Sozialismus von unten Magazin für antikapitalistische Debatte & Kritik Hrsg.: Linksruck Netzwerk Tel: 030 - 63.22.56.30 Fax: 030 - 63.22.56 e-mail: svu@linksruck.de www.sozialismus-von-unten.de |
Trotzki und die Dialektik der Geschichte[1] - John Rees - Sogar seine ausgesprochenen Gegner
räumen ein, daß Trotzki ein großer Revolutionär war. Seine Führung der
russischen Revolution und der Roten Armee waren Handlungen, die in den 50
Jahren seit seinem Tode nicht einmal durch die unheilige Allianz von rechten
und stalinistischen Historikern totgeschwiegen werden konnten. In Akademikerkreisen,
wenn nicht sogar unter Revolutionären, ist Trotzkis Stellenwert als Theoretiker
allerdings weniger gesichert. Der gleichen Allianz von Konservativen und
Rußlandanbetern, die die Tatsachen aus Trotzkis Leben nicht wegradieren
konnten, ist es mehr oder minder gelungen, seinen intellektuellen Beitrag zur
marxistischen Tradition in Abrede zu stellen. Es ist eine etwas ironische
Würdigung von Trotzkis anhaltender politischer Relevanz, daß er noch weniger
Zugang zu den Elfenbeintürmen findet als zum Beispiel Lenin. Trotzki war jedoch einer der
großen originellen Denker der marxistischen Tradition. Seine Theorie der
permanenten Revolution sah den Gang der russischen Revolution 11 Jahre vor
ihrem Ausbruch voraus. Seine Analyse Deutschlands sagte die Gefahren des
Faschismus vorher zu einem Zeitpunkt, als viele auf der Rechten wie auf der
Linken noch blind waren. Seine Schriften über die Kunst und die Literatur
verschafften sich Respekt sogar bei solchen unwahrscheinlichen Personen wie
F.R. Leavis und T.S. Eliot. Trotzkis monumentale Geschichte der Russischen
Revolution bewog den Historiker AL Rowse zu der Feststellung: »Seine Gabe ist so brillant und treffend,
daß man ständig an Carlyle erinnert wird.«[2] Aber sogar unter denen, die das
alles bereitwillig einräumen, hat Trotzki noch nie einen großartigen Ruf als
Pionier der marxistischen Methode genossen. In der Nachkriegszeit wurde die
marxistische Philosophie zum Gegenstand fieberhaften Studiums. Die Philosophie
von Lukács wie auch von Gramsci lieferten den Stoff für endlose Debatten. Sogar
Lenins "Materialismus und Empiriokritizismus" und seine
"Philosophischen Notizen" stießen auf Interesse. Aber Trotzki, davon
ging man einfach aus (auch manche seiner Verehrer), hatte auf diesem Gebiet
wenig beizutragen.[3] Diese Haltung war schon immer
unberechtigt. Der Nachweis für Trotzkis feine dialektische Methode ist
offensichtlich nicht nur in seinen expliziten Stellungnahmen der 20er und
späten 30er Jahre, sondern in seiner Theorie der permanenten Revolution und in
seinen Schriften über die Geschichte und die Kunst. Seit neuestem haben wir nun
zusätzliche Beweise für Trotzkis originellen Beitrag zu der marxistischen
Methode. 1986 wurden zum ersten Mal "Trotsky's Notebooks, 1933-35,
Writings on Lenin, Dialectics and Evolutionism" herausgegeben. Diese
stellen Trotzki nicht nur klar in die "hegel-marxistische" Tradition,
sondern entwickeln diese Tradition in einer Art und Weise fort, sodaß sie
besser ausgerüstet ist, um vielen der gängigen, gegen sie erhobenen Einwänden
zu begegnen. Es wird zum Beispiel seit langem immer wieder behauptet, daß der
Marxismus unfähig ist, an Fragen der Politik und der Ideologie anders
heranzugehen als durch deren Reduzierung auf die Ökonomie. Oder es wird gesagt,
daß der Marxismus, insbesondere der "Hegel-Marxismus", die
Vorstellung vertrete, daß der Gang der Geschichte vorherbestimmt sei und sich
nach unabänderlichen, dialektischen Gesetzen entwickele. Jeglicher Versuch, die
Dialektik sowohl auf die Natur als auch auf die Gesellschaft anzuwenden, wird
als Beweis gewertet, daß die blinden Gesetze der Evolution wahllos auf die
Gesellschaft übertragen werden mit dem unweigerlichen Resultat, daß den
Menschen jegliche bewußte Entscheidung über ihr Schicksal genommen wird. In der
jüngeren Vergangenheit hat die Postmoderne argumentiert, daß jeglicher Versuch,
die Welt als Ganzheit zu betrachten, in der jeder Aspekt der Wirklichkeit zu
den anderen in Beziehung steht - ein Schlüsselkonzept im Marxismus - eine Form
der intellektuellen Tyrannei und Unterdrückung ist, die nur zum Gulag führen
kann. Trotzkis Notizbücher über die Dialektik und andere zusammengehörige
Schriften liefern mehr als nur eine Verteidigung der materialistischen
Betrachtungsweise der Geschichte. Sie liefern eine Erklärung der marxistischen
Methode, die entschieden jeden plumpen Reduktionismus ablehnt und eine
dialektische Methode formuliert, die ausreichend ausgeteilt ist, um all den
verschiedenen politischen, ideologischen und philosophischen Elementen
innerhalb der Ganzheit ihr gebührendes Gewicht einzuräumen - ohne in den
Idealismus zu verfallen. Der Gedanke, daß jede Analyse
durch die verschiedenen Stufen der Wirklichkeit vermittelt werden muß, findet
sich natürlich in Hegels Darstellung der Dialektik. Aber Hegels Idealismus, besonders
in seinen späteren Jahren, nahm diesen Stufen der Analyse jegliche wirkliche
Kraft und verflachte seine Erklärung der Wirklichkeit zu einer sterilen
dialektischen Formel. Eben mit dieser Interpretation der Dialektik hatten der
Stalinismus und der Marxismus der Zweiten Internationale das meiste gemeinsam.
Auch sie brauchten eine fatalistische, geschlossene Form der Dialektik, die den
Status quo rechtfertigte. Auch sie hatten das Bedürfnis, die Flüchtigkeit, die
Einmaligkeit und die Ungleichzeitigkeit in der Welt auszubügeln, die zu
erklären die ursprüngliche Aufgabe der Dialektik war. Trotzki ist ein wahrer
Erbe von Marx' und Engels' materialistischer Umwandlung der hegelschen
Dialektik. Seine materialistische Analyse setzt sich auseinander mit der
lebendigen Geschichte, so wie sie sich in der Zeit und im Raum entfaltet, und
nicht bloß mit zeitlosen Bewußtseinsmustern. Sie mußte deshalb Konzepte
entwickeln, die bei Hegel entweder unterentwickelt oder gar nicht existent
sind. Trotzkis Konzepte der kombinierten und ungleichen Entwicklung, seine
Vorstellung von der "differenzierten Einheit" und seine
Unterscheidung zwischen den Formen der Dialektik in der Natur und der Dialektik
in der Geschichte sind ein wichtiger Beitrag zur Lösung dieser Aufgabe. Die Struktur der Dialektik Die Dialektik »trägt zu unserem Verständnis des Marxismus und zu unserer Fähigkeit,
den Gang der Geschichte zu verändern, nichts bei«, und ihre Gesetze sind »nutzlose Bruchstücke theoretischen Balasts,
die lediglich der Mystifizierung dienen«. Sie sind »die Überbleibsel der deutschen Naturphilosophie«, die bloß »metaphysische Unklarheiten anstelle von
echter wissenschaftlicher Analyse setzen«.[4] Sogar unter Marxisten wird man
immer öfter mit solchen Reaktionen konfrontiert, wenn man die These vertritt,
daß die Dialektik zentraler Bestandteil der klassischen marxistischen Tradition
ist. Zu dieser Tradition rechne ich das Werk von Marx und Engels, Lenin,
Luxemburg, Gramsci, des jungen Lukács und Trotzki, die alle an der Dialektik
festhielten. Unter ihnen war es Trotzki, dem die Aufgabe zufiel, am direktesten
sich mit solchen Einwänden gegen die Dialektik auseinanderzusetzen, wie wir sie
oben aufführten. Kurz vor seinem Tod vor 50 Jahren
diesen Sommer beteiligte sich Trotzki an einer Auseinandersetzung innerhalb der
amerikanischen "Socialist Workers Party".[5] Der Inhalt dieser
Auseinandersetzung - der Klassencharakter Rußlands - wird an anderer Stelle in
dieser Zeitschrift erläutert und betrifft unser Thema nicht unmittelbar.[6] Trotzkis wichtigster Gegner,
James Burnham - wie viele in der amerikanischen SWP zu jener Zeit - stammte aus
der Intelligenz. In der Mitte der 30er Jahre hatten sich viele Intellektuelle
von der Amerikanischen Kommunistischen Partei angezogen gefüllt. Sie waren über
die tiefe Wirtschaftskrise und den Aufstieg des Faschismus entsetzt und
ergriffen vom Widerstand der Republikaner im spanischen Bürgerkrieg. Eine
Minderheit unter ihnen war allerdings auch verwundert über die Taktik der
Volksfront, die das Willkommenheißen von Roosevelts' New Deal beinhaltete, und
angeekelt durch die Moskauer Prozesse. Edmund Wilson, Sidney Hook, James T.
