerke gegen innere Revolutionen und den militärischen Druck Rußlands zu schaffen) führte zum Aufstieg von Kapitalien, die die US-Vorherrschaft auf dem Weltmarkt zunehmend in Frage stellten.

Tabelle 2
Ausländische Direktinvestitionen in ausgewählten Ländergruppen
(jährliche Kapitalflüsse in Mrd. $ - prozentuale Anteile in Klammern)
Ländergruppe                          1965-69     1970-74      1975-79      1980-83
-------------------------------------------------------------------------------------
Industrieländer                       5,2  (79)   11,0  (86)   18,4  (72)   31,3 (63)

Entwicklungsländer                    1,2  (18)    2,8  (22)    6,6  (26)   13,4 (27)

Lateinamerika & Karibik               0,8  (12)    1,4  (11)    3,4  (13)   6,7  (14)

Afrika                                0,2   (3)    0,6   (5)    1,0   (4)   1,4   (3)

Asien einschl. Nahost                 0,2   (3)    0,8   (6)    2,2   (9)   5,2  (11)

Andere Länder u. nicht erfaßte Flüsse 0,2   (3)   -1,0  (-8)    0,6   (2)   4,8  (10)

GESAMT                                6,6 (100)   12,8 (100)   25,6 (100)  49,4 (100)
[Quelle: Weltbank, World Development Report 1985]

Das hohe Niveau der Rüstungsausgaben war einerseits die Bedingung für die politisch-militärische Hegemonie der USA, entzog aber andererseits dem produktiven Sektor große Kapitalmengen. Demgegenüber machten die vergleichsweise niedrigen Militärausgaben Westdeutschlands und Japans sehr hohe Raten der Kapitalakkumulation in diesen Ländern möglich. Folglich kam es zu einer fortschreitenden Unterhöhlung der Konkurrenzfähigkeit der verarbeitenden Industrie der USA. In den 60er Jahren war der relative wirtschaftliche Niedergang der USA offensichtlich. Die daraus folgende Verstärkung der Konkurrenz innerhalb des westlichen kapitalistischen Blocks zerstörte das internationale Finanzsystem und zog eine Verringerung der amerikanischen Militärausgaben nach sich. Die geschwächte Rüstungswirtschaft konnte nicht länger den Fall der Weltprofitrate verhindern, und die großen Krisen von 1973-74 und 1979-82 nahmen ihren Lauf.54 Ein tiefer Widersprach tat sich so auf zwischen der nach wie vor bipolaren politischen Ordnung und der multipolaren wirtschaftlichen Ordnung. Die weltweite Verteilung der politisch-militärischen Macht entsprach nicht mehr der Verteilung der ökonomischen Macht.55

2. Die Dritte Welt: unheilvolle Vernachlässigung und Teilindustrialisierung. Der dramatischste Wandel außerhalb des Kerns des westlichen kapitalistischen Systems nach 1945 war die Auflösung der großen europäischen Koloniahreiche. Sie war u.a. eine Folge des Niedergangs der europäischen Mächte und ihrer wachsenden Abhängigkeit von den USA, die ihrerseits einen Zugang zu den in der Zwischenkriegszeit für sie geschlossenen Kolonialmärkten suchten. Es spielten aber auch die heldenhaften Kämpfe um nationale Befreiung eine Rolle - in China, Vietnam, Algerien und den portugiesischen Kolonien. Die Dekolonisierung als politischer Prozeß entsprach schließlich auch der abnehmenden Bedeutung dessen, was in den fortgeschrittenen Ländern "Dritte Welt" genannt wird. Das von Lenin gemalte Bild eines imperialistischen Systems, das auf dem Kapitalexport in die Kolonien basiere - selbst zu seiner Zeit, wie wir gesehen haben, nur die halbe Wahrheit - stimmte überhaupt nicht mehr mit der Wirklichkeit des internationalen Kapitalismus nach 1945 überein. Michael Kidron schrieb 1962, die unmittelbare Nachkiegserfahrung zusammenfassend: "Das Kapital fließt nicht überwiegend von reifen in die sich entwikelnden kapitalistischen Länder. Im Gegenteil, Auslandsinvestitionen werden zunehmend zwischen den entwickelten kapitalistischen Ländern selbst getätigt,"56 Wie Tabelle 2 zeigt, blieb diese Feststellung auch weiterhin für die Weltwirtschaft zwischen 1965 und 1983 gültig. Die Weltbank berichtete 1985:

    ca. drei Viertel der ausländischen Direktinvestitionen gingen im Durchschnitt seit 1965 in die Industrieländer. Der Rest hat sich größtenteils auf einige wenige sich entwickelnde Länder konzentriert, vorwiegend in Ländern Asiens und Südamerikas mit höherem Einkommen. Insbesondere Brasilien... und Mexiko haben ein großes Volumen an Direktinvestitionen erhalten. Innerhalb Asiens waren die größten Empfänger Hong Kong, Malaysia, die Philippinen und Singapur; Singapur allein hat beinahe die Hälfte aller ausländischen Direktinvestitionen in Asien in den letzten Jahren erhalten.57

Diese Zahlen widersprechen direkt der Analyse des Weltsystems von Anhängern der Dependenztheorie wie Gunder Frank, wie auch den Analysen von Theoretikern des ungleichen Tauschs, wie z.B. Samir Amin.58 Der Wohlstand der Kapitalisten (und Arbeiter) in den fortgeschrittenen Ländern ist weit davon entfernt, von der Armut in der Dritten Welt abhängig zu sein; vielmehr gehen die Hauptflüsse von Kapital und Waren an den armen Ländern einfach vorbei. Der größte Teil des Welthandels findet zwischen den entwikelten Wirtschaften statt. Und natürlich verbleibt die Hauptkonzentration des Reichtums in den westlichen Wirtschaften. Die Erklärung ist ganz einfach. Wie wir gesehen haben, lag die wesentliche Bedeutung der Kolonien unter dem klassischen Imperialismus in den Rohstoffen, die sie für die zunehmend spezialisierten industriellen Wirtschaften der imperialistischen Metropolen bereitstellten. Doch das Streben nach Autarkie während des "Dreißigjährigen Kriegs" von 1914-45 bedeutete auch eine kontinuierliche und erfolgreiche Anstrengung seitens der fortgeschrittenen Wirtschaften, um ihre Abhängigkeit von importierten Rohstoffen zu verringern. So wurden synthetische Ersatzstoffe im großen Stil entwickelt, Rohstoffe wurden wirksamer genutzt, und die landwirtschaftliche Produktion der industrialisierten Länder wurde ungeheuer ausgeweitet.59 Währenddessen boomten die entwickelten Länder dank der permanenten Rüstungswirtschaft, Nigel Harris beschreibt die Konsequenzen dieser Veränderungen:

    Steigende Realeinkommen in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern schufen expandierende Märkte für eine zunehmend anspruchsvolle und teure Produktion. Und sie sicherten die Profitraten aus neuen Investitionen, die beständig einen wachsenden Anteil der neuen Ersparnisse der Welt aufnahmen. Beide, Arbeit und Kapital, wurden aus den rückständigen Ländern herausgezogen, um den Wirtschaften der fortgeschrittenen Länder zu dienen. In der Zeit nach 1948 generierte der Handel zwischen den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern eine nie dagewesene Ausdehnung des Welthandels und der Weltproduktion und eine noch größere Konzentration des Kapitals in den Händen der reichen Länder. Was von den Imperialisten als die internationale Arbeitsteilung zwischen den verarbeitenden fort geschrittenen Ländern und den rohstoffexportierenden zurückgebliebenen Ländern gesehen worden war, wurde nun überholt von einer Teilung zwischen der relativ selbstgenügsamen fortgeschrittenen Enklave und der Masse der armen Abhängigen.60

Sowohl Kidron wie auch Harris bemerkten, als sie erstmals in den 60ern diese Veränderungen in den Beziehungen zwischen den fortgeschrittenen und den sich entwickelnden Wirtschaften analysierten, eine wichtige Ausnahme in diesem Muster abnehmender westlicher Abhängigkeit von Rohstoffen - nämlich das Öl.61

In der Tat, die Auswirkungen der beiden großen Ölschocks von 1973/74 und 1978/79, zusammen mit dem Aufstieg der ostasiatischen NICs, sind aller Wahrscheinlichkeit nach die Haupterklärung für den Anstieg der ausländischen Direktinvestitionen in der Dritten Welt nach 1975 (vgl. Tabelle 2: Asien, einschließlich Nahost, hat seinen Anteil an ausländischen Direktinvestitionen von 3 Prozent 1965-69 auf 11 Prozent 1980-83 gesteigert). Doch Öl ist eben eine Ausnahme. Die Norm in der Dritten Welt war nicht die intensive Ausbeutung durch westliche Multis, sondern eher der wirksame Ausschluß der ärmsten Länder von Welthandel und Investitionen. Die Arbeiter und Bauern Afrikas, Asiens oder Südamerikas arbeiteten in elender Armut, nicht so sehr, weil die Früchte ihrer Ausbeutung die Hauptquellen des imperialistischen Profits waren, sondern weil ihre Arbeit ohne Bedeutung für die Hauptzentren des Kapitals in Nordamerika, Westeuropa und Japan war, es sei denn, daß Millionen aus der Dritten Welt dem Kapital in seine Heimatbasis folgten.

Daraus folgte jedoch nicht, wie Frank und Amin behaupteten, daß die ganze Dritte Welt zu permanenter Stagnation verdammt war. Im Gegenteil: Einige weniger entwickelte Länder waren in der Lage, ein hohes Niveau des industriellen Wachstums zu erreichen. Insbesondere der Aufstieg der "Neu Industrialisierten Länder" (NIC) während der 70er und 80er Jahre in Ostasien und Südamerika kennzeichnet eine deutliche Verschiebung in der internationalen Arbeitsteilung. Früher hatte Industrialisierung außerhalb des imperialistischen Zentrums normalerweise die Produktion vormals importierter Konsumgüter bedeutet. Die beiden Weltkriege erlaubten es einigen der wichtigeren Kolonien und Halbkolonien (z.B. Indien, Ägypten, Südafrika, Argentinien), einen Vorteil zu ziehen aus der Umwidmung der metropolen Verarbeitungsindustrien zugunsten der militärischer Produktion, und lokale Kapitalisten wurden ermutigt, für den eigenen einheimischen Markt zu produzieren.

Nach 1945 versuchten viele Dritte-Welt-Staaten, die importsubstituierende Industrialisierung fortzusetzen. Am ehrgeizigsten waren dabei China unter Mao, Indien unter Nehru und Ägypten unter Nasser. Sie kopierten die bürokratischen Kommandomethoden des stalinistischen Rußlands in der Hoffnung, ihre eigene schwerindustrielle Basis aufbauen zu können.

Diese Versuche eines autarken Staatskapitalismus schlugen im allgemeinen fehl. Es gelang nicht, innerhalb der eigenen nationalen Grenzen die erforderlichen Ressourcen für die riesigen Investitionen zu mobilisieren, auf denen ja die Schwerindustrie der fortgeschrittenen Länder gründet. Als Nasser in den späten 50ern und in den 60ern eine Schwerindustrie im Staatsbesitz aufzubauen versuchte, mußte er auf die üppigen Devisenreserven zurückgreifen, die während des Booms für Ägyptens Hauptexportprodukt, die Baumwolle, zur Zeit Korea-Kriegs angehäuft worden waren. Diese Reserven finanzierten zunächst den Import von Maschinen, Komponenten und anderen Aufwendungen, die für den Aufbau der industriellen Grundlage Ägyptens benötigt wurden. Als aber die Devisenreserven aufgebraucht waren, konnten weitere Importe nur noch durch Exporte finanziert werden, bei denen die ägyptische Industrie nicht konkurrenzfähig war, bzw. durch russische Kredite, die mit dem Export von Baumwolle und Reis in die UdSSR bezahlt wurden. Das Versagen der staatskapitalistischen Politik Nassers bewog Sadat, auf die Infitah, die Öffnung Ägyptens gegenüber der Weltwirtschaft, zu setzen.62

Die NTCs in Ostasien und Lateinamerika weisen einen wesentlichen Unterschied zu diesem Muster auf. Während Mao, Nehru und Nasser versuchten, Stalin beim Streben nach staatskapitalistischer Autarkie zu kopieren, orientierten sich Staaten wie Südkorea und Brasilien auf den Weltmarkt. Sie produzierten Fertigfabrikate, die nicht unbedingt oder auch nur in erster Linie für den einheimischen Markt bestimmt waren, sondern für den Export.