Farrell und viele andere fühlten sich vorübergehend von dem »dramatischen Pathos der Kämpfe Trotzkis,
seiner Beredsamkeit und literarischen Genialität angesprochen. Der Trotzkismus
wurde so etwas wie eine Modeströmung«.[7] Trotzki war immer sehr argwöhnisch
angesichts dieser oberflächlichen Popularität, und seine Auseinandersetzungen
mit seinen intellektuellen Gefährten wurden mit dem Herannahen des Zweiten
Weltkriegs immer heftiger. Isaac Deutscher hat etwas von der Atmosphäre
eingefangen: »...und niemals hatte eine
Sache so hoffnungslos ausgesehen, wie jetzt die Sache Trotzkis den Professoren,
Schriftstellern und Literaturkritikern vorkam, die ihn im Stiche zu lassen
begannen. Sie meinten, daß sie sich, indem sie für den Trotzkismus Partei
ergriffen, unnötigerweise auf das gewaltige, ferne, dunkle und gefährliche
Unternehmen der russischen Revolution eingelassen hatten, und daß diese Beteiligung
sie in Konflikt mit der Lebensweise und dem Ideenklima brachte, die in ihren
Universitäten, Redaktionsstuben und literarischen Sippschaften herrschten. Es
war eines, seinen Namen für ein Komitee zur Verteidigung Trotzkis und den
Protest gegen die Säuberungen herzugeben, aber es war ein ganz anderes, die
Manifeste der Vierten Internationale zu unterschreiben und in Trotzkis Ruf zur
Umwandlung des bevorstehenden Weltkriegs in einen Bürgerkrieg auf der ganzen
Welt einzustimmen.«[8] Unter solchen Bedingungen, als
eine ganze Schicht von Intellektuellen ihre Verbindung mit dem Marxismus
kappte, überrascht es nicht, wenn die Dialektik, die marxistische Methode,
unter Beschuß geriet. In der Tat hatte eine frühere
Episode dieser Saga bereits die Frage nach dem hegelschen Einfluß auf den
Marxismus aufgeworfen. Einige linke Intellektuelle hatten Trotzki wegen seiner
Rolle bei der Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes auf die Probe gestellt
und behaupteten, daß sie die zynische Verderbtheit der bolschewistischen
Doktrin beweise, wonach der Zweck die Mittel rechtfertige. Der amerikanische
Philosoph John Dewey gehörte zu denen, die dieses angebliche Versagen auf die
"hegelschen Ursprünge" des Marxismus zurückführte. Trotzkis Antwort,
"Ihre Moral und unsere", war ein Meisterwerk der Polemik. Mit großem
dialektischem Schwung wies sie nach, daß nur bestimmte Mittel zu
sozialistischen Zielen führen könnten. Lügen, Täuschung und Unehrlichkeit
könnten niemals »revolutionären Arbeitern
zur Solidarität und Einigkeit verhelfen«, und daher seien die Bolschewiki »die ehrlichste politische Partei in der
ganzen Geschichte gewesen«.[9] In den darauffolgenden Monaten,
als sich die Debatte vom historischen Thema Kronstadt zum gegenwärtigen Thema
Rußland verlagerte, rückte die Frage nach der Dialektik mehr in den
Mittelpunkt. Burnham griff die Dialektik immer wieder an, wobei er Formulierungen
gebrauchte, die beinahe identisch waren mit denen, die heute noch im Umlauf
sind. Er fand Engels' Schriften über die Dialektik »konfus oder durch spätere wissenschaftliche Untersuchungen überholt«.
Burnham sah in Hegel den »jahrhunderttoten
Hauptverwirrer des menschlichen Geistes« und bestand darauf, daß »die hegelsche Dialektik
absolut nichts zu tun hat mit Wissenschaft. Wie die Wissenschaften die Formen
des Denkens beeinflußt haben, wird niemand, auch nicht durch ein lebenslanges
Studium der verschlungenen Syntax des reaktionären Absolutisten Hegels erfahren.«[10] Burnham bevorzugte die moderne
Wissenschaft und den Empirizismus, die »das
Monopol von keinem Menschen oder Gruppe oder Klasse sind, sondern ein
gemeinsames menschliches Besitztum.«[11] Und außerdem »ist die Dialektik in
keinster Weise (auch wenn sie nicht, was ja der Fall ist, wissenschaftlich
sinnlos wäre) von grundsätzlicher Bedeutung für die Politik, ganz und gar
nicht. Eine Meinung über die Dialektik ist nicht bedeutender für die Politik
als eine Meinung über die nichteuklidische Geometrie oder die
Relativitätstheorie.«[12] Daher mache es keinen Unterschied,
wenn »jeder Revolutionär an die
Dialektik glauben würde und jeder, der gegen die Revolution ist, nicht glaubte, [denn] dieser Umstand ...
wäre vollkommen unerheblich bezüglich der Frage der Wahrheit, Unwahrheit oder
wissenschaftlichen Sinnlosigkeit der Dialektik.«[13] Trotzkis Antwort auf diese
Argumente enthält eine hervorragende Erklärung, warum die Dialektik ein
unverzichtbarer Bestandteil des Marxismus ist. Trotzki skizziert zuerst die
Hintergründe für die weitverbreitete Ablehnung: »Die amerikanischen
"radikalen" Intellektuellen akzeptieren den Marxismus ohne die
Dialektik (eine Uhr ohne Feder) ... Das Geheimnis ist einfach. In keinem
anderen Land hat es eine solche allgemeine Ablehnung des Klassenkampfes gegeben
als in dem Land der "unbegrenzten Möglichkeiten" Die Leugnung
sozialer Widersprüche als der bewegenden Entwicklungskraft führte zur Leugnung
der Dialektik als Mechanismus des Widerspruchs auf dem Gebiet des theoretischen
Denkens. Genauso wie man in der Sphäre der Politik glaubte, jeder könne von der
Richtigkeit eines "gerechten" Programms mittels kluger Syllogismen
überzeugt und die Gesellschaft durch "rationale" Maßnahmen
wiederaufgebaut werden, so ging man auch in der Sphäre der Theorie von der
Annahme aus, daß die aristotelische Logik, reduziert auf das Niveau des
"allgemeinen Menschenverstandes", ausreichend sei für die Lösung
aller Probleme. Der Pragmatismus, eine Mischung aus Rationalismus und
Empirizismus, wurde zur nationalen Philosophie der Vereinigten Staaten.«[14] Dieser historische Umstand wirkte
sich unter der Intelligenz besonders verheerend aus, denn, so argumentierte
Trotzki, »die theoretischen Vorurteile
des akademisch geschulten Kleinbürgertums haben auf der Schulbank noch den
letzten Schliff erhalten«. Akademiker gehen davon aus, daß, weil sie sich »eine große Menge an Wissen nützlicher wie
auch nutzloser Art auch ohne die Hilfe der Dialektik aneignen konnten, sie auch
das ganze Leben ohne sie hervorragend bestreiten können«. Der Prüfstand der
großen Ereignisse zeigt aber immer, daß »sie
in Wirklichkeit ohne die Dialektik nur in dem Maße auskommen, wie sie darauf
verzichten, ihr geistiges Werkzeug zu überprüfen, zu schärfen und theoretisch
aufzupolieren«.[15] Denen, die argumentieren, daß
Fragen der Methode ohne Bedeutung sind bei der Erlangung richtiger politischer
Schlußfolgerungen, antwortet Trotzki: »Was hat denn dieser
durchaus erstaunliche Gedankengang zu bedeuten? Insofern als manche Leute
mittels einer schlechten Methode manchmal zu richtigen Schlußfolgerungen
gelangen, und insofern als manche Leute mittels einer richtigen Methode nicht
selten zu unrichtigen Schlußfolgerungen gelangen, deshalb ... ist die Methode
nicht von großer Bedeutung ... Stellt euch vor, wie ein Arbeiter reagieren
würde, der sich beim Vorarbeiter über die Qualität seiner Werkzeuge beschwert
und die Antwort erhält: Mit schlechten Werkzeugen ist es möglich, ein gutes
Ergebnis zu erzielen, und mit guten Werkzeugen verschwenden viele Leute nur
Material. Ich fürchte, daß ein solcher Arbeiter, besonders wenn er auf Akkord
ist, dem Vorarbeiter mit einem ganz und gar unakademischen Ausdruck antworten
würde.«[16] Trotzki fährt dann mit dem Wesen
der Dialektik fort. Er zählt einige elementare Punkte auf, die einer
Wiederholung wert sind, da sie nicht allgemein verstanden werden, sogar unter
Marxisten nicht. Erstens besteht Trotzki darauf,
daß die Dialektik keine Alternative zu den "normalen"
wissenschaftlichen Methoden oder der formalen Logik bildet. Letztere Methoden
sind durchaus gültig innerhalb bestimmter Grenzen, genauso wie die Physik Newtons
für viele Zwecke geeignet ist. Die formale Logik, genauso wie die Newtonsche
Physik, hat sich allerdings als unzureichend erwiesen, wenn es darum geht, »kompliziertere und langwierigere Prozesse«
zu behandeln. Die Dialektik steht also im gleichen Verhältnis zur formalen
Logik wie die Relativitätstheorie zur Newtonschen Physik oder, wie Trotzki es
formulierte, »die höhere zu der niederen
Mathematik«.[17] Zweitens warnt Trotzki davor, in
der Dialektik ein »magisches Passepartout
für alle Fragen« zu sehen. Die Dialektik ist nicht ein Taschenrechner oder
eine mathematische Formel, in die man das Problem lochgestanzt hineinschieben
kann und aus der eine berechnete Lösung herauskommt. Das wäre eine
idealistische Methode, die Hegel näher stünde als Marx. Eine materialistische
Dialektik muß herauswachsen aus einer geduldigen, empirischen Untersuchung der
Tatsachen und ihnen nicht überstülpt werden. Obwohl Trotzki die Dialektik
gelegentlich als eine Methode der Analyse bezeichnet, deutet er hier auf eine
tiefer liegende Wahrheit hin. Eine dialektische Methode ist nur möglich, weil
die Wirklichkeit selbst dialektisch strukturiert ist. Es ist aus dieser
materiellen Dialektik, daß die dialektische Methode entstehen muß, und anhand
dieser materiellen Dialektik muß sie sich auch ständig messen. Die Dialektik
für Trotzki »ersetzt nicht die konkrete
wissenschaftliche Analyse. Aber sie leitet diese Analyse in die richtigen
Bahnen.«[18] Trotzki hatte diesen Standpunkt
bereits in seinem 1926 geschriebenen Essay Kultur und Sozialismus erläutert: »Die Dialektik kann nicht
den Tatsachen überstülpt werden; sie muß aus den Tatsachen und ihren
Eigenschaften und ihrer Entwicklung hergeleitet werden. Nur durch das mühselige
Durchforsten umfangreicher Materialien konnte Marx das dialektische System der Ökonomie
fortentwickeln bis hin zur Vorstellung des Wertes als gesellschaftliche Arbeit.
Marx' historische Arbeiten waren in dergleichen Weise aufgebaut und sogar auch
seine Zeitungsartikel. Der dialektische Materialismus kann auf neue Sphären des
Wissens nur durch ihre Beherrschung von innen angewendet werden. Die Säuberung
der bürgerlichen Wissenschaft setzt die Beherrschung der bürgerlichen
Wissenschaft voraus. Man wird nichts erreichen mit pauschaler Kritik oder
kühnen Befehlen. Lernen und Fleiß gehen hier Hand in Hand mit einer kritischen
Aufarbeitung.«[19] Trotzki sah, daß es die
Unzulänglichkeiten und Widersprüche der formalen Logik waren, die den
Theoretikern dialektische Lösungsansätze aufdrängten. Oftmals sogar denjenigen,
die so stolz auf ihre "deduktive Methode" sind, nach der man sich »von einer Anzahl Prämissen zu der
notwendigen Schlußfolgerung« vorarbeitet, »unterbrechen die Kette der Syllogismen und gelangen, unter dem Einfluß
von rein empirischen Erwägungen, zu Schlußfolgerungen, die mit der vorgehenden
logischen Kette in keinem Zusammenhang stehen«. Solche ad hoc empirische
Korrekturen an den Schlußfolgerungen der formalen Logik verraten eine »primitive Form des dialektischen Denkens«.
Der einzige Ausweg, um dieses "primitive" Zusammenschmeißen von
abstrakter Logik und Empirizismus zu vermeiden, ist, diese beiden Elemente »vollkommener, besser, in größerem Maßstab
und systematischer ... durch das dialektische Denken« zu kombinieren.[20] Die formale Logik wird im
Angesicht von Tatsachen oftmals gezwungen, deswegen ihre eigene Vorgehensweise
aufzugeben, weil sie eine lebendige, sich entwickelnde Wirklichkeit mit
statischen Konzepten zu analysieren versucht. Formal werden Dinge statisch, nach
bestimmten, fixen Eigenschaften definiert - Farbe, Gewicht, Größe und so
weiter. Dies findet seinen Ausdruck in der Gleichung A ist gleich A. Trotzki,
Hegels Formulierungen folgend, »skizziert
auf sehr prägnante Weise« die Unzulänglichkeiten dieser Sichtweise der
Welt: »In der Wirklichkeit ist
"A" nicht gleich "A". Das ist einfach zu beweisen, wenn man
beide Buchstaben unter einer Lupe untersucht - sie sind ganz unterschiedlich.
Man könnte aber einwenden, nicht die Größe oder die Form der Buchstaben sei
gemeint, da sie ja nur Symbole für gleiche Mengen sind, sagen wir mal ein Pfund
Zucker. Dieser Einwand liegt daneben; in Wirklichkeit ist ein Pfund Zucker
niemals gleich einem Pfund Zucker - eine feinere Waage zeigt immer eine
Differenz auf. Wieder könnte man einwenden: Aber ein Pfund Zucker ist sich
selbst gleich. Auch das ist nicht wahr - alle Körper verwandeln sich
ununterbrochen in Größe, Gewicht, Farbe usw. Sie sind niemals gleich sich
selbst.«[21] Es ist nicht einmal der Fall,
fährt Trotzki fort, daß ein Pfund Zucker sich selbst »zu einem bestimmten Zeitpunkt« gleicht. Sogar innerhalb einer
unendlich kleinen Zeitspanne ist der Zucker mikroskopischen Veränderungen
ausgesetzt - »das Sein selbst ist ein
ununterbrochener Prozeß der Verwandlung«. An dieser Stelle ist ein
warnender Hinweis angebracht. Gegen diese Art von Beispiel wird manchmal der
Einwand erhoben, damit werde versucht, die stattfindenden Veränderungen im
Pfund Zucker zu erklären. Das ist offensichtlich nicht der Fall. Eine solche
Erklärung müßte, ausgehend von den festgestellten Eigenschaften des Zuckers und
der umgebenden Luft usw., auch die Gesetze, die die Veränderungen dieser
Eigenschaften steuern, und schließlich auch ihre Wechselwirkungen untereinander
umfassen. Das Beispiel zeigt lediglich, daß, weil der Zucker einer ständigen
Umwandlung unterzogen ist, keine statische formale Definition taugen wird, um
die Frage auch nur zu formulieren, geschweige denn sie zu beantworten. Und da
wir die Frage dialektisch formulieren müssen, können wir berechtigterweise die
Hypothese aufstellen, daß die Antwort ebenfalls eine dialektische sein wird. Die Doktrin "A" gleich
"A" ist befriedigend nur unter Bedingungen, unter denen das Ausmaß
der Veränderungen nicht wesentlich ist für die Verständigung - wenn man z.B.
ein Pfund Zucker kaufen will. Aber für komplexere Aufgaben in der Politik, der
Geschichte und ganz allgemein in der Wissenschaft wird das nicht ausreichen.
Der gesunde Menschenverstand und die formale Logik sind sich einig über
statische Definitionen des "Kapitalismus", der "Freiheit"
oder des "Staates". In den modernen Gesellschaftswissenschaften sind
solche Klassifizierungs- und Definitionsversuche - »reglose Abdrucke einer Wirklichkeit, die aus endloser Bewegung
besteht« - vielerorts eine Dauerbeschäftigung. Aber »das dialektische Denken analysiert alle Phänomene in ihrer dauernden
Veränderung und stellt dabei in den materiellen Bedingungen dieser
Veränderungen jene kritische Grenze fest, über die hinaus "A aufhört A zu
sein" fest«. Diese Methode verleiht der Theorie eine »Saftigkeit«, die »sie näher an die lebendigen Phänomene bringt. Nicht der Kapitalismus
im allgemeinen, sondern ein bestimmter Kapitalismus in einem bestimmten Stadium
der Entwicklung.«[22] Obwohl Trotzki erkannte, daß
Hegels Dialektik bloß eine »Vorwegnahme«
des wissenschaftlichen Denkens war, schloß er diese Passage mit der
Feststellung: »In seiner Logik legte
Hegel eine Reihe von Gesetzen fest: die Umwandlung von Quantität in Qualität,
die Entwicklung durch Widersprüche, den Konflikt zwischen Inhalt und Form, die
Unterbrechung der Kontinuität, der Wandel von Möglichkeit in Unvermeidlichkeit,
usw., die genauso wichtig für das theoretische Denken sind wie der einfache
Syllogismus für einfachere Aufgaben.«[23] Wie wir bereits gesehen haben,
stieß dieser kurze Umriß der Dialektik - wie Engels eigene Darstellung auch -
auf eine Barriere der Kritik. Sie sei nichts anderes als ein allumfassender
Determinismus, der die unvermeidliche Entfaltung der Geschichte nach den
Scheingesetzen der Dialektik voraussage. Die Idee, daß die Dialektik auf die
natürliche Welt auch Anwendung findet, und nicht nur auf die Gesellschaft - was
Trotzki klar vertritt -, wurde als Beleg für seinen Determinismus angeführt.
Die Natur entwickelt sich blind und unbewußt, so die Argumentationslinie, und
daher müsse jede Dialektik, die sowohl auf die natürliche als auch auf die
gesellschaftliche Welt Anwendung findet, im Endergebnis der bewußten
menschlichen Aktivität jegliche Rolle bei der sozialen Veränderung absprechen.