Tabelle 3
Die Schuldenkrise: Nettotransfer der kapitalimportierenden
Entwicklungsländer 1980-1988 nach Herkunft aufgegliedert
(in Mrd.$ - Auswahl von 98 Ländern)
Herkunft:                  1980  1981  1982  1983  1984  1985  1986  1987  1988
                           ----------------------------------------------------
Direktinvestitionen        -4,5   0,8  -2,0  -2,8  -2,4  -1,0  -1,3   0,4   4,0

Privatkredite              17,2   7,5 -18,7 -26,5 -33,0 -40,9 -32,1 -34,7 -46,0

öffentliche Kapitalflüsse  29,0  34,3  32,0  28,6  25,8  16,3  12,7   8,7   8,0

Nettotransfer gesamt       41,7  42,6  11,3  -0,7  -9,6 -25,5 -26,7 -25,6 -32,5
[Quelle: UNO. World Economic Survcy 1989]

Unter Einsatz der rigorosesten staatskapitalistischen Methoden gelang ihnen auch im allgemeinen der Einbruch in den Welthandel für Fertigprodukte. Der südkoreanische Staat z.B. steuerte zentralisiert die privaten Investitionen, doch nicht, um eine Art diversifizierte industrielle Wirtschaft ähnlich der der fortgeschrittensten Länder zu entwickeln, sondern um diejenigen internationalen Märkte ausfindig zu machen, in die seine Kapitalisten einzubrechen hoffen konnten-vorausgesetzt, man konzentrierte die Ressourcen auf eine beschränkte Zahl von Industrien. Dieser interventionistische Staat, der oft zum Hohn des Freien-Markt-Grundsatzes der klassischen Ökonomie operierte, diente als Mauerbrecher auf dem Weltmarkt und nicht als Mittel, ihm zu entrinnen.63

Bestätigt das Entstehen der NICs Warrens These, daß "wir uns.... in einer Ära des niedergehenden Imperialismus und des fortgeschrittenen Kapitalismus befinden"? Zweifellos ist die partielle Industrialisierung eines Teils der Dritten Welt ein Ereignis von großer Bedeutung. Diese Industrialisierung bedeutet die Kristallisation von neuen, relativ unabhängigen Zentren der Kapitalakkumulation, eine Entwicklung, deren politische Bedeutung ich weiter unten diskutieren werde. Und sie ist auch für eine beträchtliche Ausdehnung der Weltarbeiterklasse verantwortlich. Es muß jedoch unbedingt betont werden, daß der Aufstieg der NICs nur eine partielle Transformation der Dritten Welt darstellt. Das wurde zu Beginn der Schuldenkrise in den 80er Jahren sehr deutlich. In den 70er Jahren antworteten die westlichen Banken auf die Internationalisierung der Kapitalmärkte, den Mangel an Investitionsöffnungen in den wirtschaftlich angeschlagenen fortgeschrittenen Ländern und das Überangebot an Kapital (untätige westliche Fonds waren durch Öleinkünfte aus dem Golf aufgebläht worden) mit einer massiven Steigerung ihrer Kredite an die Dritte Welt. Der Beginn der zweiten großen Weltwirtschaftskrise 1979 machte es für die Schuldnerwirtschaften unmöglich, die erforderlichen Exporteinnahmen zu erzielen, um die Kredite zurückzuzahlen. Das Resultat war jene Krise, die ausbrach, als Mexiko im August 1982 seine Zahlungsunfähigkeit erklärte.

Die weniger entwickelten Länder sahen sich außerstande, neue Kredite aufzunehmen. Sie standen unter dem enormen Druck ihrer westlichen Kreditgeber, ihre Auslandsschulden zurückzuzahlen, die 1987 auf 1089,2 Milliarden Dollar angestiegen waren. Das waren 49,5% des Bruttosozialprodukts der kapitalimportierenden Entwicklungsländer.64 Das Ergebnis dieses Wahnsinns war, daß quasi die ganzen 80er Jahre hindurch diese Länder mehr finanzielle Mittel in die fortgeschrittenen Ländern transferierten, als sie in Form neuer Kredite, Investitionen und Außenhandelserlöse zurückerhielten (siehe Tabelle 3). Die Folge für einen Großteil der Dritten Welt war Stagnation. Die UNO berichtete Ende der 80er Jahre:

    Während der 70er Jahre wuchs das Pro-Kopf-Produkt in allen Entwicklungsländern stärker als in den entwickelten Marktwirtschaften, und die Lücke verkleinerte sich. In den 80er Jahren war die Lage komplexer. Eine wichtige Gruppe asiatischer Länder, kleine und große, sind schneller gewachsen, sowohl in Gesamtzahlen wie auch in Pro-Kopf-Zahlen, als die entwickelten Marktwirtschaften... Andere, meist in Afrika und Sudamerika, wurden in einer Falle des langsamen Wachstums gefangen, und ihre internationalen Verbindungen hatten eher negative als positive Auswirkungen.65

Etwas kraß ausgedrückt: Die Schuldnerstaaten mußten nicht nur Geldmittel an die westlichen Kreditgeber transferieren, sondern sich dazu noch den "strukturellen Anpassungsprogrammen" des Internationalen Währungsfonds unterwerfen. Das übliche Repertoire des IWF war, Sparmaßnahmen zu verlangen, um den einheimischen Konsum einzuschränken und die Exporte auszudehnen, die für die Schuldenrückzahlung notwendig waren. Das schlimmste Opfer war Afrika südlich der Sahara. Ende 1989 berichtete die Weltbank: "Die afrikanische Bevölkerung insgesamt ist heute so arm wie vor 30 Jahren,"66 Teile des Kontinents sind sogar noch stärker zurückgefallen - das Hörn von Afrika, Angola, Mozambique, wo Krieg und Hungersnöte den Tod von Hunderttausenden, sogar Millionen verursachten. Die Verbindungen, die mit der Weltwirtschaft noch bestanden, waren oft primitivster Natur. Lonrho mietete ihre eigene Privatarmee, um ihre Plantagen in Mozam-bique zu bewachen. Selbst die relativ industrialisierten Wirtschaften Lateinamerikas machten entsetzliche Erfahrungen mit Stagnation, Hyper-Inflation und Verarmung. Neben den "Vier Tigern" (Südkorea, Taiwan, Singapur und Hong Kong) entwickelten weitere ostasiatische NTCs, Malaysia, Thailand und die Philippinen, eine vergleichbare Dynamik. Doch sie schienen eine Ausnahme zu sein, die man großteils durch den wachsenden Kapitalfluß in die Region und durch Exporte aus der konkurrenzfähigsten der fortgeschrittenen Wirtschaften, nämlich aus Japan, erklären konnte.

Es wäre aber auch falsch, in der Schuldenkrise einfach eine neue Form der aufgezwungenen "Abhängigkeit" der Dritten Welt zu sehen. James Petras und Michael Morley haben auf das Phänomen der Kapitalflucht in Lateinamerika hingewiesen - den Transfer von Kapital in einheimischer Hand in die fortgeschrittenen Wirtschaften. Er erreichte 1985 einen Umfang von schätzungsweise 100 Milliarden Dollar, verglichen mit den Auslandsschulden Lateinamerikas in Höhe von 368 Milliarden Dollar:

    Großinvestitionen und Bankeinlagen der Lateinamerikaner, die in erster Linie in die USA und nach Europa gehen-diese "Kapitalflucht" zeigt den Aufstieg einer neuen Klassenschicht in Lateinamerika: die transnationalen Kapitalisten... Regionale Kapitalisten transferieren ihre Geldvermögen auf multinationale Banken, die wiederum das Kapital an lateinamerikanische Staaten verleihen. Diese Staaten wiederum geben privaten Kapitalisten Kredite. Dieses Verhalten ermöglicht es privaten Kapitalisten, ihre Geldvermögen zu schützen, während das Risiko der Auslandsschulden von den regionalen Staaten abgesichert wird. Anleihen von außerhalb und Investitionen in Übersee sind mittlerweile ein lukratives Geschäft für eine winzige, aber mächtige Schicht von Kapitalisten. Wenn die Bedingungen auf dem heimischen Markt ungünstig sind, kann der Gewinn durch internationale finanzielle Kreisläufe maximiert werden. Produktive Anlagen im Inland sind nur noch zweitrangig, quasi lediglich der Vorwand für einen wachsenden Fluß von Anleihen und Investitionen. Wenn die Bedingungen günstiger werden, dann kann das Kapital aus den internationalen Kreisläufen in regionale Investitionen zurückwechseln.67

So gesehen bedeutet die Schuldenkrise nicht so sehr einen Konflikt zwischen Nationalstaaten, zwischen reichen und armen Ländern. Sie ist vielmehr ein Klassenkampf, in dem sich die zunehmend in die internationalen Finanzkreisläufe integrierte lateinamerikanische Bourgeoisie mit den westlichen Banken und multinationalen Konzernen verbündet und Lösungen fordert, die ihre Wirtschaften noch weiter für den Weltmarkt öffnen. Wie Petras und Morley bemerken, haben "Sparmaßnahmen eine andere Bedeutung für diejenigen, die ihre Vermögen außerhalb der Heimat bewegen können, als für diejenigen, deren Vermögen oder Lebensbedingungen immobil sind und unmittelbar durch die Schuldenzahlungen und die IWF-Sparprogramme berührt werden."68

3. Die Internationalisierung des Kapitals., Die Entwicklung der Dritten Welt enthüllt so den gleichen Prozeß, der auch im Zentrum des Weltsystems sichtbar geworden ist-die wachsende internationale Integration des Kapitals. Wenn von den beiden Haupttendenzen, die für Bucharin den Imperialismus kennzeichneten, die erste, also die in Richtung Staatskapitalismus, die Periode von 1875-1945 beherrschte, dann können wir sagen, daß nach 1945 die zweite Tendenz, die in Richtung Internationalisierung des Kapitals, zunehmend an Bedeutung gewann. Ich werde nicht allzulang bei diesem Thema verweilen, da es bereits viel detaillierter von anderen Autoren, die mit dieser Zeitschrift verbunden sind, diskutiert wurde.69

Dieser Trend hin zur weltweiten Integration des Kapitals, entstanden während des langen Nachkriegsbooms und, wenn überhaupt, eher noch beschleunigt durch die anschließende, sich in die Länge ziehende Krise, hat drei wesentliche Dimensionen: erstens, die Internationalisierung der Produktion durch die Herausbildung eines "weltweiten Verarbeitungssystems" (Nigel Harris), das in erster Linie von den großen multinationalen Konzernen organisiert wird; zweitens, das wachsende Gewicht des internationalen Handels, ermöglicht durch die politische Einheit des westlichen Kapitalismus und die Bildung und Ausdehnung der Europäischen Gemeinschaft und gekennzeichnet durch einen signifikanten Grad an Transaktionen innerhalb der multinationalen Konzerne mitsamt ihren ausgelagerten Zuliefererbetrieben; drittens, die Entwicklung internationaler finanzieller Kreisläufe, die weitgehend außerhalb der Kontrolle der Nationalstaaten liegen. Dieser Prozeß wurde durch die wachsende Unfähigkeit der USA gefördert, ihrer Rolle in der Nachkriegszeit als Stabilisator des Weltwährungssystems gerecht zu werden. Und er wurde weiter beschleunigt durch die Manie der Deregulierung und der Börsenspekulation, die für die Reagan-Thatcher-Ära so charakteristisch war.

Die wichtigste Folge dieser Veränderungen war die stark zunehmende Unfähigkeit der Nationalstaaten, die ökonomischen Aktivitäten innerhalb der eigenen Grenzen zu steuern. Was Harris "das Ende des Kapitalismus in einem Land" nennt, war ein entscheidender Faktor in den großen Flauten Mitte und Ende der 70er Jahre. Keynesianische Techniken zur Steuerung der Nachfrage erwiesen sich nur noch als unzureichende Instrumente der wirtschaftlichen Kontrolle angesichts sinkender Profitabilität und des Umstan-des, daß das Geld den Erdball in Mikrosekunden umrunden konnte. Die weltweite Integration des Systems machte sich in einer Vielzahl von Erscheinungen bemerkbar - vom Scheitern des Versuchs der Mitterand-Regierung 1981-1983, die französische Wirtschaft inmitten eines weltweiten konjunkturellen Tiefpunkts wieder anzukurbeln, bis zur Abkehr vom Autarkiekurs in einer Reihe von Regimes der Dritten Welt, die vorher dem laissez-faire äußerst feindlich gegenüber standen, wie z.B. China unter Deng Xiaoping und Südafrika unter P.W.Botha.

Die Internationalisierung des Kapitals traf aber gerade jene Wirtschaften am heftigsten, in denen die Tendenz zum national organisierten Kapitalismus am ausgeprägtesten gewesen war: Die Revolutionen in Osteuropa und die damit verbundene Krise in der UdSSR kennzeichnen den Punkt, an dem die zunehmende Unfähigkeit der stalinistischen Regimes mitsamt ihren bürokratischen Kommando wirtschaften, die Wohltaten der Teilnahme an der internationalen Arbeitsteilung zu ernten, sie schließlich unter der Anspannung zerbrechen ließ und so den Weg für eine Eingliederung dieser Staaten in den Weltmarkt ebnete. Es war für alle offensichtlich, daß eine neue Epoche in der Weltgeschichte begonnen hatte (nur für den ekzentrischen, vom Ende der Geschichte träumenden Dr. Fukuyama nicht).70

Der Imperialismus nach dem Kalten Krieg

1.  Zurück zu einer sowohl politisch als auch ökonomisch multipolaren Welt. Die osteuropäischen Revolutionen markierten das Ende des Kalten Kriegs im Sinne einer Aufteilung der Welt in zwei konkurrierende imperialistische Blöcke. Die Ablösung der stalinistischen Regimes in Osteuropa durch Regierungen - mögen sie politisch liberal, autoritär oder neo-stalinistisch gefärbt sein -, die sich einer Politik der tieferen Einbindung ihrer Wirtschaften in den Weltmarkt verschrieben haben, gekoppelt mit dem Zerfall des Warschauer Paktes als funktionierendes militärisches Bündnis bedeuten den effektiven Zusammenbruch eines kohärenten Ostblocks. Ein großer Brocken von Zentral- und Osteuropa kippte in die westliche Einflußsphäre. Gleichzeitig sprechen mehrere Faktoren zusammengenommen - Abrüstungsverhandlungen zwischen den Supermächten, die wirtschaftliche Krise in der UdSSR, isolationistischer Druck innerhalb der USA, die Wiedervereinigung Deutschlands und der zweite Golfkrieg - dafür, daß die riesige Konzentration von Truppen und Waffen an der wichtigsten Front in Europa ziemlich schnell abgebaut wird. Außerhalb Europas wurde unterdessen die geschwächte UdSSR gezwungen, in verschiedenen Regionen massive Zugeständnisse an westliche Interessen zu machen, vielleicht am deutlichsten in Indochina und im südlichen Afrika. Regimes und Bewegungen in der Dritten Welt, die sich vorher auf russische Hilfe stützen konnten, sind jetzt isoliert.