Sogar Lukács teilte die Meinung, daß die Dialektik nicht auf die natürliche
Welt angewendet werden könne, ohne das Risiko einzugehen, den Marxismus in
Determinismus zu verwandeln. Für andere wiederum war Hegel selbst ein
Determinist, was als weiterer Beweis herhalten sollte, daß die Dialektik bloß
unwissenschaftlicher Fatalismus sei. In den letzten 30 Jahren waren solche
Beschuldigungen gleichermaßen gangbare Münze von Idealisten wie von
Empirizisten, von Strukturalisten, Althusseranern, Postmodernisten und
analytischen Marxisten. Trotzki befaßte sich mit solchen
Kritiken nicht zum Zeitpunkt der Debatte in der amerikanischen SWP. Er war am
meisten mit der inhaltlichen Frage des Klassencharakters Rußlands beschäftigt
und berührte die Dialektik nur am Rande. Einige Jahre zuvor, zwischen 1933 und
1935, hatte er bei der Arbeit an seiner Leninbiographie Hegel studiert. Bei den
Vorarbeiten zu seiner Studie über Lenins Philosophische Notizbücher studierte
Trotzki Aristoteles, Descartes und besonders Hegel. Die Notizbücher und die
Einzelnotizen, die er bis zum Zeitpunkt der Debatte in der SWP weiterführte,
enthalten einige der prägnantesten Abhandlungen der Dialektik seit Marx'
Zeiten, wenn auch in fragmentarischer Form. Sie bilden eine bemerkenswerte
Einheit mit seinen früheren Kommentaren über die Dialektik in den 20er Jahren
sowie mit seiner polemischen Verteidigung der Dialektik in der Debatte mit
Burnham. Viele seiner Formulierungen haben einen direkten Bezug zu den
Einwänden, die heute gegen die Dialektik erhoben werden. Da diese Notizbücher
erst in den letzten paar Jahren zugänglich gemacht wurden, will ich auf sie
etwas detaillierter eingehen. Trotzki beginnt mit einigen wichtigen Bemerkungen
über den Unterschied zwischen der Hegelschen und der Marxschen Dialektik. Hegel
bestand auf der Identität zwischen dem menschlichen Bewußtsein von der Welt und
der realen Struktur der Welt selbst, auf der Identität von Wissen und Sein.
Hegel glaubte, daß die Geschichte der Welt ein Spiegelbild des sich
entfaltenden menschlichen Bewußtseins sei. Das ist die Wurzel des Idealismus.
Marx weigerte sich, die Dialektik in dieser Form zu akzeptieren, obwohl er sehr
wohl verstand, daß Hegel damit dem Kantschen Dualismus einen wichtigen Schlag
versetzt hatte mit seiner These, daß das Denken und die Wirklichkeit Teile
eines Ganzen seien und nicht in zwei getrennte Sphären aufgeteilt werden
können. Wie sollte also eine materialistische Theorie diese Beziehung
interpretieren? Lenin bemerkte, in einer wichtigen Randglosse in seinen
Philosophischen Notizbüchern, daß Marxisten der Formulierung »Einheit von Wissen und Sein« vor der
Formulierung »Identität von Wissen und
Sein« den Vorzug geben sollten. Trotzki führt diese Einsicht weiter aus: »Nach Hegel sind Sein und Denken identisch (absoluter Idealismus). Der Materialismus geht
nicht von dieser Identität aus - er
setzt das Sein dem Denken voraus... Die Identität von Sein und
Denken nach H[egel] bedeutet die Identität von objektiver und subjektiver Logik, ihre
letztliche Kongruenz. Der Materialismus akzeptiert die Übereinstimmung des Subjektiven
mit dem Objektiven, ihre Einheit, aber nicht ihre Identität, in anderen Worten
befreit er nicht die Materie von ihrem Stofflichem, um bloß das logische Gerüst
von Regelmäßigkeit zu behalten, der im wissenschaftlichen Denken (dem
Bewußtsein) zum Ausdruck kommt.«[24] Hegels Logik ist natürlich ein
massives Beispiel für ein »logisches
Gerüst«, errichtet durch die Befreiung der Materie von der Stofflichkeit.
Diese Konstruktion kann allerdings vom Zusammenbruch nur gewahrt werden, indem
sowohl den Tatsachen enorme Gewalt angetan wird, damit sie in die Konstruktion
passen, und indem auch das logische Gerüst solange gehämmert wird, bis es zu
den Tatsachen paßt. Trotzki tritt dafür ein, daß eine materialistische
Dialektik gleichzeitig aufzeigen muß, daß eine dialektische Logik nur aus einer
dialektischen Wirklichkeit entstehen kann und daß die Beziehung zwischen Denken
und Wirklichkeit nicht so starr und eingezwängt sein kann wie in Hegels
Idealismus. Für Marxisten kann die Dialektik in der Geschichte - der Widerspruch
zwischen den Produktionskräften und den Produktionsverhältnissen, der
Zusammenprall im Klassenkampf keine identische Struktur mit dem intellektuellen
Prozeß haben, über den wir die Geschichte zu verstehen lernen. Die dialektische
Methode beinhaltet eine analytische Auftrennung des chaotischen
gesellschaftlichen Ganzen in seine verschiedenen ökonomischen Bestandteile,
Klassen, Einrichtungen, Persönlichkeiten und so weiter. Sie beinhaltet dann die
Aufgabe aufzuzeigen, wie diese Faktoren zusammenwirken und sich gegenseitig
widersprechen als Teil eines Ganzen. Ein solcher intellektueller Vorgang
liefert uns ein fertiges Bild von der Dialektik in der Geschichte, ist aber
selbst nicht identisch mit jener Dialektik. Trotzki fährt dann fort, einige der
Konsequenzen, die sich aus dieser Unterscheidung ergeben, zu benennen: »Was drückt die Logik aus?
Das Gesetz der äußeren Welt oder das Gesetz des Bewußtseins? Die Frage wird
dualistisch gestellt, [und] daher falsch, [denn] die
Gesetze der Logik drücken die Gesetze (Regeln, Methoden) des Bewußtseins in
seiner aktiven Beziehung zu der äußeren Welt aus. Die Beziehung des Bewußtseins
zur äußeren Welt ist die Beziehung des Teils (des Spezifischen, des
Spezialisierten) zum Ganzen.[25] Trotzki läßt hier Zusammenspiel
und Widerspruch zwischen dem Denken und der Wirklichkeit in einer Art und Weise
zu, die für Hegel inakzeptabel ist. Jede materialistische Theorie muß eine
Methode entwickeln, die in der Lage ist, mit all den Entgleisungen, Sprüngen,
Inkonsistenzen und Ungleichheiten der Geschichte zu Rande zu kommen. Um dieser
Herausforderung gewachsen zu sein, ist die Unterscheidung zwischen der
Hegelschen Identität und der marxistischen Einheit von Denken und materieller
Wirklichkeit unverzichtbar. Trotzki nennt diese Art von Unterscheidung eine »differenzierte Einheit«. In der Tat, er
benutzt dieses Wort, um den Begriff dialektischen Materialismus selbst zu
definieren.[26] Die differenzierte Einheit ist
ein Konzept, das Trotzki immer wieder verwendet, um eine dialektisch-materialistische
Herangehensweise von einer reduktionistischen, deterministischen zu
unterscheiden. Es ist besonders nützlich, wenn wir die Frage der Dialektik in
der Natur angehen. Trotzki war sich bewußt, daß Naturwissenschaftler vom
Klassencharakter der herrschenden Ideologie weniger betroffen sind als
Gesellschaftswissenschaftler. Er begründete diese Ansicht auf die Tatsache, daß
die Bourgeoisie die Gesellschaftsstruktur nicht mehr zu verwandeln braucht und
daher kein Bedürfnis nach kritischen Gesellschaftswissenschaften mehr hat wie
in den revolutionären Jahren, daß sie aber die natürliche Welt immer noch
verwandeln muß. Der Wettbewerb zwischen verschiedenen Kapitalien, der
Akkumulationstrieb, bedeutet, daß der Kapitalismus seine Fähigkeit zur
Verwandlung der Natur und zur Entwicklung neuer Technologien immer noch
weiterentwickeln muß. Natürlich prägt der Klassencharakter dieses Prozesses
auch die Naturwissenschaften - indem die Forschungsgebiete stark unterteilt und
die Forschung den Bedürfnissen des wirtschaftlichen und militärischen
Wettbewerbs untergeordnet werden. Und je mehr die Wissenschaft versucht,
allgemeingültige Schlüsse zu ziehen und die Zersplitterung und Einzwängung zu
überwinden, desto mehr wird sie mit philosophischen Fragestellungen konfrontiert.
Und je mehr sie sich diesen Fragestellungen stellt, desto wahrscheinlicher wird
sie Opfer der ideologischen Vorurteile der herrschenden Klasse. Damit die Natur also vollkommen
verstanden werden kann, muß sie in ihrer Ganzheit und in ihrer Beziehung zur
Gesellschaft erfaßt werden. Marx und Engels folgend sieht Trotzki in Darwins
Evolutionstheorie einen wichtigen Durchbruch für ein materialistisches
Verständnis der Geschichte, argumentiert aber, daß sie »weniger konkret, mit wenigerem Inhalt, als die dialektische
Konzeption« sei. Das liegt teilweise an Darwins Weigerung, seine Ergebnisse
zu verallgemeinern. Er blieb ein Christ und so kompromittierte er schließlich
die Bedeutung seiner eigenen Theorie. Zum anderen besaß Darwin auch nicht eine
bewußte dialektische Methode, die es ihm ermöglicht hätte, seine Befunde zu
verfeinern und in einem größeren Rahmen zu sehen. Ein solcher Rahmen hätte es
leichter gemacht einzusehen, daß es keine undurchdringliche Barriere zwischen
der »Natur« und der »menschlichen Gesellschaft« gibt. Der
Kampf der Menschen ums Überleben ist, so wie es Marx ausdrückte, eine »immerwährende, von der Natur auferlegte
Bedingung des menschlichen Daseins«. Die Natur mußte dialektisch
gesehen werden, nicht nur in ihrer Beziehung zur Gesellschaft, sondern auch in
ihrer Beziehung zu sich selbst. Trotzki, auch hier Marx folgend, sah, daß die
Menschen Teil der natürlichen Welt sind, und daß jeder Versuch, diese Einheit
auseinanderzureißen, im Dualismus enden würde. »Die Dialektik ist die
Logik der Entwicklung. Sie untersucht die Welt - vollständig und ohne Ausnahmen
- nicht als ein Ergebnis der Schöpfung, eines plötzlichen Anfanges, als
Realisierung eines Planes, sondern als Ergebnis der Bewegung, der Verwandlung. Alles
was existiert wurde so als Resultat einer gesetzesmäßigen Entwicklung. ... die organische Welt
entstand aus der nichtorganischen, das Bewußtsein ist eine Eigenschaft
lebendiger Wesen, die von Organen abhängt, die durch die Evolution entstanden.
In anderen Worten führt die "Seele" der Entwicklung (der Dialektik)
in letzter Instanz zur Materie. Der evolutionäre Standpunkt, wenn er zu seiner
logischen Konsequenz geführt wird, läßt keinen Raum übrig weder für Idealismus
noch für Dualismus oder für irgendeine andere Spezies von Eklektizismus.«[27] In anderen Worten, die einzige
Alternative zu der Betrachtungsweise, wonach sowohl die Geschichte als auch die
Natur eine dialektische Struktur besitzen, ist die, daß die Natur von Gesetzen
beherrscht wird, die vollkommen getrennt sind von denen, die die menschliche
Gesellschaft regieren. Das Resultat ist entweder die Reduzierung der Natur auf
eine nicht erkennbare Sphäre (ein Kantisches Ding-an-sich) oder die Aufgabe der
Evolutionstheorie, weil letztere davon ausgeht, daß die Menschen tatsächlich
aus der Natur herauswuchsen und immer noch Teil der Natur sind. Trotzki hatte bereits einige
ähnliche Bemerkungen in seiner 1925er Rede "Dialektischer Materialismus
und die Wissenschaft". Hier argumentierte er, daß die Wissenschaften in
eine Ganzheit eingebunden waren. Die Psychologie beruht »in letzter Instanz« auf der Physiologie, die ihrerseits auf der
Chemie, der Mechanik und der Physik beruht. Ohne eine solche Herangehensweise »gibt es nicht und kann es keine fertige
Philosophie geben, die alle Phänomene zu einem einzigen System verbindet«.[28] In seinen Notizbüchern über die
Dialektik drückte er sich noch deutlicher aus: »Alle Evolution ist ein
Übergang von der Quantität in Qualität ... Wer auch immer das dialektische
Gesetz vom Übergang der Quantität in die Qualität leugnet, muß die genetische
Einheit von Pflanzen und der Tierwelt, den chemischen Elementen, usw. leugnen.
Er muß, in letzter Instanz, zurückkehren zum biblischen Schöpfungsakt.«[29] Solche Stellungnahmen rufen
unweigerlich den Einwand hervor, daß Trotzki alles auf die Materie reduziert,
daß er die blinden, deterministischen Gesetze der Natur in den Marxismus
importiert und ganz allgemein dem vulgären Materialismus der Zweiten
Internationale den Weg ebnet. Allein schon eine sorgfältige Lektüre von
"Dialektischer Materialismus und die Wissenschaften" sollte solche
Einwände zerstreuen. Zum Beispiel argumentiert Trotzki: »Die menschliche
Gesellschaft hat sich nicht in Übereinstimmung mit einem vorgefertigten Plan
oder System entwickelt, sondern empirisch, im Verlauf eines langen,
komplizierten und widerspruchsvollen Kampfes der menschlichen Spezies ums
Überleben und, später, um eine immer vollständigere Herrschaft über die Natur
selbst. Die Ideologie der menschlichen Gesellschaft nahm Gestalt an als
Spiegelbild und als Instrument in diesem Prozeß verspätet, ziellos,
bruchstücksweise, in der Gestalt sozusagen von bedingten Reflexen, die in
letzter Instanz reduzierbar sind auf Bedürfnisse im Kampf des kollektiven
Menschen gegen die Natur.«[30] Ohne ihre materielle Basis aus dem
Blickfeld zu verlieren, führt Trotzki an, daß die menschliche Ideologie nicht
bloß eine »Reflexion« des
historischen Prozesses, sondern auch »ein
Instrument in diesem Prozeß« ist, und daher nicht vorbestimmt werden kann.
Anderswo in der gleichen Rede greift er auf die Idee der »differenzierten Einheit« in seiner Analyse der Wissenschaften
zurück. Wir haben sein Argument, daß die Psychologie auf der Physiologie, und
letztere auf der Chemie beruhen usw., schon angeführt. Er fährt aber mit der
Feststellung fort, daß »die Chemie kein
Ersatz für die Physiologie« ist. In der Tat, »die Chemie hat ihre eigenen Schlüssel«, die einem gesonderten
Studium unterzogen werden müssen unter Anwendung »einer speziellen Herangehensweise, einer speziellen Forschungstechnik,
spezieller Hypothesen und Methoden«. Trotzki kommt zu dem Schluß, »daß jede Wissenschaft auf den Gesetzen
anderer Wissenschaften nur in der sogenannten letzten Instanz beruht«.[31] Dieses Verständnis schützt Trotzki
davor, die Naturgesetze unverdaut auf die Gesellschaft anzuwenden. Er warnt vor
diesem »fundamentalen Irrtum«, »die Methoden und Errungenschaften der
Chemie oder der Physiologie unter Mißachtung aller wissenschaftlichen Grenzen
auf die menschliche Gesellschaft zu verpflanzen«. Es ist wahr, sagt
Trotzki, daß »die menschliche
Gesellschaft von allen Seiten von chemischen Prozessen umgeben ist«.
Trotzdem, »das öffentliche Leben ist
weder ein chemischer noch ein psychologischer Vorgang, sondern ein
gesellschaftlicher, der von seinen eigenen Gesetzen gestaltet wird«.[32] Aber was ist mit der Dialektik
selbst? Es ist schön und gut zu sagen, daß die Regeln der Naturwissenschaften
nicht automatisch auf die Gesellschaftsanalyse übertragen werden können, aber
was bleibt dann von der Behauptung übrig, daß die Gesetze der Dialektik sowohl
in der natürlichen als auch in der gesellschaftlichen Welt Gültigkeit haben?