Eine weitverbreitete Interpretation dieser Veränderungen besagt, daß die USA dadurch eine Position der weltweiten Vorherrschaft erlangen konnten, die die in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg sogar übertrifft. Gerade zu Beginn des westlichen Angriffs auf den Irak wurden die USA immer wieder zur "letzten Supermacht" ausgerufen. Die Independent on Sunday fragte:

    Die Deutschen und die Japaner, wo sind sie geblieben? Siesind am Golf nicht zu finden, außer als Geschäftsleute. Wie clever, werden manche sagen, geschäftig weiter Autos und Computer zu produzieren, während sich Amerika und Großbritannien zum Nutzen des Westens opfern. Aber was ist das Ergebnis dieses Opfers? Im Fall Amerikas könnte es eine Auferstehung seiner militärischen und wirtschaftlichen Macht sein. Es muß der Welt dämmern, daß kein anderes Land so viele Wunder der Technologie entwickeln und produzieren, sie dann in solch einem Umfang um den halben Erdball transportieren und mit einer so sichtbaren Wirkung einsetzen konnte. Kein anderes Land hätte das gewollt; ganz bestimmt nicht die Sowjetunion, die damit beschäftigt ist, sich selbst zusammenzuhalten. Das ist der Punkt, der einen zur Supermacht macht. Es ist eine Frage der Fähigkeit und des Willens. Nur die Vereinigten Staaten besitzen beides.71

Derartige Argumente sind nicht völlig aus der Luft gegriffen. Die unmittelbare Auswirkung der osteuropäischen Revolutionen war tatsächlich eine Verstärkung des weltweiten politischen und militärischen Gewichts der USA. Doch das Ausrufen einer "Eine-Supermacht-Welt" wäre eine völlige Fehlinterpretation der Ereignisse. Der Zusammenbruch des Stalinismus war eine Episode von weltgeschichtlicher Bedeutung, weil er die starre bipolare Aufteilung der Welt, die für die Nachkriegsära charakteristisch war, aufbrach und damit eine Rückkehr zu einer Ära sehr viel beweglicherer interimperialistischer Konkurrenz ermöglichte, in der eine Vielzahl von Großmächten, anstatt zwei Supermächte, die Bühne beherrschen. Die wirtschaftlichen Voraussetzungen dieser politischen Umgestaltung wurden bereits in der Ära des Kalten Krieges gelegt: Der relative ökonomische Niedergang sowohl der USA als auch der UdSSR, die wachsende Beherrschung des Welthandels durch andere bedeutende kapitalistische Mächte, inbsbesondere Deutschland und Japan, sowie die Herausbildung der NICs, repräsentieren deutliche Verschiebungen im weltweiten Kräftegleichgewicht, die das System in den zwei Jahrzehnten nach 1968 zunehmend destabilisiert haben. Doch erst nach dem Auseinanderfallen des Ostblocks wurden die politischen Konturen dieser neuen Phase interimperialistischer Konkurrenz deutlich.

Auf Weltebene gab es jetzt mindestens vier große Akteure. Die USA bleiben der mächtigste Staat. Die UdSSR wird auch eine Kraft bleiben, mit der gerechnet werden muß, solange ihre Herrscher genügend vom inneren Imperium zusammenhalten können (das russische Kemgebiet plus wirtschaftlich entscheidende Regionen wie die Ukraine und Aserbaidschan). Deutschland - schon heute die weltgrößte Exportmacht und die vorherrschende Kraft in der Europäischen Gemeinschaft - ist dank der Wiedervereinigung und dem Rückzug des russischen Einflusses aus Mittel- und Osteuropa wieder zu einer Weltmacht geworden. Japans dynamische Exportwirtschaft ermöglichte ihm in den 80er Jahren eine riesige Welle von Auslandsinvestitionen, einschließlich eines Großteils der Anleihen, die notwendig waren, um die amerikanischen Auslandsschulden finanziell abzusichern. Die schwächere Rolle der UdSSR in der Welt führte dazu, daß die wachsenden Spannungen zwischen den USA und den anderen großen Westmächten, insbesondere mit der von Deutschland angeführten EG, sichtbarer wurden. Die herrschende Klasse Deutschlands, deren politisches Selbstbewußtsein aufgrund der erstaunlich schnellen Aufnahme Ostdeutschlands durch die BRD gestärkt wurde, scheint zunehmend willens, Washingtons Zügel abzuschütteln: So regelte Kanzler Kohl die Frage der NATO-Mitgliedschaft des vereinigten Deutschland in bilateralen Verhandlungen mit Michael Gorbatschow im Juli 1990, ohne den Rat der Bush-Regierung einzuholen. Noch bedrohlicher war, daß Bonn ganz wesentlich für die harte Linie der EG bei den GATT-Verhandlungen verantwortlich war, was zu ihrem Scheitern im Dezember 1990 führte und die Furcht vor einem Handelskrieg, vergleichbar mit dem der 30er Jahre, heraufbeschwor. Schließlich drohte die zögerliche Unterstützung Deutschlands und Japans für die US-Politik am Golf, deren "Untreue" gegenüber dem westlichen Bündnis zu einem Zankapfel der amerikanischen Innenpolitik werden zu lassen. Die wachsenden Konflikte zwischen den westlichen kapitalistischen Mächten werfen ein Schlaglicht auf die widersprüchliche Position der USA selbst. Die Reagan-Regierung von 1981-89 hat versucht, Amerikas relativen Niedergang umzukehren. Doch ihre tatsächliche Wirtschaftspolitik - die Steigerung öffentlicher und privater Ausgaben, finanziert durch enorme Kreditaufnahmen - führte stattdessen dazu, die Wettbewerbsfähigkeit der USA weiter zu vermindern und ein "Zweifachdefizit" zu schaffen (in den Staatsausgaben und in der Zahlungsbilanz), was Amerika zum größten Schuldner der Welt machte. In den 80er Jahren wurden die USA abhängig von einem Nettotransfer von Geldmitteln aus dem Rest der Welt, sowohl von reichen als auch von armen Ländern (siehe Tabelle 4).

Tabelle 4
Die finanzielle Abhängigkeit der USA Netto-Geldtransfer in die USA, nach Regionen aufgegliedert, 1980-1988 (in Mrd. $)
                     1980  1981  1982  1983  1984  1985  1986  1987  1988
                     ----------------------------------------------------
Kanada               -0,3   0,8   8,3   9,4  12,7  13,4  10,6   9,8   7,7

Japan                 9,8  14,9  15,9  23,2  36,2  42,8  54,5  56,2  50,5

Westeuropa gesamt   -16,6  -9,0  -2,9   5,8  23,3  32,5  36,3  35,5  22,4

Bundesrepublik        1,8   2,4   4,8   7,8  12,8  15,4  18,9  20,2     -

Lateinamerika und
Karibik gesamt       -0,9  -4,4   6,3  20,0  22,8  18,7  15,2  16,9  11,8

Mexiko               -2,4  -5,1   4,5  10,4   8,3   7,9   7,9   8,8     -

Hauptölexporteure
Afrikas u. Asiens    36,1  26,6   7,6   2,7   6,2   4,0   2,5   7,6   4,7

andere
Entwicklungsländer   -2,5   0,7   2,2  11,0  21,3  22,4  32,7  41,4  46,4

europäische
Planwirtschaften     -2,5  -2,8  -2,7  -1,5  -2,0  -1,1   0,2   0,0  -1,3

andere Länder        -0.1  -4,7  -3,4  -5,9  -3,7  -2,9  -1,9  -3,2  -4,5

GESAMT               23,0  22,1  31,3  64,7 116,9 129,8 150,1 164,3 127,8
*d.h. negativer Zahlungsbilanz in Form von Gütern, privaten Geldüberweisungen und Dienstleistungen, die kein Einkommen aus Investitionen sind [Quelle: UNO, World Economic Survey 1989]

Die wichtigsten binnenwirtschaftlichen Trends waren: zum einen riesige spekulative Investitionen in Immobilien und an der Börse - ein kitzelndes Erlebnis auf dem Höhepunkt des Schuldverschreibungsbooms Mitte der 80er, dem aber der Katzenjammer der Spar- und Schuldenkrise mit etwa 500 Milliarden Dollar an faulen Außenständen 1990 folgte - und zum anderen eine Umorientierung der verarbeitenden Industrie auf militärische Produktion infolge der enorm gestiegenen Rüstungsausgaben unter Carter Ende der 70er Jahre und dann unter Reagan.72 Dieser "militärische Keynesianismus" verschärfte wiederum die langfristigen Probleme des US-Kapitalismus, indem Ressourcen dem produktiven Investitionssektor entzogen und somit die Wettbewerbsfähigkeit der amerikanischen Industrie gemindert wurden. Er legte noch dazu die wachsende Abhängigkeit der amerikanischen Wirtschaft von Importen bloß: In den High-Tech-Waffensystemen, die immer wieder als Zeichen der technischen Überlegenheit Amerikas gepriesen werden, stecken nach einer Studie des Kongresses zu mehr als 80 Prozent Halbleiter, die in Asien produziert wurden, hauptsächlich in Japan.73

Gleichwohl gaben die Ausdehnung und der Wiederaufbau ihres Militärap-parats in den 80er Jahren der amerikanischen herrschenden Klasse die Mittel in die Hand, um eine Strategie zu verfolgen, ihren wirtschaftlichen Niedergang durch ihre neubehauptete militärische und politische Führung im westlichen kapitalistischen Block auszugleichen.74 Diese Strategie hatte verschiedene Stränge. Erstmal versuchte Reagan, die Periode der verstärkten Konfrontation mit der UdSSR nach der Invasion in Afghanistan 1979 zu nutzen, um Japan und Westeuropa auf Linie zu bringen - so mühte sich Washington ab, die Verhandlungen mit der UdSSR um die Erdgas-Leitungen zu sabotieren und Sanktionen gegen Polen nach dem Militärputsch im Dezember 1981 durchzudrücken. Weniger fiaskohaft war der zweite Strang der Washingtoner Strategie, nämlich die Förderung von rechten Guerillabewegungen - die Contras in Nicaragua und die UN1TA in Angola - die, verbunden mit dem nötigen wirtschaftlichen Druck, feindliche Dritte-Welt Regimes zur Strecke bringen sollten.75 Drittens unternahm man eine Reihe von Anstrengungen, um das "Vietnam-Syndrom"-die inneramerikanische Opposition gegen direkte militärische Interventionen im Ausland - zu überwinden, und zwar mit wachsendem Erfolg: Libanon 1982-83, Grenada 1983, Libyen 1986, der Golf 1987-88, Panama 1989-90.

Der amerikanische Flottenaufmarsch am Golf, der es dem Irak ermöglichte, den Iran im Ersten Golfkrieg zu besiegen, war wahrscheinlich die wichtigste dieser Interventionen, welche Ironie das heute auch haben mag. Der Golf, an dem 54 Prozent der Welterdölreserven lagern, ist die wichtigste wirtschaftliche Region außerhalb der Kerngebiete Nordamerika, Westeuropa und Japan. Außerdem war die iranische Revolution von 1978/79 im letzten Jahrzehnt die wichtigste Niederlage des US-Imperialismus nach dem Vietnamkrieg. Auf diese Erniedrigung hin hatte Jimmy Carter im Januar 1980 jene Doktrin, die auch seinen Namen trägt, verkündet, worin die USA ihren Willen erklärten, Krieg zu führen, wenn ihre Interessen am Golf bedroht würden. Im Rahmen dieser Politik wurde die Schnelleingreiftruppe (Rapid Deployment Force) aufgebaut. Umgetauft in "Central Command" bot sie im Sommer 1990 den Rahmen für den US-Militäraufmarsch am Golf.

Viertens dienten die von der Reagan-Regierung 1987/88 eingesetzten Methoden zur Niederschlagung des Iran - so z.B. die Verwendung des UNO-Sicherheitsrats (was die stillschweigende Duldung der UdSSR voraussetzte), um den Aufmarsch der amerikanischen Flotte zu rechtfertigen, oder die enge Zusammenarbeit mit arabischen Schlüsselstaaten wie Saudi-Arabien und Ägypten - als Vorspiel für Bushs Strategie gegen seinen einstweiligen Verbündeten Saddam Hussein. Denn auch er zimmerte eine von der UNO gebilligte internationale Koalition zusammen, womit der erste wirkliche Bodenkrieg der USA seit Vietnam legitimiert wurde. Der ehemalige Assistent Reagans im Verteidigungsministerium, Robert McFarlane, hatte schon im Juli 1988, als der Iran schließlich um Frieden bat, gesagt: "Wir müssen uns daran erinnern, wie wir es gemacht haben, vielleicht müssen wir es wieder tun."76

Bushs Entscheidung, "es nochmal zu versuchen", nur diesmal in sehr viel größerem Ausmaß im Krieg gegen den Irak, bedeutete mehr als nur den Willen Washingtons, entschieden mit dem Vietnam-Syndrom zu brechen, oder aber nur die Umsetzung der Carter-Doktrin, keiner anderen Macht eine beherrschende Position am Golf zu gestatten. Der Zweite Golfkrieg ist nur verständlich vor dem Hintergrund einer beweglicheren und instabileren Periode interimperialistischer Konkurrenz, eingeleitet durch die osteuropäischen Revolutionen. Wie Bush und seine Berater in vielen Reden klar machten, war der Kriegszug am Golf ein Mittel, um Amerikas weltweite politische und militärische Führung wieder geltend zu machen. Washington ergriff die Gelegenheit, die der Rückzug der UdSSR von der Weltbühne in die alles absorbierende innere Krise bot, mit beiden Händen. Es war der Versuch, die Golfkrise zu benutzen, um den herrschenden Klassen der Welt zu demonstrieren, daß die Stabilität der Weltwirtschaft letztlich von der militärischen Macht des amerikanischen Staates abhängt. Diese Botschaft zielte in erster Linie auf Bushs widerspenstige Alliierte in Tokio und Bonn. Beide sollten daran erinnert werden, daß nur das Pentagon die Sicherheit ihrer Öllieferungen garantieren kann, und sie sollten enger an die diplomatische Führung der USA angebunden werden.

Ob diese Strategie erfolgreich ist, hängt bis zu einem gewissen Grad von der Länge und dem Ausgang des Krieges ab. Aber schon in den ersten Tagen gab es Anzeichen, daß der Zweite Golfkrieg womöglich die Konflikte innerhalb des westlichen Blocks verstärken könnte. Der. heftige Streit, den Washingtons Aufforderung an die europäischen und japanischen Verbündeten zur Beteiligung an den Kriegskosten hervorrief, Deutschlands mangelnde Bereitschaft, dem NATO-Staat Türkei zu Hilfe zu kommen, falls er in den Krieg hineingezogen würde, Frankreichs zweideutige Haltung in den letzten Friedenstagen - nichts davon deutet auf den Beginn einer neuen Pax Americana, die einige Kommentatoren vorausgesagt hatten.77 Die Tatsache, daß die Bush-Regierung 36 von den auf 50 Milliarden Dollar geschätzten Kriegskosten aus Beiträgen Saudi Arabiens, Kuwaits und anderer Verbündeter zu decken hofft, weist auf den tiefen Abstieg der USA von ihrer weltweiten wirtschaftlichen Vorherrschaft nach 1945.78 Die Tage von "Lend Lease", als die USA die alliierten Kriegsanstrengungen gegen Deutschland und Japan finanzierten, sind vorbei. Wie Noam Chomsky höhnisch bemerkte, scheint Amerika nicht mehr der Weltpolizist von einst zu sein, sondern ist vielmehr zum Weltsöldner geworden: "Wir führen die Intervention durch und andere zahlen dafür."79 Der Zweite Golfkrieg wird den Niedergang der USA wahrscheinlich eher beschleunigen als ihn abwenden.

2. Der Aufstieg von Subimperialismen in der Dritten Welt. Ein zentraler Faktor in der Entwicklung einer pluralistischeren und deshalb instabileren Weltordnung war der Aufstieg von Subimperialismen in den vergangenen zwanzig Jahren. Subimperialismus bedeutet, daß Dritte-Welt-Mächte im regionalen Maßstab nach der gleichen militärischen und politischen Vorherrschaft streben, über die die Supermächte im Wetmaßstab verfügen. Der Nahe und Mittlere Osten, seit 1945 die instabilste Region der Welt (der gegenwärtige Krieg am Golf ist der siebte größere Krieg in der Region; darüberhinaus gab es einige Bürgerkriege und langwierige Aufstände), beherbergt unglücklicherweise die größte Ansammlung von Bewerbern um eine solche Rolle - Israel, Iran, Irak, Ägypten, Syrien und die Türkei. Aber es gibt auch woanders Aspiranten für eine regionale Vorherrschaft: Indien, Vietnam, Südafrika, Nigeria, Brasilien und Argentinien sind wichtige Beispiele. Ein Konflikt zwischen zwei von diesen Mächten, dem Iran und dem Irak, führte zum Ersten Golfkrieg (1980-88), dem längsten konventionellen Krieg in diesem Jahrhundert. Nun wird die ganze Macht der USA gegen den Sieger dieses Kriegs ausgespielt. Die Frage nach dem Wesen des Subimperialismus ist bei jedem Versuch, den heutigen Imperialismus zu verstehen, eine ganz entscheidende Frage.

Hinter dem Phänomen des Subimperialismus liegt die partielle Industrialisierung der Dritten Welt, die zur Folge hatte, daß neue Zentren der Kapitalakkumulation außerhalb des imperialistischen Kerns entstanden sind. Wie bei der ursprünglichen Entstehung des Imperialismus im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts ist typischerweise die Verfügung über eine entwickelte industrielle Basis eine Voraussetzung, um eine regionale militärische Macht aufzubauen. Typischerweise, aber nicht ausnahmslos: Nach der endgültigen Niederlage der USA 1975 wurde Vietnam zur vorherrschenden Macht in Indochina, obwohl seine Wirtschaft vom Krieg zerrüttet war und durch das von Washington inszenierte westliche Handels- und Hilfsembargo noch weiter geschwächt wurde. Dennoch wirft der Aufstieg von Subimperialismen die Frage nach den politischen Konsequenzen der Entwicklung industrieller Kapitalismen in der Dritten Welt in all ihrer Schärfe auf.

Eine ziemlich weit verbreitete Reaktion auf der Linken war, dieser Entwicklung einfach jede Bedeutung abzusprechen. Man griff auf die gleichen orthodoxen Erklärungen zurück wie zuvor eine ganze Generation von linken Nationalisten und Dritte-Welt-Theoretikern, in deren Augen die Entkoloni-sierung die Beziehungen zwischen reichen und armen Ländern rein oberflächlich verändert hatte. Nach dieser Auffassung wurden die Ex-Kolonien durch ihre wirtschaftliche Abhängigkeit von den fortgeschrittenen Ländern in praktisch der gleichen Stellung gehalten, die sie schon vor ihrer Unabhängigkeit innehatten. Dem gesetzlichen Status nach mögen diese "Neokolonien" oder "Halb-Kolonien" souverän sein. Doch die wirklichen Weltmachtverhältnisse führen dazu, daß sie den westlichen imperialistischen Ländern immer noch strikt untergeordnet sind. Der Begriff "Subirnperialismus" wurde erstmals innerhalb dieses theoretischen Rahmens geprägt. So schrieb Fred Halliday über den Nahen Osten 1974, als er noch vom Maoismus beeinflußt und ein harter Gegner des Imperialismus war:

    Die Stabilität des imperialistischen Systems in der Region beruhte auf dem Aufbau einer Gruppe von kapitalistischen Zwischenstaaten, die im allgemeinen bevölkerungsreich und stark genug waren, eine größere Rolle in der Region zu spielen. Sie sind subimperialistische Staaten, Mittler im ausbeuterischen Ganzen . Die Armeen und die herrschenden Klassen dieser Staaten sind die Hauptagenten des Imperialismus in dieser Region, während der Imperialismus selbst Militärbasen aufrechterhält und sie mit verdeckter Hilfe versieht.80

Die offensichtliche Schwierigkeit eines solchen Ansatzes besteht darin, daß es einfach nicht einleuchtet, warum man kapitalistische Staaten wie die Islamische Republik Iran und den baathistischen Irak, die sich darauf vorbereitet haben, dem US-Imperialismus zu trotzen und sogar, im letzteren Fall, gegen die USA zu kämpfen, als reine "Agenten des Imperialismus" beschreiben sollte. Einige herrschende Klassen in der Dritten Welt haben ganz offensichtlich einen beträchtlichen Grad an Autonomie gegenüber den imperialistischen Mächten erlangt.

Als Reaktion auf diese Abhängigkeitstheorie und ähnliche Vorstellungen, wie z.B. den Neokolonialismus, sind in den letzten 10 Jahre beträchtliche Teile der Linken zum gegenteiligen Extrem gewechselt. Beispielsweise argumentiert Bill Warren: "Der Begriff der Abhängigkeit war immer unpräzise; seine Bedeutung, insofern er eine hat, bezieht sich fast ausschließlich auf die politische Kontrolle eines Landes durch ein anderes." Warrens stillschweigende Folgerung ist, daß die Bourgeoisie in der Dritten Welt mit der politischen Unabhängigkeit die Mittel errungen hat, mit denen sie zugleich ihre ökonomische Abhängigkeit von den fortgeschrittenen Wirtschaften beenden kann.81 Aufgrund der gleichen Überlegungen nahmen einige iranische Sozialisten während des Ersten Golfkrieges eine defätistische Position ein - sogar noch, als die USA im Sommer 1987 intervenierten - und argumentierten, daß der Iran eine entwickelte kapitalistische Macht sei, im Wesen vergleichbar mit den USA. Ohne die Entschuldigung, die die iranische Linke hatte - die ja unter der Geheimpolizei der Mullahs gelitten hatte-, nahm die New Left Review in der Vorbereitungsphase zum Zweiten Golfkrieg eine ähnliche Haltung ein. Sie erklärte: "Die Linke sollte nicht die militärischen Bestrebungen irgendeines der Räuber unterstützen, die jetzt in der Wüste aufeinanderprallen."82

Es ist ziemlich absurd, den Irak mit einer Bevölkerung von 17,8 Millionen und einem Pro-Kopf-Einkommen von 2140 Dollar mit den Vereinigten Staaten mit einer Bevölkerung von 245,8 Millionen und einem Pro-Kopf-Einkommen von 19780 Dollar gleichzusetzen.83 Wie können wir aber richtig den Unterschied bestimmen? Zunächst wollen wir das wahre Element betonen, das von Warren und anderen Gegnern der Dependenztheorie vorgebracht wird. Erstens, die Bildung eines konstitutionell unabhängigen Staats kann als Kristallisationspunkt einer autonomen kapitalistischen Klasse wirken: Selbst ein bestechliches, von äußerer Unterstützung stark abhängiges Regime wird wahrscheinlich einen gewissen Grad an ökonomischer Entwicklung fördern, um seine soziale Basis zu erweitern und das Volkseinkommen anzuheben, aus dem die Staatseinnahmen herrühren. Es wird auchf Aktivitäten entfalten, um die territoriale Macht des neuen Staates zu festigen, z.B. Schul- und Straßenbau - eine wichtige Voraussetzung für weitere Kapitalakkumulation. Die imperialistische Zerstückelung Staaten in der Region unter der Ägide von London oder Paris gebildet wurden, veranschaulicht diesen Prozeß. Über den Irak unter Faisal I, den die Briten kurzerhand vom Königreich Syrien, das er nach dem arabischen Aufstand ausgerufen hatte, entfernten, um ihn 1921 auf den neuen Thron von Bagdad zu setzen, schreibt Hanna Batatu:

    Obwohl die haschemiüsche Monarchie ein Geschöpf der Engländer war, so atmete sie doch in den ersten zwei Jahrzehnten ihrer Existenz einen Geist, der in tiefem Gegensatz zu ihrem eigenen stand. Ihre dynastischen Interessen waren ursprünglich eng mit dem Schicksal der panarabischen Bewegung verwoben, sodaß ihre grundsätzliche Neigung in der Periode von 1921-1939 die war, das Werk des Aufbaus einer unabhängigen Nation im Irak- in dem Umfang, wie es ihre abhängige Stellung erlaubte - voranzutreiben.

So baute Faisal das Erziehungssystem ganz erheblich aus, um das Gefühl einer nationalen Identität zu schmieden in einer äußerst heterogenen Bevölkerung, die "bar jeder patriotischen Idee, durchtränkt mit religiösen Traditionen und Absurditäten, durch kein gemeinsames Band zusammengehalten" wurde, wie er feststellte, und versuchte, eine Armee als Instrument einer unabhängigen Staatsmacht aufzubauen. Die Briten reagierten darauf mit dem Gegenversuch, die Größe der Armee zu beschränken und die Macht der Stammesfürsten zu stärken, um den embryonalen Nationalstaat, den Faisal bemüht war aufzubauen, zu schwächen.84 Ein vergleichbarer Prozeß fand auf der arabischen Halbinsel statt, wo Anfang der 20er Jahre die Zeloten der Wahhabi unter Ibn Saud erfolgreich Hussein, Faisals Vater und Kalifen von Mekka, vertrieben. Ibn Saud war genauso ein britischer Klient wie die Haschemiten, nur wurde er vom Indischen Büro finanziert und bewaffnet, und nicht, wie diese, vom Außenministerium. (Arnold Toynbees Kommentar dazu: "Es wäre billiger... und mannhafter von den Beamten in den zwei kriegsführenden Abteilungen gewesen, wenn sie sich direkt bekämpft hätten.")85 Doch sogar der Staat, den Ibn Saud schuf, Saudi Arabien, konnte trotz seiner dynastischen Politik und seiner reaktionären islamischen Ideologie die anfallenden Ölerträge benutzen, um eine substantielle kapitalistische Entwicklung in Gang zu setzen.86.