Trotzki hat eine erstaunlich originelle Herangehensweise an diese Fragen in
seinen Notizbüchern über die Dialektik entwickelt. Er bleibt bei seiner
Behauptung, daß die Menschen Teil der Natur sind, daß sich das Bewußtsein aus
dem Unbewußten heraus entwickelte. »Unser
menschlicher Geist ist der Natur jüngstes Kind« sagt er. Aber die
Entwicklung des Bewußtseins markiert eine neue historische Phase, die rächt
einfach mit den Werkzeugen analysiert werden kann, die für die objektive Natur
taugten: »Die dialektische
Erkenntnis ist nicht identisch mit der Dialektik der Natur. Das Bewußtsein ist
ein ganz und gar origineller Teil der Natur, besitzt Eigenschaften und
Gesetzmäßigkeiten, die in den übrigen Teilen der Natur überhaupt nicht zu
finden sind. Die subjektive Dialektik muß infolgedessen ein ganz bestimmter
Teil der objektiven Dialektik sein - mit ihren eigenen speziellen Formen und
Gesetzmäßigkeiten.«[33] Trotzki fährt dann mit einer auf
Hegels Versuch, die Dialektik des Bewußtseins auf die Dialektik der Natur zu
übertragen, gezielten Erwiderung fort: »die
Gefahr liegt in der Übertragung - unter dem Mantel des
"Objektivismus" - der Geburtswehen, der ersten Zuckungen des
Bewußtseins auf die objektive Natur«. Seit Hegel haben in Wirklichkeit nur
wenige die Behauptung aufgestellt, daß die Natur die Muster des menschlichen
Bewußtseins reproduziert. Die Hauptgefahr, zumindest innerhalb der
sozialistischen Bewegung, ist das Gegenteil gewesen. Es war ein Wesenszug
sowohl des Stalinismus als auch des Marxismus der Zweiten Internationale, daß
sie die Dialektik auf eine Reihe von positiven Gesetzen zu reduzieren
versuchten, die den Gang der Geschichte rigide bestimmten. Trotzkis
Unterscheidung zwischen einer Form der Dialektik, die auf die Natur anwendbar
ist, und einer, die sich für das Studium der Gesellschaft eignet, hält zum
einen die Einheit der Dialektik aufrecht (und vermeidet somit den Dualismus)
und zum anderen verhindert sie eine deterministische Interpretation des
Marxismus. Trotzki faßt das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis in Worten
zusammen, die stark an Marx' Verwendung des Begriffs »praktisch-kritische Aktivität« erinnern: »Die Dialektik des
Bewußtseins (Erkenntnis) ist daher nicht eine Reflexion der Dialektik der
Natur, sondern ist das Ergebnis des lebendigen Zusammenspiels zwischen dem
Bewußtsein und der Natur und - das kommt noch hinzu - eine Methode der
Erkenntnis, die aus diesem Zusammenspiel hervortritt.«[34] Für Marx bedeutete »praktisch-kritische Aktivität«, oder
Praxis, die einmalige Fähigkeit des Menschen, die materielle Welt, die seine
Existenz bestimmt, bewußt zu verändern - eine Fähigkeit, die im berühmten
Epigramm zusammengefaßt ist: »Die
Menschen machen ihre Geschichte selbst, aber unter Bedingungen, die sie nicht
selbst ausgesucht haben«. Trotzki weist auf die gleiche dialektische
Kombination von subjektiven und objektiven Faktoren im menschlichen Wirken,
wenn er sagt, daß der »Versuch, einen
unversöhnlichen Antagonismus aufzubauen« zwischen dem Determinismus, »der Philosophie der objektiven Kausalität«,
und der Teleologie, der »Philosophie der
subjektiven Zielsetzungen«, »ein
Produkt der philosophischen Ignoranz« sei.[35] Solche Unterscheidungen zwischen
der Dialektik in der Natur und der Dialektik in der Geschichte bringen
unweigerlich eine Umwandlung wichtiger dialektischer Konzepte mit sich. Trotzki
legt zum Beispiel größten Wert auf ein bestimmtes dialektisches Gesetz - das
vom Übergang von der Quantität in Qualität. Diese Betonung hebt sich von der
vieler Darstellungen der Dialektik ab, die die Verneinung der Verneinung
betonen. Eine verstellte Darstellung von der Verneinung der Verneinung kann
benutzt werden, um den Marxismus des Determinismus zu beschuldigen. Grob gesagt
lautet das Argument so: Der Widerspruch zwischen dem Kapitalismus und seiner
Antithese, der Arbeiterklasse, muß unweigerlich in einer Synthese gelöst
werden, also in einer sozialistischen Gesellschaft, aus der Klassen
verschwunden sind. Die Negation wird negiert. Die Marxisten der klassischen
marxistischen Tradition haben lange argumentiert, daß die Lösung solcher
Widersprüche keineswegs automatisch ist, sondern daß sie nur im Kampf ihre
Lösung finden können. Marx und seine Nachfolger haben darauf bestanden, daß nur
der Kampf zwischen den Massen unvermeidlich ist, nicht aber sein Ausgang. Marx
argumentierte im "Kommunistischen Manifest", daß der Ausgang des
Kampfes entweder der Sozialismus oder »der
gemeinsame Niedergang der sich widerstreitenden Klassen« sein könnte,
Luxemburg betonte, daß die Menschheit vor der Wahl stand "Sozialismus oder
Barbarei", während Lenin darauf bestand, daß »die Kapitalisten die Krise immer lösen können, solange die Arbeiter
bereit sind, den Preis dafür zu bezahlen«. Bisher hat sich in diesem
Jahrhundert der Preis als außerordentlich hoch erwiesen: zwei Weltkriege, der
Faschismus, der Stalinismus, Hunger, Massenarbeitslosigkeit und die ständig
drohende nukleare Vernichtung. Trotzkis Interpretation der
Dialektik ist vollends in diesem Geist. Er sagt, daß die Dialektik uns die »Formen der Verwandlungen von einem Regime
zum anderen« liefert, fährt aber dann fort: »... in solch einer
allgemeinen Form ist es nur eine Sache der Möglichkeit ... Also, von der
Möglichkeit des bürgerlichen Sieges über die Feudalklassen bis zum Sieg selbst
gab es verschiedene Zeitintervalle, und der Sieg selbst sah öfter nach einem
halben Sieg aus. Damit die Möglichkeit zu einer Notwendigkeit wird, mußte es zu
einer entsprechenden Stärkung mancher Faktoren und zur Schwächung anderer
kommen, zu einem bestimmten Verhältnis zwischen diesen Erstarkungen und
Schwächungen. In anderen Worten: Es war notwendig, daß mehrere quantitative
Veränderungen den Weg für ein neues Kräftegleichgewicht freimachen.«[36] Trotzki fühlt sich sosehr
verpflichtet, die Dialektik in der Geschichte als Tendenz zu sehen und nicht
als deterministisches Gesetz, daß er die Verneinung der Verneinung, die
"Triade" (die These negiert durch die Antithese, die ihrerseits durch
die Synthese negiert wird), bloß als »den
"Mechanismus" der Verwandlung von Quantität in Qualität«
definiert. Trotzki drückt sein Verständnis
der Dialektik besonders prägnant in seinen Notizbüchern aus, er hatte aber die
Methode schon weitaus länger benutzt. Seine Analyse der Rolle des Individuums
in der Geschichte zeigt, wie brillant er die marxistische Methode beherrschte. Das Individuum in der Geschichte Die Rolle des Individuums in der
Geschichte richtig darzustellen, ist eine ernsthafte Herausforderung für jede
materialistische Geschichtstheorie. Heutzutage, da so vieles von dem, was als
Gesellschaftstheorie gilt - einschließlich der Postmodernisten, der Feministen
und der analytischen Marxisten -, auf den unreduzierbaren Charakter der
individuellen Erfahrung pocht, ist es mehr denn je wichtig, daß Marxisten
dieses Problem korrekt angehen. Trotzki gibt eine wunderbare Interpretation von
der Herausbildung der Individualität in seiner Literatur und Revolution wider: »Die Wahrheit ist, daß,
sogar wenn die Individualität einmalig ist, dies nicht bedeutet, daß sie nicht
analysierbar wäre. Die Individualität ist ein Zusammenschweißen von
Eigenschaften des Stammes, der Nation, der Klasse, von vergänglichen und von
institutionalisierten Elementen, und in der Tat, die Individualität drückt sich
gerade in der Einmaligkeit dieses Zusammenschweißens und der Verhältnisse
dieser psychochemischen Mixtur aus.«[37] In seiner Geschichte der
Russischen Revolution drückte Trotzki einen ähnlichen Gedanken aus: »Die "unterscheidenden" Merkmale
einer Person sind lediglich individuelle Kratzer, hinterlassen durch ein
höheres Entwicklungsgesetz.« Trotzki argumentiert, daß nur
deswegen, weil jeder von uns eine einmalige Verschmelzung von gemeinsamen
Elementen darstellt, wir in der Lage sind, individuelle Kunstwerke zu
verstehen. Das Kunstwerk bündelt Kräfte, die in jedem von uns wirken, es tut es
aber in einer einmaligen Weise, die von jedem Künstler gesondert bestimmt wird: »So kann man sehen, daß
das, was eine Brücke von Seele zu Seele schlägt, nicht das Einmalige ist,
sondern das Gemeinsame. Nur mittels des Gemeinsamen wird das Einmalige bekannt;
das Gemeinsame wird im Menschen durch die hartnäckigsten Bedingungen bestimmt,
die seine "Seele" gestalten, durch die gesellschaftlichen Bedingungen
der Erziehung, des Lebens, der Arbeit und der Verbindungen.«[38] Deshalb ist ein »Klassenmaßstab so nützlich auf allen
Gebieten der Ideologie«. Damit, wie mittlerweile offensichtlich sein
sollte, meinte er nicht, daß jedes Individuum deshalb zu einem einfachen,
stereotypischen Exemplar seiner Klasse reduziert werden könne. Er schrieb: »Es ist keineswegs unser
Anliegen, die Bedeutung des Persönlichen im Mechanismus des historischen
Prozesses zu leugnen, auch nicht die Bedeutung des Zufälligen im Persönlichen.
Wir verlangen nur, daß eine historische Persönlichkeit, mit all ihren
Besonderheiten, nicht als nackte Liste von psychologischen Zügen betrachtet
werden sollte, sondern als jene lebendige Wirklichkeit, die aus bestimmten
gesellschaftlichen Bedingungen hervorgegangen ist und auf sie zurückwirkt.