Dieser Prozeß des Staatsaufbaus fand jedoch innerhalb bestimmter Grenzen statt. Zum Teil waren sie wirtschaftlicher Art. 1934 berichtete der britische Botschafter im Irak dem Außenministerium:

    Die ausländischen geschäftlichen Interessen im Irak sind, dank dem Bestehen der britischen Verbindung, vorwiegend britisch... Der größte Teil des Außenhandels des Landes wird auf britischen Schiffen getätigt. Das Auslandskapital, das in das Land eingedrungen ist, ist nahezu ausschließlich britisch. Zwei von drei Banken sind vollständig britisch... Fast das gesamte Versicherungswesen befindet sich in der Hand britischer Unternehmen. Auf einem anderen Geschäftsfeld arbeitet die "Euphrates and Tigris Steam Navigation Co", eine seit langem etablierte britische Firma... Sie hat nur einen einheimischen Konkurrenten, einen rivalisierenden Transporteur auf dem Tigris zwischen Basrah und Bagdad... In jeder Hinsicht bleibt der britische geschäftliche Einfluß, trotz der intensiven japanischen Konkurrenz, ausschlaggebend.87

Zusätzlich zu diesen Fesseln der wirtschaftlichen Abhängigkeit waren die arabischen Staaten durch formale politische Einschränkungen an die metro-polen Mächte gebunden. So garantierte der Anglo-Irakische Vertrag von 1930, der 1948 durch die Portsmouth-Vereinbarung im wesentlichen erneuert wurde, Großbritannien Fliegerstützpunkte und die Kontrolle über die Außenpolitik des Landes. Hinter solchen formellen Verbindungen verbarg sich die Realität der imperialen Militärmacht. Als sich König Faruk von Ägypten weigerte, den Premierminister einzusetzen, den ihm der britische Botschafter vorgeschlagen hatte, wurde sein Palast am 4. Februar 1942 von Panzern umstellt, bis er nachgab. Staaten in einer solchen Position sind in Wirklichkeit Halbkolonien, selbst wenn sie ihrer Verfassung nach unabhängig sind.88

Die Erinnerung an solch demütigende Unterordnung unter die imperialistischen Mächte blieb noch wach, lange nachdem diese Staaten einen viel höheren Grad der Unabhängigkeit erworben hatten. Das hilft uns zu verstehen, warum die anti-imperialistische Rhetorik weiterhin einen so starken Anklang findet in der Bevölkerung dieser Länder, die in keiner Weise mehr als Halb-Kolonien betrachtet werden können. Welche Kräfte wirkten bei der Herausbildung autonomer kapitalistischer Klassen in der Dritten Welt und versetzten sie in die Lage, eine subimperialistische Rolle anzustreben?

Erstens spielte die Dekolonisierung eine Rolle, denn der Abbau der europäischen Kolonialreiche hatte auch wirtschaftliche Folgen. Die ausschließliche Kontrolle der kolonialen und halbkolonialen Wirtschaften durch die jeweiligen metropolitanen Mächte wurde nun durch einen beweglicheren Zustand ersetzt. Multinationale Konzerne aus einer Vielzahl westlicher Staaten investierten im selben Land. Damit konnte der Staat dieses Landes zwischen ihnen und den Steuereinnahmen manövrieren, um die Entwicklung des einheimischen Kapitals zu fordern. Die Veränderung der südirischen Wirtschaft in den vergangenen 30 Jahren ist dafür ein gutes Beispiel: Die 26 Counties exportieren nicht mehr in erster Linie Agrargüter nach Großbritannien, sondern sind ein wichtiger Standort für Direktinvestitionen von Firmen aus den USA, Westeuropa und Japan, insbesondere in der chemischen und verarbeitenden Industrie, die mittlerweile Nahrungsmittel, Getränke und Tabak als Hauptexportgüter überholt haben.89

Diese mannigfaltigere Beziehung zum westlichen Kapital wurde zweitens begleitet von einer Ausdehnung des einheimisch kontrollierten industriellen Kapitalismus. Eine der sorgfältigsten Diskussionen dieser Frage wurde von zwei argentinischen Marxisten, Alexandro Dabat und Luis Lorenzano, vorgelegt. Sie sind eine Herausforderung an die herrschende Meinung auf der argentinischen Linken, einschließlich orthodox-trotzkistischer Gruppen wie MAS (Bewegung für Sozialismus), wonach Argentinien eine "Halbkolonie" des Westens sei. Dabat und Lorenzano argumentieren, daß das Land nach 1945 eine "kapitalistische Entwicklung auf einer staats-monopolistischen Grundlage" erlebt hat, gekennzeichnet von einer Stagnation ausländischer Investitionen seit Ende der 60er Jahre und, über die wachsende staatliche Intervention in der Wirtschaft hinaus, von einem steigenden Anteil an Industrien direkt in staatlicher Hand. Infolgedessen ist "die Bourgeoisie als Ganze die herrschende Klasse und ... ihre mächtigste Fraktion ist nun die moderne monopolistische Finanzbourgeoisie, die für die großen Kapitalinteressen in Landwirtschaft, Industrie und Handel spricht und mit dem Staatskapital und der zivil-militärischen Bürokratie verschmolzen ist."90

Dabat und Lorenzano weisen deshalb die Auffassung zurück, daß Argentinien ein "abhängiger" Kapitalismus sei und seine Bourgeoisie reine Kom-pradoren:

    Argentinien ist ein Netto-Importeur von Kapital und Waren (einschließlich Technologie), die es für die erweiterte Reproduktion und intensive Industrialisierung braucht. Doch seit den 60er Jahren, als seine technische und finanzielle Unabhängigkeit zunahm, begann Argentinien eine Exportindustrie zu entwickeln und stärkte seine Rolle als regionaler Kapitalexporteur. Seit 1966 ist es ihm auch gelungen, seine Rolle als Großexporteur von Getreide wieder aufzunehmen, während sein mächtiger militärischer Staatsapparat seine Operationssphäre auf dem südliche Erdball, in Zentralamerika und im Südatlantik ausgedehnt hat. Diese aktiven Erscheinungen müssen als Ausdruck der "externen" Interessen des argentinischen Kapitalismus gesehen werden - d.h. ein Stadiumder nach außen orientierten Expansion, in dem Handels-, finanzielle und militärische Faktoren im wesentlichen vereint sind. So ist es möglich, Argentinien als eine sich herausbildende regionale kapitalistische Macht zu charakterisieren, die finanzielle, kommerzielle und technologische Abhängigkeiten mit der Entwicklung einer kapitalistischen, monopolistischen Wirtschaft mit regionalen imperialistischen Zügen vereint.61

Auf der Grundlage dieser Analyse greifen Dabat und Laurenzo die Position an, die von der Masse der argentinischen Linken während des Falkland/Malvinen-Kriegs von 1982 eingenommen worden war, als sie das Galtieri-Regime gegen Großbritannien unterstützten. Dies geschah auf einer Grundlage, die von MAS so ausgedrückt wurde: "Großbritannien ist ein imperialistisches Land, Argentinien ist eine halbkoloniales Land. Wir Arbeiter kämpfen auf der Seite der Kolonisierten in jeder Konfrontation zwischen einem imperialistischen und einem halbkolonialen Land." Dabat und Lorenzano weisen diesen linken Nationalismus zurück:

    Der Krieg... war eine Fortsetzung der antidemokratischen Innenpolitik der Junta und ihres expansionistischen Vorstoßes nach außen. Obwohl er gegen den britischen Imperialismus für einen historisch legitimen Anspruch geführt wurde, war er weder ein anti-kolonialer Konflikt noch der Kampf einer unterdrückten Nation gegen eine Unterdrückernation. Die kämpfenden Parteien waren: ein emporkommendes kapitalistisches Land mit regionalen und kontinentalen imperialistischen Merkmalen und eine seit langer Zeit bestehende imperialistische Macht, die, obwohl in deutlichem Niedergang befindlich, immer noch eine mächtige Kraft ist. Ein fortschrittliches und ein reaktionäres Lager gab es nicht...Die eine reaktionäre Seite wollte ihren Einfluß ausdehnen, während die andere daran interessiert war, die letzten Fäden ihres früheren Kolonialreiches zusammenzuhalten und eine Hackordnung zwischen den nationalen Teilstücken des kapitalistischen Blocks einzurichten.92

Wenn man diese im Großen und Ganzen richtige Analyse des Falkland-Kriegs verallgemeinert, dann kann man argumentieren, daß der gleiche Prozeß der kapitalistischen Entwicklung, der den Imperialismus zum ersten Mal entstehen ließ, jetzt Subimperialismen produziert. Wenn Zentren der Kapitalakkumulation außerhalb des imperialistischen Kerns des Systems entstehen, gewinnen die Tendenzen, die Lenin, Bucharin und Hilferding als Tendenzen zum Monopol, Finanzkapital und Staatskapitalismus analysiert hatten, sogar eine noch ausgeprägtere Form, da die Staatsintervention bei der Förderung der Industrialisierung der Dritten Welt eine zentrale Rolle spielt.

Wenn die Ausdehnung des industriellen Kapitalismus die nationalen Grenzen sprengt, entstehen unvermeidlich regionale Konflikte zwischen rivalisierenden Subimperialismen - zwischen Griechenland und der Türkei, Indien und Pakistan, Iran und Irak-oder es kommt, wenn solche Rivalitäten fehlen, zu einer wachsenden regionalen Vorherrschaft eines bestimmten Subimperialismus (Südafrika im südlichen Afrika, Australien im Südpazifik). (93)

Wenngleich diese Analyse auch ein großes Stück Wahrheit enthält, so ist es doch wichtig, sie näher zu bestimmen. Weder hat der Aufstieg von Subimperialismen in einem Vakuum stattgefunden, noch hat er eine Welt von kapitalistischen Staaten geschaffen, deren Machtunterschiede bloß quantitativ und nicht qualitativ wären. Die Masse der Industrieproduktion und militärischen Macht auf der Welt ist immer noch in Nordamerika, Westeuropa, Japan und der UdSSR konzentriert: 1984 lag der Anteil der weniger industrialisierten Länder an der Weltindustrieproduktion bei 13,9 Prozent- knapp unter dem 14-Prozent-Anteil, den sie 1948 aufgrund der Importsubstitution während der Großen Depression und des Zweiten Weltkriegs erreicht, aber später aufgrund des langen Booms in den 50er und 60er Jahren wieder verloren hatten.94 Dieses Ungleichgewicht in der wirtschaftlichen Macht zeigt sich in der politisch-militärischen Hierarchie, die zwischen den Staaten der Welt besteht, insbesondere in der vorherrschenden Rolle der westlichen imperialistischen Mächte, Das Emporkommen regionaler Mächte in der Dritten Welt hat diese Hierarchie geändert, aber nicht abgeschafft. Ein dritter wichtiger Faktor, der beim Entstehen der Subimperialismen gewirkt hat, war die Politik der Supermächte, bestimmten mittelgroßen Staaten zu gestatten, eine regionale Vorherrschaft anzustreben.

So geht der Ausdruck "Subimperialismus" auf die Zeit zurück, als der amerikanische Kapitalismus eine strategische Wende vollzog, um sich aus dem vietnamesischen Schlamassel zu befreien. Die Nixon-Doktrin - genannt nach dem Präsidenten, der 1969 erstmals diese Politik öffentlich ankündigte - faßte ins Auge, einen Teil der Lasten für die Verteidigung westlicher Interessen in der Dritten Welt auf regionale Mächte zu übertragen, die dafür im Austausch militärische und wirtschaftlichen Hilfe erhalten sollten. Der Iran unter dem Schah ist ein gutes Beispiel, wie auf dem Weg der Industrialisierung befindliche Dritte-Welt-Staaten versuchten, das Vakuum zu füllen, das vom politisch geschwächten Imperialismus zurückgelassen worden war. Im diesem Fall war das Vakuum am Golf nach Großbritanniens endgültigem Rückzug östlich von Suez entstanden.95 Allgemeiner ausgedrückt: Die Subimperialismen konnten eine regionale Rolle anstreben, nicht nur weil sie eine bestimmte Stufe der kapitalistischen Entwicklung erreicht hatten, sondern auch dank der Unterstützung durch eine oder beide Supermächte.

In der Regel waren es die USA, der mächtigste imperialistische Staat in der Welt, die als Schutzherr von Regionalmächten handelten. Doch im Fall Vietnams war es die russische Hilfe, die Hanoi in Indochina die Vorherrschaft erlaubte, obwohl seine Wirtschaft sehr darniederlag. Und Indien errang die Hegemonie in Südasien, indem es lange Zeit gekonnt zwischen beiden Supermächten manövrierte, die gleichermaßen darauf erpicht waren, gute Beziehungen zu diesem Land zu pflegen.

Daraus folgt nicht, daß die Subimperialismen reine Marionetten ihrer Supermacht-Förderer sind. Die Arrangements, die es bestimmten Staaten erlauben, eine regionale Rolle zu spielen, beruhen typischerweise auf einer Interessensübereinstimmung zwischen beiden beteiligten herrschenden Klassen, und nicht auf der Kontrolle des Schutzherrn über seinen Klienten. Interessen, die übereinstimmen, können auch in Konflikt geraten. So war selbst ein Subimperialismus, der äußerst direkt von der militärischen und wirtschaftlichen Hilfe der USA abhängig ist, nämlich Israel (die US-Hilfe betrug auf ihrem Höhepunkt 1986 4,2 Milliarden Dollar und war auf 18 Prozent des israelischen Bruttosozialprodukts gestiegen) oft in der Lage, Washington zu trotzen: Die Halsstarrigkeit der Schamir-Regierung in der palästinensischen Frage brachte den US-Außenminister James Baker dazu, nur wenige Wochen vor der irakischen Invasion in Kuwait öffentlich seinen Ärger und Frust auszudrücken. Dennoch gibt es für die Autonomie jedes Subimperialismus Grenzen, die zu einer direkten Konfrontation mit den Großmächten führen können, wenn sie verletzt werden.