Genauso wie eine Rose ihren Duft nicht verliert, bloß weil der
Naturwissenschaftler uns auf die Nahrungsmittel im Boden und in der Luft
aufmerksam macht, von denen sie gezerrt hat, genauso wenig wird auch eine
Persönlichkeit durch die Aufdeckung ihrer sozialen Wurzeln ihres Aromas bzw.
ihres faulen Geruchs beraubt.«[39] Es ist natürlich eine Sache, eine
allgemeine Formel zu entwickeln, mit der man das Problem der Individualität
verstehen kann, und eine ganz andere und weitaus schwierigere Aufgabe, mit
ihrer Hilfe die ganz spezifische Rolle von ganz bestimmten Individuen
darstellen zu wollen. Trotzki ist der Autor eines solchen Studiums: Lenins
Rolle in der russischen Revolution. Trotzki untersucht Lenins Rolle im
April 1917, als die Bolschewiki es versäumten, die provisorische Regierung
herauszufordern. Würden sich die Bolschewiki neuorientieren und ohne Lenin den
Kampf um eine zweite, sozialistische Revolution beginnen? Trotzkis Argument
ist, daß sie es wahrscheinlich getan hätten, aber nicht rechtzeitig, da: »der Krieg und die
Revolution der Partei nicht die notwendige Zeit gelassen hätten, um ihre
Mission zu erfüllen. Es ist daher keineswegs ausgeschlossen, daß eine desorientierte
und gespaltene Partei die revolutionäre Gelegenheit auf Jahre verpaßt hätte.«[40] Es war Lenins »persönlicher Einfluß«, der »die
Krise verkürzte«. Hier, sagt Trotzki, »zeigt
sich die Rolle der Persönlichkeit in seiner wahren, gigantischen Gestalt«.
Aber wir sollten keine Probleme damit haben, dies zu akzeptieren, denn »der dialektische Materialismus ... hat
nichts gemein mit Fatalismus«.[41] Trotzkis Darstellung wird in
glühenden Worten von Isaac Deutscher in seinem "Der verstoßene
Prophet" widersprochen. Deutscher reagiert mit der Behauptung, daß diese
Analyse Trotzkis eine seiner »erfolglosesten«
sei. Deutscher beschuldigt Trotzki eines »Subjektivismus«,
der »der marxistischen geistigen
Tradition stark zuwiderläuft«.[42] Gegen Trotzki führt er Plechanows
gefeierten Essay "Die Rolle des Individuums in der Geschichte" auf.
Deutscher umschreibt Plechanows Worte, wonach »der Führer lediglich das Organ einer geschichtlichen Not oder
Notwendigkeit ist und daß sich die Notwendigkeit ihr Werkzeug erschafft, wenn
sie es benötigt. Kein großer Mann ist daher "unersetzlich".« Und
er zitiert Plechanow wohlwollend, der behauptete, im Falle von Robespierres
Tode im Januar 1793: »wäre natürlich sein Platz
von jemand anders eingenommen worden, und obgleich diese andere Person in jeder
Hinsicht unter ihm hätte stehen können, würden die Ereignisse doch den gleichen
Verlauf wie unter Robespierre genommen haben...«[43] Diese Analyse liefert keine
Erklärung für die Schlamperei der »Geschichte«,
die Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht im Jahre 1919 nicht ersetzte.
Unbekümmert um solche Details weicht Deutscher von seinem Kurs nicht ab und
gerät vom Lächerlichen ins Idiotische: »Haben nicht sogar in
unserer Zeit die chinesische und die jugoslawische Revolution triumphiert ...
unter Führern kleineren, gar viel kleineren Kalibers? In allen Fällen hat der
revolutionäre Trend seine Organe gefunden oder geschaffen aus dem menschlichen
Material, das vorhanden war.«[44] Deutscher hat offensichtlich die
Tatsache aus den Augen verloren, daß Mao und Tito keine Vertreter der
Arbeiterklasse waren, keine revolutionären Parteien leiteten und keine
Arbeiterrevolutionen anführten. Es ist daher kaum überraschend, wenn man anhand
dieser Beispiele entdeckt, daß die Rolle der Arbeiterklasse durch einen »revolutionären Trend« gefüllt wurde,
der das, was er brauchte, ohne menschliche Intervention »schuf«. Um nochmals auf Trotzkis Analyse
von Lenins Rolle in der russischen Revolution zurückzukommen: Wir sehen hier,
daß er die Frage der Führung keineswegs aus ihrem historischen Kontext
herausoperierte, wie Deutscher und Plechanow das taten, sondern sie vielmehr
als in diesem Kontext fest verwurzelt betrachtete. Trotzki betonte, daß »Lenin kein Schöpfer des revolutionären
Prozesses war«, daß er »sich bloß in
die Kette der historischen Ereignisse eingliederte«. Lenin »stellte sich der Partei nicht von außen
entgegen, sondern war selbst ihr vollkommenster Ausdruck. Indem er sie
ausbildete, bildete er sich selbst aus.« Lenin konnte die Bolschewiki
anleiten, nicht deswegen, weil er ein einsamer Held war, sondern weil er von
der bolschewistischen Partei geschaffen worden war. Der unaufhörliche Kampf um
den Parteiaufbau, die laufenden Briefe über Jahrzehnte hinweg von Lenin an die
Arbeiter und an die Parteimitglieder und wiederum von ihnen an Lenin, die
Artikel und Reden, die Lenin gehalten hatte und jene, die von anderen gehalten
wurden und denen Lenin zugehört hatte, das alles hatte Lenin geformt. Wie
Trotzki sagt: »Lenin war kein
Zufallsprodukt in der geschichtlichen Entwicklung, sondern ein Produkt der
gesamten russischen Geschichte. Er war in ihr eingebettet, tief verwurzelt.
Zusammen mit der Vorhut der Arbeiter hatte er ihren Kampf im Laufe des
vorhergehenden Vierteljahrhunderts miterlebt.«[45] Es war gerade das, was Lenin mit
seiner Partei gemeinsam besaß, was ihn befähigte, mit ihr zu sprechen, von »Seele zu Seele«, während des ganzen
Jahres 1917. Seine Einmaligkeit bestand darin, daß er diese gemeinsame
Tradition genauer und vollkommener ausdrückte als seine Gegenspieler. Trotzki
erläutert diesen Punkt am klarsten in seinen Notizbüchern über die Dialektik: »Lenin irrte manchmal,
nicht nur in Nebensachen sondern auch in großen Fragen... Eine ganze Reihe von
Personen kann, mit voller Berechtigung, darauf hinweisen, daß sie recht und
Lenin unrecht hatten in gegebenen, manchmal sehr bedeutenden Fragen. Die Gruppe
Borba [Der Kampf] behielt recht mit ihrer Kritik an Lenins erstem Agrarprogramm ... ;
Plechanow hatte recht mit seiner Kritik an Lenins Theorie des Sozialismus
"von außen"; - der Autor der vorliegenden Zeilen hatte recht mit
seiner allgemeinen Prognose der russischen Revolution. Aber im Kampf der
Tendenzen, der Gruppierungen und der Personen konnte keiner ein Konto vorweisen
mit einem solchen Guthaben wie das Lenins. Darin lag das Geheimnis seines
Einflusses, seiner Stärke und ... nicht in der Art einer unrechtmäßigen
Unfehlbarkeit, wie sie in der Historiografie seiner Epigonen porträtiert wird.«[46] Diese Tatsache wäre
offensichtlicher gewesen, und Lenins Einzigartigkeit weniger bemerkenswert,
wenn es nicht den außerordentlichen Umstand seiner Rückkehr aus dem Exil als
revolutionärer Führer gegeben hätte. Seine physische Trennung erleichterte die
impressionistische Gegenüberstellung des »Helden«
und der »Masse«. Wäre Lenin nicht im
Exil gewesen, wäre die »innere
Kontinuität der Parteientwicklung« leichter auszumachen gewesen.[47] Diese Darstellung macht zweierlei
klar. Erstens kann ein solcher Führer, der von einer Organisation durch
Jahrzehnte der theoretischen Arbeit und des praktischen Kampfes geschmiedet
wurde, nicht am Vorabend der Revolution durch die »Kräfte der Geschichte« einfach "ersetzt" werden.