Nur in diesem Zusammenhang werden die Ereignisse am Golf in den letzten 10 Jahren verständlich. Die iranische Revolution von 1978/79 beseitigte den mächtigsten Bündnispartner der USA in dieser Region. Wohl oder übel begann Washington, sich in die Richtung des einzigen Staates zu neigen, der willig und fähig war, die Rolle des Schahs zu übernehmen - das baathistische Regime im Irak. Die spätere Entfaltung der amerikanischen Politik gibt denjenigen Sozialisten Unrecht, die den Ersten Golfkrieg von 1980-88 als eine regionale Version des Ersten Weltkriegs von 1914-18 ansahen, als einen Kampf zwischen zwei Subimperialismen, in denen die Arbeiter auf beiden Seiten die Niederlage ihrer eigenen Regierung begrüßen sollten. Dilip Hiro faßt die Haltung der USA zusammen:

    Solange das Patt an den Frontlinien bestand, begnügte sich Washington, in diesem Konflikt den Anschein der Neutralität aufrechtzuerhalten. Aber als sich die Waagschale Ende 1983 zunehmend zugunsten des Iran neigte, änderten die USA ihre Position und erklärten nun, daß eine Niederlage des Irak gegen ihre Interessen wäre. Mit jedem militärischen Erfolg des Iran - von den Majnoon Inseln 1984 zu Fao 1986 und Shalamche ein Jahr später - verstärkte Washington seine Unterstützung für Bagdad. Sie gipfelte schließlich in einem noch nie dagewesenen Aufmarsch der Flotte am Golf, was praktisch die Eröffnung einer zweiten Front gegen die Islamische Republik bedeute.96

Die Niederlage des Iran im Ersten Golfkrieg war eine brutale Demonstration der Fähigkeit des US-Imperialismus, den Ausgang regionaler Konflikte zu bestimmen. Nun wurde eine viel grausamere Entfaltung der militärischen Macht Amerikas in Gang gesetzt, um den Staat, der den Krieg mit Washingtons Unterstützung gewonnen hatte, zu zerstören. Die irakische Invasion Kuwaits war in zweifacher Hinsicht eine unmittelbare Folge des Ersten Golflcriegs: Zum einen wollte das Baath-Regime die wirtschaftliche Krise, die es aus dem Krieg geerbt hatte, durch eine Annexion Kuwaits und seines Ölreichtums lösen, und zum anderen ermutigten die guten Beziehungen zwischen Washington und Bagdad Saddam Hussein geradezu, die widersprüchlichen Signale des US-Außenministeriums ("wir beziehen in innerarabischen Konflikten, wie Ihre Grenzstreitigkeiten mit Kuwait, keine Position" sagte ihm der US-Botschafter am 25, Juli 1990)97 als grünes Licht fehl zu interpretieren. Aus obengenannten Gründen entschied die Bush-Regierung, die Invasion als ausreichenden Kriegsanlaß zu behandeln. Das zeigt, daß die Unterschiede zwischen einer imperialistischen und einer subimperialistischen Macht nicht angezweifelt werden können.

3. Ein instabiles Gleichgewicht zwischen Nationalstaat und Weltmarkt. Wie wir gesehen haben war die Internationalisierung des Kapitals ein entscheidender Faktor bei der Unterhöhlung der politischen und wirtschaftlichen Ordnung, die für den Nachkriegsimperialismus charakteristisch war. Von Neoliberalen wie Tim Congdon, aber auch von einigen Sozialisten, wurde diese Tendenz jedoch oft dahingehend mißverstanden, daß sie quasi das nahende Ende der National Staaten ankündigten.98 Solche Argumente sind falsch. Obwohl es seit 20 Jahren eine deutliche Tendenz zu einer weltweiten Integration des Kapitals gibt, die die Fähigkeit des Staates, die wirtschaftlichen Aktivitäten innerhalb der eigenen Grenzen zu kontrollieren, ernsthaft geschwächt hat, fahren die privaten Kapitalien fort, sich eben auf diesen Nationalstaat, mit dem sie am engsten verbunden sind, zu stützen - um sich gegen die Konkurrenz durch andere Kapitalien, gegen die Auswirkungen der wirtschaftlichen Krise und gegen den Widerstand derjenigen, die sie ausbeuten, zu schützen. In der wirtschaftlichen Sphäre ist das offensichtlich. Deshalb will ich hier nicht noch einmal ausführlich die Argumente darstellen, die auf den Seiten dieser Zeitschrift bereits diskutiert wurden und die außerdem in einem bald erscheinenden Artikel von Chris Harman umfassend ausgearbeitet werden.99 Die langanhaltende Genesung der westlichen Wirtschaften von der Rezession 1979-82 wäre jedenfalls nicht denkbar ohne die Anwendung der klassischen keynesianischen Politik hoher Staatsausgaben und des leichten Geldes, zuerst in den USA, dann in Großbritannien und Japan und schließlich auch in Deutschland. Noch spektakulärer war, daß der Zusammenbruch des Weltfmanzsystems zur Zeit des Börsenkrachs im Oktober 1987 nur dank der Intervention des US Federal Reserve Board und anderer westlicher Zentralbanken vermieden werden konnte. Die wirtschaftliche Rolle des Staates im westlichen Kapitalismus mag vermindert und teilweise reorganisiert worden sein. Doch, es ist reinstes monetaristisches Wunschdenken, seine Existenz als abgeschafft oder abschaffbar zu betrachten.

Wenn überhaupt, dann hat die zunehmende Konkurrenz, die durch die Internationalisierung des Kapitals möglich wurde, die nationalen Widersprüche innerhalb der Weltbourgeoisie verschärft. Der sichtbarste Ausdruck davon sind die regionalen Handelsblöcke, die die größten Wirtschaften der Welt um sich herum bilden. Am deutlichsten wird das bei den Schritten zur weiteren Integration der EG, weil der deutsche Handel und die deutschen Investitionen sehr stark auf dem europäischen Kontinent konzentriert sind. Aber auch die gewaltige Ausdehnung des japanischen Kapitals und Handels in Ostasien in den letzten Jahren und die Anstrengungen der USA, ihr Freihandelsabkommen mit Kanada und Mexiko auszuweiten, um einen nordamerikanischen Handelsblock zu schaffen, weisen auffallende Ähnlichkeiten auf.100

Der Zusammenbruch der GATT-Verhandlungen im Dezember 1990 unterstreicht nur die Gefahr, daß sich der Weltmarkt wie in den 30er Jahren in protektionistische Blöcke aufspaltet. Doch ist eine Wiederholung dieses Prozesses aufgrund der weitaus entwickelteren weltweiten wirtschaftlichen Integration unwahrscheinlich: Das japanische Kapital z.B. strebt in erster Linie nicht danach, statt mit militärischen diesmal mit wirtschaftlichen Mitteln die Große Ostasiatische Wohlstandssphäre aus der Kriegszeit wieder aus der Taufe zu heben, sondern will seine Direktinvestionen in den USA und in Westeuropa ausdehnen; gleichzeitig würde ein offener Handelskrieg mit Japan die amerikanische Industrie von ihrer Hauptquelle mikroelektro-nischer Komponenten abschneiden. Dennoch führt das Auftreten rivalisierender westlicher Handelsblöcke sowohl zur Destabilisierung der Weltwirtschaft als auch zur Ermunterung individueller Kapitalien, sich an ihren Nationalstaat zu wenden, damit ihre Interessen in einer feindlichen Welt verteidigt werden.

Eine wesentliche Frage ist die nach den Folgen dieser Entwicklung für militärische Konflikte zwischen Staaten. Congdons Voraussage, daß aufgrund der Intemationalisierung des Kapitals "militärische Konflikte zwischen Nationen ganz und gar absurd werden" ist unter den bestehenden Umständen selbst ziemlich absurd. Solange dieses Weltsystem weiterbesteht, mit seinen Kapitalien, die wirtschaftlich konkurrieren und in rivalisierende Nationalstaaten integriert sind, wird Krieg das letzte Mittel der Konfliktaustragung sein. Doch was kann über die militärische Konkurrenz in der "Neuen Weltordnung" konkreter gesagt werden? Auch wenn man, um ein vollständiges Bild zu erhalten, noch weitere zukünftige Entwicklungen abwarten muß, können eine Reihe wichtiger Feststellungen gemacht werden.

Erstens: Die militärische Konkurrenz zwischen den Supermächten ist noch nicht vorbei und wird nicht aufhören. Der Zerfall der beiden großen europäischen militärischen Bündnisse, der NATO und des Warschauer Pakts, bedeutet nicht, daß die USA und die UdSSR abrüsten. Im Gegenteil: Wie John Rees gezeigt hat, sind beide gegenwärtig mit der Modernisierung und Reorganisierung ihrer Streitkräfte beschäftigt, um mit ihnen High-Tech Kriege statt der Massenpanzerschlachten des Zweiten Weltkriegs führen zu können.101 Die UdSSR hat zwar ihr osteuropäisches Imperium verloren und sich aus der Dritten Welt zurückgezogen, doch hat dos keine Identität der Interessen zwischen Washington und Moskau geschaffen. Ganz im Gegenteil, es gibt Hinweise, die nahelegen, daß nur die starke Abhängigkeit des russischen Regimes vom Wohlwollen des Westens es dazu veranlaßte, die US-Politik am Golf zu unterstützen. Die UdSSR hat nämlich nur wenig Interesse daran, daß die USA einen langjährigen Bündnispartner in einer Region zerstört, die an ihre eigenen, in wachsendem Maße instabilen, moslemischen Republiken angrenzt. Langfristige Widerspriiche bleiben zwischen den Supermächten bestehen und werden weiterhin das Wettrüsten zwischen ihnen anheizen.

Zweitens: Wie wir gesehen haben, versuchen die USA einen Vorteil aus der Schwäche der UdSSR zu gewinnen, um die Stellung, die sie am Ende des Zweiten Weltkriegs als Führer der kapitalistischen Klassen der Welt besaßen, wiederzubesetzen. Der ökonomische Niedergang und die finanzielle Abhängigkeit des amerikanischen Kapitalismus zwingen sie jedoch, auf ihre militärische Macht zu bauen, um diese Rolle beanspruchen zu können; sie müssen als Weltpolizist handeln, wenn sie schon nicht mehr, wie in den 40er Jahren, Weltproduzent sind. Man muß nicht, wie Paul Kennedy im Rise and Fall of the Great Powers ["Aufstieg und Fall der Großmächte"], eine mechanische Beziehung zwischen Ökonomischer Stärke und militärischer Macht postulieren, um vorherzusagen, daß die in dieser Situation innewohnenden Widersprüche wahrscheinlich immer stärker zum Vorschein kommen werden, was auch immer der Ausgang der gegenwärtigen Golfkrise sein mag.

Bushs Versuch, die US-Hegemonie wieder geltend zu machen, ist zum großen Teil eine Antwort auf, das wichtigste Merkmal der gegenwärtigen Phase des Imperialismus - die Rückkehr zu einer Welt, die politisch wie auch ökonomisch multipolar ist, was sich im wachsenden Gewicht Deutschlands und Japans in der Weltpolitik widerspiegelt. Das führt zu einem dritten Punkt. Der Imperialismus nach dem Zweiten Weltkrieg war, wie wir gesehen haben, durch ein teilweises Auseinanderfallen von wirtschaftlicher und militärischer Konkurrenz gekennzeichnet. Rivalitäten zwischen amerikanischen, japanischen und deutschen Unternehmen um Märkte führten nicht zu Kriegen zwischen ihren jeweiligen Staaten. Wird der Zusammenbruch der Supermachtblöcke möglicherweise zu einer erneuten Übereinstimmung zwischen ökonomischer und militärischer Konkurrenz führen, so daß Japan und Deutschland nicht nur ökonomische, sondern auch militärische Supermächte werden? Im gegenwärtigen Stadium eines starken internationalen Wandels ist dies eine besonders schwierige Frage. Was sicherlich gesagt werden kann, ist folgendes. Es gibt Hinweise, die nahelegen, daß die Antwort auf diese Frage 'Ja' heißt. Japan hat schon den drittgrößten Rüstungsetat in der Welt. Deutschland verfolgt in den Beziehungen zu Osteuropa und der UdSSR klar seine eigenen Ziele; weiterhin ist in der laufenden Diskussion über die weitere EG-Integration ein Ziel, die europäische Außen- und Sicherheitspolitik zu koordinieren - ein Schritt, der den Einfluß Deutschlands weltweit stärken könnte. Newsweek ging in seiner Neujahrsausgabe 1991 so weit vorauszusagen, daß sowohl Japan wie auch Deutschland in den nächsten Jahren Atomwaffen erwerben würden.

Doch die Golfkrise illustriert auch, wie groß die Hindernisse auf dem Weg lapans und Deutschlands zu militärischen Großmächten sind. Beide Staaten haben in der Krise eine marginale Rolle gespielt, teilweise aufgrund der innenpolitischen Opposition gegen auswärtige militärische Verstrickung, teilweise auch deshalb, weil keiner der beiden Staaten (insbesondere Deutschland nicht) besonders gut ausgerüstet ist, um sich in derartig weitreichenden Operationen, wie sie gegen den Irak geführt wurden, zu engagieren. Großbritannien und Frankreich, deren Wirtschaften viel schwächer sind, die aber relativ große militärische Einrichtungen besitzen, um die Überbleibsel ihrer weltweiten imperialistischen Rolle zusammenzuhalten, hatten ein weit größeres Gewicht - ersteres mit seiner traditionellen "atlantischen" Politik als Washingtons Feldwebel in Europa, letzteres mit seiner typischerweise zweideutigen Haltung, bevor es sich fest mit dem amerikanischen Lager verbündete. Hinter der relativ unwichtigen Rolle, die Japan und Deutschland am Golf gespielt haben, liegt eine langfristige Entwicklung: Ihr Erfolg bei der Eroberung von Weltmärkten war großteils ein Ergebnis ihrer relativ geringen Militärausgaben, ein Vorteil, den ihre Militärexpansion untergraben würde. Die daraus im westlichen Bündnis resultierende Arbeitsteilung, in dem die USA die militärische Hauptrolle spielen, war eine Quelle endloser Konflikte, und der Beginn des Golfkrieges war ein natürlicher Anlaß für einen besonders bitteren Streit über die Teilung der Lasten. Der Krieg hat einerseits die Spannungen zwischen den USA und seinen westlichen wirtschaftlichen Rivalen verschärft, zum ändern aber auch innerhalb der EG - zwischen den Schwärmern für eine militärische Lösung (hauptsächlich Großbritannien und Holland) und den meisten anderen Mitgliedern, die sich lieber daran machen wollen, die Verhandlungen über die weitere europäische Integration voranzubringen.

Auch wenn die Tendenz der japanischen und deutschen herrschenden Klassen, ihre wirtschaftliche Stärke in militärische Macht umzuformen, noch in einem frühen Stadium ist, so ist doch eine Entwicklung, die das Ende des Kalten Kriegs mit sich gebracht hat, schon jetzt klar: Der Zerfall der Supermacht-Blöcke macht größere Kriege wahrscheinlicher. Das Ende der Teilung Europas und der Rückzug der UdSSR aus der Dritten Welt haben, zumindest kurzzeitig, die Wahrscheinlichkeit einer militärischen Konfrontation zwischen den Supermächten reduziert. Doch gleichzeitig wurden die Zwänge, die der Kalte Krieg den einzelnen Staaten auferlegte, ebenfalls beseitigt. Die gegenwärtige Golfkrise hätte vor einem Jahrzehnt, als die Spannungen zwischen den Supermächten noch akut waren, wahrscheinlich nicht stattfinden können. Moskau, das damals noch den Irak zu seinen engsten Verbündeten im Mittleren Osten zählte, hätte mit größter Wahrscheinlichkeit Saddam Hussein davon abgehalten, in Kuwait einzumarschieren. Und Washington hätte seinerseits sehr viel vorsichtiger auf eine solche Invasion reagiert, falls es doch dazu gekommen wäre - aus Angst, mit der UdSSR eine direkte Konfrontation, wie die Kubakrise im Oktober 1962, zu provozieren.

In der beweglicheren Welt, die jetzt entsteht, werden regionale Mächte wahrscheinlich geneigter sein, ihr Gluck zu versuchen, was die USA wiederum zu noch grausameren Gegenreaktionen provozieren könnte, da ihnen kein Einhalt mehr durch die Präsenz der UdSSR in Osteuropa und der Dritten Welt geboten wird. Selbst wenn sich die westlichen Imperialismen nicht unmittelbar in alle entstehenden Konflikte einmischen, so wie im gegenwärtigen Golfkrieg geschehen, sondern es den bestehenden und Möchtegern-Subimperialismen überlassen, sich gegenseitig abzuschlachten, sind die Aussichten für die Menschheit düster. Obwohl die Drohung eines Weltkriegs zwischen den Supermächten etwas geringer geworden ist, bedeutet die Verbreitung von Atomwaffen in der Dritten Welt (von Israel, Südafrika, Indien und Pakistan wissen wir schon, daß sie solche Waffen besitzen), daß der erste regionale Atomkrieg nicht mehr weit entfernt ist. Es gibt keine Anzeichen dafür, daß Kriege überholt sind.

Schlußfolgerungen

Zu Beginn dieses Jahrhunderts entwickelten Lenin, Luxemburg, Bucharin, Hilferding und andere eine Analyse des Imperialismus als eines bestimmten Stadiums der kapitalistischen Entwicklung, in dem Konzentration und Zen-tralisation des Kapitals zu einer Welt führten, die durch eine Handvoll rivalisierender militärischer und wirtschaftlicher Großmächte beherrscht wird. Trotz der Veränderungen, die das Weltsystem in den vergangenen 100 Jahren erfahren hat, erfaßt diese Theorie immer noch einige der Hauptmerkmale des heutigen Kapitalismus. Fürwahr, wir treten jetzt in eine Periode noch wilderer und instabilerer interimperialistischer Konkurrenz ein.

Diese Tatsache ist keineswegs nur von theoretischer Bedeutung. Aus zwei Gründen bleibt Lenin - ungeachtet der Schwächen seiner Version der Theorie - der Theoretiker des Imperialismus. Erstens begriff er klarer als irgendein anderer, daß der Imperialismus nicht eine Politik, sondern ein Stadium, ja das höchste Stadium, der kapitalistischen Entwicklung ist. So griff er Kautskys Argument an, daß "der Imperialismus nicht der heutige Kapitalismus ist; er ist nur eine unter mehreren Formen des heutigen Kapitalismus."102 Auf Kautskys mittelbare Schlußfolgerung, daß militärischer Konflikt und Krieg innerhalb des kapitalistischen Rahmens ausgelöscht werden könnten, erwiderte Lenin, daß nur die sozialistische Revolution dem Imperialismus und seinen zerstörerischen Tendenzen ein Ende setzen könne. Lenins zweiter wichtiger Beitrag liegt gerade in seinem politischen Verständnis des Imperialismus. Er begriff, daß die politische und wirtschaftliche Hierarchie, die der Imperialismus der Welt aufdrückt, auch Kämpfe entstehen lassen würde, die nicht unter der Fahne des revolutionären Sozialismus, sondern unter der des revolutionären Nationalismus geführt würden. Um den Wunsch nach einem unabhängigen kapitalistischen Nationalstaat verwirklichen zu können, würden diese aber zwangsläufig den Imperialismus herausfordern müssen.

Lenin verstand, daß diese Bewegungen - trotz der politischen Kluft zwischen ihnen und dem internationalen Sozialismus - Kriege und Revolutionen einleiten könnten, die den Imperialismus und daher auch den Halt der herrschenden Klassen überall auf der Welt schwächen würden. Seine Einsicht drückte er am klarsten aus, als er den Dubliner Aufstand der Iren gegen die Engländer Ostern 1916 gegenüber manchen Bolschewiken verteidigte, die ihn als kleinbürgerlichen "Putsch" abtun wollten:

    Denn zu glauben, daß die soziale Revolution denkbar ist ohne Aufstände kleiner Nationen in den Kolonien und in Europa, ohne revolutionäre Ausbrüche eines Teils des Kleinbürgertums mit allen seinen Vorurteilen, ohne die Bewegung unaufgeklärter proletarischer und halbproletarischer Massen gegen das Joch der Gutsbesitzer und der Kirche, gegen die monarchistische, nationale usw. Unterdrückung-das zu glauben heißt der sozialen Revolution zu entsagen.103

Auch wenn der Imperialismus nur durch den Sturz des Kapitalismus beseitigt werden kann, so wird er doch Bewegungen hervorrufen, die, ungeachtet ihrer bürgerlichen Ziele und Ideologie, in Lenins Worten "objektiv... das Kapital angreifen":

Die Dialektik der Geschichte ist derart, daß die kleinen Nationen, die als selbständiger Faktor im Kampf gegen den Imperialismus machtlos sind, die Rolle eines der Fermente, eines der Bazillen spielen, die dem wahren Gegenspieler des Imperialismus, dem sozialistischen Proletariat, auf den Plan zu treten helfen... Wir wären sehr schlechte Revolutionäre, wenn wir es nicht verstünden, im großen Befreiungskampf des Proletariats für den Sozialismus jede Volksbewegung gegen die einzelnen Bedrängnisse des Imperialismus zur Verschärfung und Ausweitung der Krise auszunutzen.104

Die Erfahrung der vergangenen 25 Jahre hat Lenins Analyse hinreichend bestätigt. Der Vietnam-Krieg - geführt, um ein unabhängiges staatskapitalistisches Regime an die Macht zu bringen - fügte dem amerikanischen Imperialismus eine ernsthafte Niederlage bei und regte das Wachstum authentischer antikapitalistischer Bewegungen in der ganzen westlichen Welt an. Seitdem sind sogar fremdartigere Kräfte als der vietnamesische Stalinismus zum Brennpunkt der Konfrontation mit dem Imperialismus geworden - die fundamentalistischen Mullahs des Iran und des Libanon, und nun sogar, ungeachtet seiner kläglichen Geschichte der Kollaboration mit den USA, das Baath-Regime des Irak. In solchen Zusammenstößen hoffen revolutionäre Sozialisten auf die Niederlage der imperialistischen Macht. Solch eine Position bedeutet in keinesfalls, daß Revolutionäre dem Regime, das gegen den Imperialismus kämpft, politische Unterstützung geben. Trotzki drückte dies in seiner Antwort auf die japanische Invasion Chinas 1937 aus:

    Wenn zwei imperialistische Länder Krieg führen, geht es dabei weder um Demokratie noch um nationale Unabhängigkeit, sondern um die Unterdrückung rückständiger, nichtimperialistischer Völker. In einem solchen Krieg stehen beide Länder auf der gleichen historischen Stufe. Daher sind die Revolutionäre in beiden Armeen Defätisten. Aber Japan und China stehen nicht auf der gleichen historischen Stufe. Der Sieg Japans würde die Versklavung Chinas, den Stillstand seiner wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung und ein furchtbares Erstarken des japanischen Imperialismus bedeuten. Dagegen würde der Sieg Chinas für Japan die soziale Revolution bedeuten und für China die freie, durch keine äußere Unterdrückung gehemmte Entfaltung a des Klassenkampfs.
    Kann denn Tschiang Kaischek den Sieg herbeiführen? Ich glaube nicht daran. Aber er hat mit dem Krieg begonnen und hat derzeit die Führung inne. Um ihn ablösen zu können, muß man entscheidenden Einfluß im Proletariat und in der Armee gewinnen, und das kann man eben nicht im luftleeren Raum, sondern dazu muß man mitten im Kampf stehen. Einfluß und Ansehen muß man im militärischen Kampf gegen die Invasion des äußeren Feindes und im politischen Kampf gegen die Schwächen, das Versagen und den Verrat im Innerren erwerben. In einer bestimmten Etappe, die wir nicht im voraus festlegen können, kann und muß diese politische Opposition in den bewaffneten Kampf übergehen, denn wie der Krieg überhaupt, so ist auch der Bürgerkrieg nur die Fortsetzung der Politik... die Avantgarde der Arbeiter soll... beim militärischen Kampf in der vordersten Reihe stehen und gleichzeitig politisch den Sturz der Bourgeoisie vorbereiten.105

Es ist deshalb notwendig, in einer Konfrontation wie dem Zweiten Golfkrieg für die Niederlage der imperialistischen Seite einzutreten, während man den politischen Kampf gegen das bürgerliche Regime, das die anti-imperialistische Seite anführt, fortsetzt. Dieser Standpunkt liegt Trotzkis Theorie der permanenten Revolution zugrunde. In ihrer allgemeinen Form besagt sie, daß keine kapitalistische Klasse konsequent den Imperialismus bekämpfen kann. Selbst die kämpferischste nationalistische Bewegung strebt letztlich ihren eigenen unabhängigen kapitalistischen Staat an. Sie versucht deshalb nicht, das imperialistische Weltsystem zu zerstören, sondern einen größeren Platz in diesem System zu gewinnen. Wenn sie gezwungen ist, gegen den Imperialismus zu kämpfen, um dieses Ziel zu erreichen, kann der daraus resultierende Kampf das ganze System schwächen. Aber die nationalistische Bewegung kann eventuell auch zu einer Übereinstimmung mit dem Imperialismus kommen, wie "Sinn Fein" am Ende des irischen Unabhängigkeitskrieges, die vietnamesische Kommunistische Partei nach beiden Indochina-Kriegen, die islamische Republik des Iran nach ihrer Niederlage im Ersten Golfkrieg. Das Ziel revolutionärer Sozialisten ist es deshalb in erster Linie, wie Lenin sagte, die Krise zu "benutzen", die durch den Zusammenstoß zwischen dem Imperialismus und seinen nationalistischen Opponenten geschaffen wurde, um "der wirklich anti-imperialistischen Kraft, dem sozialistischen Proletariat zu helfen, auf den Plan zu treten." Denn, um mit dem Imperialismus abzurechnen, muß die Arbeiterklasse nicht nur die herrschenden Klassen der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder, sondern auch die bürgerlichen Regimes, die zeitweilig die westliche Vorherrschaft bedrohen mögen, stürzen.

Der klassische Marxismus enthält also, in den Schriften Lenins und Trotzkis, eine Analyse des Imperialismus und eine Strategie des Kampfes gegen ihn, die ihre Gültigkeit behalten. Die Signale, die das Schlachten am Golf sendet, weisen darauf hin, daß wir sie in den kommenden Jahren gut gebrauchen können.



Anmerkungen


  1 zuerst Erschienen in: International Socialism, Nr. 50, März 1991 [zuerst in deutscher Sprache erschienen in: Internationaler Sozialismus, Nr.1, Frühjahr 1991, Hrsg: Sozialistische Arbeitergruppe]
  2 T Congdon, How the City is Making Economic Nationalism Obsolete, in: Spectator, Nr. 13, Feb. 1988,8.21,25
  3 K Kautsky, Imperialismus, in: J Riddell (Hrsg.), Lenin's Struggle for a Revolutionary International. Documents 1907-1916 - The Preparatory Years, New York 1984, S.180 [Siehe: K Kautsky, Der Imperialismus in: Die Neue Zeit, Jahrgang 32, Bd. 2, S.919-22 -hier Rückübersetzung aus dem Englischen]
  4ebda. S.181
  5 A J Mayer, Why Did the Heavens NotDarken?, New York 1990, S.31
  6 B Warren, Imperialism - Power of Capitalism, London 1980, S.31
  7 Lenin, Werke, Berlin 1981, Bd.22, S.270-271
  8 Siehe z.B. M Kidron, Capitalism and Theory, London 1974, Kap.6, M Barratt Brown. The Economics of Imperialism, Harmondsworth 1974, Kap.8 und Warren, Imperialism, S.57-70
  9 Lenin a.a.O. S.304
10 N Bucharin, Imperialismus und Weltwirtschaft, Frankfurt 1969, S.132-133
 11 ebda. S.25
 12 ebda. S,140
 13 Siehe meine Diskussion über Lenin und Bucharin in Imperialism, Capitalism and the State Today, in International Sodalism Nr. 35, 1987, S.79-88
 14 Das Konzept der ungleichen und kombinierten Entwicklung ist natürlich ein von Trotzkis zentralen Beiträgen zum Marxismus. Ohne es kann man weder das hierarchische Wesen des Imperialismus (die Vorherrschaft der fortgeschrittenen Länder) noch seine Instabilität (die ungleiche Aufteilung der Ressourcen ist eine Ursache für ständige interimperialisitsche Konflikte zur Neuaufteilung der Welt) verstehen.
 15 J Schumpeter, Zur Soziologie des Imperialismus, Tübingen 1919, S.48-49,73,75
 16 A J Mayer, The Persistence of the Old Regime, New York 1981, S.4,305,314,315
 17 ebda., Why did the Heavens not Darben?, S.3
 18 ebda. S.456
 19 J Schumpeter, Soziologie des Imperialismus, S.53
 20 ebda., S.65-72
 21 Beispiele jüngeren Datums für diese Argumentationslinie finden sich bei P Andersen, The Figures of Descent, in: New Left Review Nr.161 1978 und bei T Nairn, The Enchanted Glass, London 1990. Beide Autoren beziehen sich auf Mayer, Anderson las sogar den Entwurf von The Persistence of the Old Regime (siehe ebda. S.X)
 22 Siehe z.B. E P Thompson, The Peculiarities of the English, in: The Poverty of Theory and Other Essays, London 1978, A Callinicos, Exception or Symptom?, in: New Left Review Nr.169, 1988, C Barker und D Nicholls (Hrsg.), The Development of British Sodety, Manchester 1988, und zu Deutschland: D Blackbum und G Eley, The Peculiarities of German History, Oxford 1984
 23 Für Schilderungen, die die Auswirkungen des industriellen Kapitalismus in den Vordergrund stellen, siehe J Romein, The Watershed of the Two Eras, Middletown 1978, N Stone, Europe Transformed 1878-1919, London 1983, und E J Hobsbawm, The Age of Empire 1875-1914, London 1987. Ich setze mich ausführlicher mit Mayer in meinem Buch Against Postmodernism, Cambridge 1989, S.39-44 auseinander.
 24 J Schumpeter, Imperialismus, S.15 u. allg. 5-19
 25 Siehe insbesondere J Brewer, The Sinews of Power, London 1989
 26 Siehe Tabellen 4 und 16 in Barratt Brown, Economics, S.110 u. 187
 27 J Schumpeter, Imperialismus, S.11
 28 Siehe J A Hobson, The South African War, London 1900, Teil II, und T Pakenham, The Boer War, London 1979, Teil I
 29 J Schumpeter, Imperialismus, S.56
 30 T Naim,EnchantedGlass, S.375-376
 31 J Schumpeter, Imperialismus, S.76
 32 Siehe insb. F Halliday, The Making of the Second World War, London 1983
 33 A Callinicos, Making History, Cambridge 1987, S.157-172
 34 E Hobsbawm, Age of Empire, S.51
 35 W H McNeil, The Pursuit of Power, Oxford 1982, Kap. 7 u. 8
 36 Lenin, a.a.O. S.260
 37 M Bauart Brown, Economics, Kap. 8. Alle Daten über Auslandsinvestitionen wurden diesem Buch entnommen.
 38 E Hobsbawm, Age of Empire, S.73-74
39 Quelle: M Barratt Brown, The Economics of Imperialism, Hamondsworth 1974, Tabel le 17,S.190-191
 40 R P Dutt, India Today, London 1940, Kap.VII
 41 Zitiert in M Barratt Brown, Economics, S.195
 42 A Offer, The First World War: An Agrarian Interpretation, Oxford 1989. Meine eigene Zusammenfassung im Text fiel notwendigerweise sehr dürftig aus, denn dieses Werk ist sehr vielfältig und umfassend.
 43 R Hilferding, Finance Capital, London 1981 S.307
 44 N Bucharin, Selected Writings on the State and the Transition to Socialism, Notlingham 1982, S.16,17 - Übersetzung aus dem Englischen; siehe auch N Bucharin, Imperialismus und Weltwirtschaft, Frankfurt 1969, Kap. 13
  45 M Wolf, ,The Meaning toLook to the Long Term, Financial Times 16.11.1987
  46 E Mandel, The Meaning ofthe Second World War, London 1986, ist der einzige ernsthafte marxistische Versuch einer globalen Erklärung, obwohl sie auch ihre Schwächen hat, insbesondere Mandels typische scholastische Unterscheidung zwischen mehreren verschiedenen Sorten Krieg im Rahmen dieses Konflikts.
  47 Siehe P Kennedy, The Rise and Fall of the Great Powers, London 1989, Kap, 4 u. 5
 48 Siehe insbesondere G Kolko, The Politics of War, New York 1970
 49 L D Trotzki, Europe and America, New York 1971
 50 Siehe J Waterbury, The Egypt of Nasser andSadat, Princeton 1983
 51 Insight on the Middle East, in: Sunday Times, Teil IV
 52 V G Kierman, The European Empires from Conquestto Collapse, 1815-1960, London 1982
 53 Siehe M Kidron, A Permanent Arms Economy, Wiederauflage London 1989, und C Harman, Explaining the Crisis, Kap.3
 54 C Harman, Explaining the Crisis, Kap.3
 55 Dies ist natürlich das Leitmotiv von Kennedys Buch: Siehe insbesondere Rise and Fall S.509-64
 56 M Kidron, Capitalism, S.
 57 Weltbank, World Deveiopment Report 1985, New York 1985, S. 126
 58 Siehe z.B. A G Frank, Capitalism and Underdevelopment in Latin America, Harmondsworth 1971, und S Amin, Unequal Deveiopment, Hassocks 1976, und unter den Kritikern der Theorie des ungleichen Tauschs, M Kidron, Capitalism, Kap.5 und N Harris, Theories of Unequal Exchange, in: lnternationial Socialism, Nr.33,1986
 59 M Kidron, Capitalism, S.134-37
 60 N Harris, India-China: Underdevelopment and Revolution, New-Delhi 1974, S.171
 61 M Kidron, Capitalism, S.162 u. N Harns, India-China, S.173-74
 62 Siehe P Qawson, The Development of Capitalism in Egypt, in: Khamsin, Nr.9 1981 u. ? Waterbury, Egypt
 63 Siehe N Harris, Tlic End of the Third World, London 1986, u. A H Amsden, Tliird World Industrialisation, in: New Left Review, Nr.182 1990
 64 United Nations Department of International Economic and Social Affairs, World Economic Survey 1989, New York, Tabelle IV.4, S.64
 65 ebda.S.25
 66 Financial Times, 15. Nov. 1989
 67 J Petras und M Morley, US Hegemony under Siege, London 1990, S.197,198
 68 ebda.S.201
 69 Siehe insbesondere N Harris, Of Bread and Gans, Harmondsworth 1983, P Green, Nation States and the World Economy, in: International Socialism,Nr. 19 1983 u. C Harman, The Storm Breaks, in: International Socialism, Nr.46 1990
 70 Eine abschließende Analyse des Zusammenbruchs des Stalinismus ist nachzulesen in C Harmans The Storm Breaks, siehe auch A Callinicos, The Revenge of History, Cambridge 1991
 71 Independent on Sunday, 20. Januar 1991
 72 Siehe P Green, Contradictions of the American Boom, in: International Socialism, Nr.26 1985, u. M Davis, Prisoners of the American Dream, London 1986
 73 J Petras und M Morley, US Hegemony, S.78
 74 ebda. Kapitel l und 2 bieten eine aktuelle Diskussion solcher Strategien, allerdings wird hier ein übertriebenes Bild von einer zu einem Haufen Halbstarken und Dieben degenerierten amerikanischen herrschenden Klasse gezeichnet.
 75 Siehe F Halliday, Cold War, Third World, London 1989, Kap.3
 76 Guardian, 29. Juli 1988. Für eine detailliertere Analyse des Kriegs, siehe A Callinicos, An Imperialist Peace?, in; Sodalist Worker Review, Nr.112 September 1988
 77 Siehe z.B. die Artikel von J Rogaly und E Mortimer, Financial Times, 18. Januar 1991
 78 ebda. 28. Januar 1991
 79 Independent, 19. Januar 1991
 80 F Halliday, Arabia without Sultans, Harmondsworth 1974, S.500,502. Halliday distanzierte sich allerdings von extremeren Formen der Dependenztheorie: Siehe ebda. S.498-99
 81 B Warren, Imperialism, S.182; siehe auch ebda. S.150,176
 82 Themes, in: New Left Review, Nr.184 1990, S.2
 83 Sunday Correspondent, 12. August 1990 (Zahlen für 1988)
 84 H Bautu, The Old Social Classes and the Revolutionary Movements of lraq, Princeton 1978, S.25, 86ff, 99ff, 325ff
 85 P Knightley und C Simpson, The Secret Lives of Lawrence of Arabia, London 1971, S. 147
 86 F Halliday, Arabia, Kap.2
 87 H Batatu, Old Social Classes, S.268
 88 Man könnte gute Gründe anführen, um die weißen Dominions (Kanada, Australien, Süd Afrika usw.) in die gleiche halbkoloniale Kategorie zu stecken, obwohl ihre erfolgreiche Kampagne für legislative Unabhängigkeit, die in das Statut von Westminster von 1931 mündete, die wachsende Autonomie dieser sich entwickelnden Kapitalismen von London deutlich macht. Eine nützliche Diskussion über das Konzept der Halbkolonie und eine Kritik seiner Anwendung auf die Neu Industrialisierten Länder durch Mandel ist nachzulesen in: A Dabat und L Lorenzano, Argentina: The Malvinas and the End of Military Rute, London 1984, S.168
 89 Siehe K Allen, Is Southern Ireland a Neo-Colony? Dublin 1990, insbesondere Kap. 2-4
 90 Dabat und Lorenzano, Argentina, S.29,36-37
 91 ebda. S.37-38
 92 ebda.S.186Fußnöte30,S.103-104
 93 Über den letzteren Fall siehe D Glanz, Dinki-Di Domination: Australian Imperialism and the South Pacific, in: Sociaiist Review Nr.2, Melbourne 1990
 94 D M Gordon,TheGlobalEconomy,in;NewLeßReview,Nr.l68 1988, S.64
 95 Siehe F Halliday, Iran; Dictatorship andDevelopment, Harmondsworth 1979, Kap.9; eine nützliche Diskussion über das Konzept des Subimperialismus ist nachzulesen auf S.282-84
 96 D Hiro, The Langest War, London 1990, S.261
 97 Guardian, 12. September 1990
 98 Siehe z.B. S Lash und J Urry, The End ofOrganised Capitalism, Cambridge 1987, und D Harvey, The Condition of Postmodernity, Oxford 1989
 99 Neben den in Fußnote 69 erwähnten Artikeln, siehe auch: A Callinicos, Against Postmo-dernism, S. 137-44
100 Siehe A Callinicos, Revenge, S.78-79
101 J Rees, New Imperialism, S.65-73
102 Lenin, Werke, S.270; sogar Bucharin tendierte dazu, den Imperialismus als eine besondere Politik zu betrachten - siehe z.B. Imperialismus und Wettwirtschaft, Kap.IX
103 Lenin, Werke, S.363
104 Lenin, Werke, S.365, 366
105 L Trotzki, Über den chinesisch-japanischen Krieg, Hamburg 1990, S.866




Sozialismus von unten