Zweitens besteht die Einzigartigkeit eines solchen Führers lediglich in seiner
oder ihrer Fähigkeit, die gemeinsame Erfahrung all jener zusammenzufassen, mit
denen er oder sie eine solche Organisation aufgebaut hat, und in der
Mühelosigkeit, mit der er oder sie diese gemeinsame Tradition neuausrichten
kann, um neuen Herausforderungen gerecht zu werden. Ohne eine revolutionäre
Organisation hätten sie weder die Mittel, den Kampf zu verstehen, noch die
Fähigkeit, ihn zu leiten. Jede kollektive
Arbeiterorganisation, ob revolutionäre Partei oder Gewerkschaft oder gar
reformistische Partei, überträgt an ihre Mitglieder und Führer etwas von dieser
Fähigkeit, den Gang der Geschichte zu verändern. Wieviel Macht sie aber
besitzen, und ob sie sie effektiv einsetzen, hängt von manigfaltigen Faktoren
ab - von der Größe der Organisation, von ihrer Politik, ihrer Geschichte, den
wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, der Stärke und dem Organisationsgrad der
herrschenden Klasse und so weiter. Sozialtheoretiker, die sich mit
der Situation des Individuums befassen, berücksichtigen diesen kollektiven
Kontext meistens nicht. Viele der schwierigen Fragen, mit denen sich manche
Sozialisten und Feministinnen in den letzten Jahren am meisten beschäftigt
haben - Vergewaltigung, Pornographie, Kindermißhandlung -, sind Situationen, in
denen die Individuen selbst am grausamsten von jeglicher kollektiven Macht
abgetrennt sind. Zu behaupten, daß solche Individuen, ob als Opfer oder als
Täter, über ihr individuelles Schicksal in der gleichen Weise bestimmen wie
einzelne Mitglieder und Führer von großen Bewegungen über ihr kollektives
Schicksal, ist falsch. Was Lenin oder Cromwell oder
Robespierre die Fähigkeit gab, einen persönlichen Beitrag zur Geschichte zu
leisten, war die große Macht der Bewegungen, aus denen sie entstanden. Was
sogar das kleinste Element von realer Entscheidungsmöglichkeit aus dem Leben
von isolierten Individuen tilgt, ist ihre vollkommene Trennung von einer
solchen Bewegung und ihre totale Abhängigkeit, sowohl wirtschaftlich als auch
ideologisch, von einem System, das ihre Bedürfnisse und Hoffnungen mit Füßen
tritt. Je isolierter und machtloser das Individuum und je brutaler die
Umstände, mit denen es konfrontiert wird, desto geringer seine Chance, sein
Schicksal zu beeinflussen. Wie Trotzki sagte: »Auf ein Kitzeln reagieren
Menschen verschiedenartig, aber auf glühend heißes Eisen gleich. Wie eine
Dampfmaschine eine Kugel und einen Würfel gleichermaßen zu Blech verarbeitet,
so zerschmettert der Aufprall von allzu großen und unnachgiebigen Ereignissen
Widerstände, und die Grenzen der "Individualität" gehen verloren.«[48] Die Dialektik der permanenten
Revolution Die Theorie der permanenten
Revolution markierte einen wichtigen Bruch mit dem Determinismus der Zweiten
Internationale. Später wurde sie zum Eckpfeiler in Trotzkis Kampf gegen Stalins
fatalistische Theorie des "Sozialismus in einem Land". In beiden
Fällen argumentierte Trotzki, daß ein rückständiges Land, um reif zu sein für
die sozialistische Revolution, nicht durch alle Stadien der kapitalistischen
Entwicklung gehen mußte, die die fortgeschrittenen kapitalistischen Mächte
gekennzeichnet hatten. Trotzkis Theorie, das Gesetz der kombinierten und
ungleichen Entwicklung, hob hervor, daß jede Analyse von dem revolutionären
Potential von rückständigen Ländern von der Gesamtheit der kapitalistischen
Entwicklung im weltweiten Maßstab ausgehen mußte. Hier waren die materiellen
Bedingungen für eine sozialistische Gesellschaft offensichtlich vorhanden, auch
wenn sie nicht in jedem Teil des Weltsystems für sich betrachtet existierten.
Damit eine Revolution in einem rückständigen Land Erfolg haben konnte, mußte
sie andere Teile des Systems erfassen und so ihren materiellen Reichtum
anzapfen. Diese Auffassung der Verbundenheit der unterschiedlichen Teile des
Ganzen untereinander war auch ein wesentlicher Bestandteil von Trotzkis Analyse.
Um dieses Potential zu realisieren, würde
die
Arbeiterklasse bewußt um die Führung in der
Revolution kämpfen müssen. Auch diese skizzenhafte
Zusammenfassung macht klar, daß Trotzkis Theorie eine brillante Anwendung der
dialektischen Methode auf neue historische Bedingungen ist. Er zwang nicht bloß
ein abstraktes dialektisches Schema widerspenstigen Tatsachen auf. Aus der
empirischen Forschung baute er ein Bild von der Gesamtheit der
Klassenbeziehungen und formulierte das Gesetz der kombinierten und ungleichen
Entwicklung, um die Beziehung zwischen den verschiedenen Teilen des Ganzen
aufzuzeichnen. Dieses Bild wird genau getroffen durch einen Ausdruck, den er
später in den Notizbüchern über die Dialektik verwendete: die differenzierte
Einheit. In seiner Erwiderung gegen die Stalinisten, die ihn beschuldigten, »über historische Stufen hinwegzuspringen«,
führte er dieses Konzept aus: »Es ist Unsinn zu sagen,
daß Stufen ganz allgemein nicht übersprungen werden können. Der lebendige
historische Prozeß überspringt dauernd isolierte "Stadien", die ja
nur ein Ergebnis der theoretischen Zergliederung des Entwicklungsprozesses als
ganzen, d.h. in seiner Vollständigkeit, in seine einzelne Bestandteile ist ...
Es kann gesagt werden, daß der erste Unterschied zwischen einem Revolutionisten
und einem vulgären Evolutionisten in der Fähigkeit liegt, solche Momente zu
erkennen und auszunutzen.«[49] Trotzki machte mit den Argumenten
seiner Gegner von der historischen Unvermeidlichkeit ebenso kurzen Prozeß: »Die eine oder andere Stufe
im historischen Prozeß kann sich unter bestimmten Bedingungen als unvermeidlich
erweisen, obwohl sie theoretisch gesehen nicht unvermeidlich ist. Und
umgekehrt, theoretisch "unvermeidliche" Stufen können durch die
Dynamik der Entwicklung auf Null komprimiert werden,
besonders während Revolutionen.«[50] Trotzkis Theorie der permanenten
Revolution ist ein brillantes Beispiel von angewandter Dialektik. Sie
beinhaltet eine konkrete Analyse aller Lehrsätze, die er später in seinen
Schriften über die Dialektik als allgemeine Prinzipien formulierte. Wir finden
die gleichen Prinzipien am Wirken, wenn wir einen Blick auf Trotzkis Schriften
über die Kunst werfen. Hier stellt er eine Verbindung zwischen Kultur und ihren
materiellen Wurzeln her und betont, daß das »Klassenkriterium«
unentbehrlich ist in der Kunst, wobei die Kunst gleichzeitig »nach ihren eigenen Gesetzen beurteilt«
werden muß. Dies klingt wie ein Widerspruch, bis wir verstehen, daß dies ein
weiteres Beispiel ist für eine »differenzierte
Einheit«. In seiner "Literatur und
Revolution" zeigt Trotzki wieder einmal, daß weder der Idealismus noch der
vulgäre Materialismus ausreichen, um die Rolle der Kunst zu analysieren. Die
Kunst, so argumentiert er, ist weder ein Spiegel, der die Gesellschaft einfach
reflektiert, noch ein Hammer, der die Gesellschaft nach seinen eigenen Wünschen
gestalten kann. Trotzki schiebt die
"Voroktober-Kunst' beiseite, die sich bloß nostalgisch in die Zeiten unter
dem Zaren zurücksehnt. Er ist aber alles andere als unkritisch gegenüber den
Futuristen und den Praktikern des Proletkults. Der Aufruf der Futuristen, mit
der Kunst der Vergangenheit zu brechen, »hat
eine Bedeutung insofern, als die Futuristen eifrig dabei sind, die Schnur, die
sie mit den Priestern der bürgerlichen literarischen Tradition verbindet, zu
schneiden«. Aber für die Arbeiterklasse bedeutet dieser Aufruf nichts, da »für die Arbeiterklasse keine Notwendigkeit
und auch keine Möglichkeit besteht, mit der literarischen Tradition zu brechen,
weil sich die Arbeiterklasse in der Gewalt einer solchen Tradition gar nicht
befindet«.[51] Trotzkis Kerngedanke ist, daß die
Arbeiterklasse die alte Kultur meistern und gleichzeitig die neue schmieden
muß. Im Verlauf dessen werden sie neue künstlerische Formen schaffen und auch
alten Formen zu neuer Lebendigkeit verhelfen. Diese Einstellung basiert auf
einer Einschätzung der Kulturentwicklung als ganzer, unter Berücksichtigung
ihrer Kontinuität und Diskontinuität mit der vorrevolutionären Gesellschaft.
Sie hebt hervor, daß eine Verwandlung der Kunst nur auf einem Verständnis von
der Beziehung zwischen Revolution und Kunst beruhen kann, das weder die Kunst
als unabhängiges Reich in passiver Weise akzeptiert noch sie zu einem
unmittelbaren Ausdruck der gesellschaftlichen Bedürfnisse und somit auf das
Niveau der Propaganda herabsetzt: »Man kann nicht das Konzept
Kultur in das Kleingeld des alltäglichen, individuellen Lebens verwandeln und
den Erfolg der Klassenkultur anhand der proletarischen Ausweise einzelner
Erfinder oder Dichter feststellen. Die Kultur ist die organische Summe an
Wissen, die die Gesamtgesellschaft charakterisiert, zumindest aber ihre
herrschende Klasse. Sie umfaßt und durchdringt alle Gebiete des menschlichen
Schaffens und vereinigt sie in ein System. Individuelle Errungenschaften
steigen über dieses Niveau hinaus und heben es allmählich.«[52] Schlußwort Trotzkis philosophische Schriften
sind oft kurz und ihre Bedeutung komprimiert. Einige waren in der Tat Notizen,
die nicht für die Herausgabe bestimmt waren. Ihre eigentliche Bedeutung wird
nur klar auf dem Hintergrund der Tradition des dialektischen Denkens, die mit
Hegel begann und von Marx und Engels, von Lenin, Lukács und Gramsci an uns
weitergeleitet wurde. Das war offensichtlich auch Trotzkis Ansicht, da seine
Schriften teilweise eine Kommentierung von Hegels Schriften und teilweise eine
Vorbereitung zum Studium von Lenins "Philosophischen Notizbüchern"
sind. Das ist jedenfalls der Blickwinkel, unter dem ich Trotzkis Ansichten
wiedergegeben habe. In diesem Schlußwort möchte ich lediglich auf die
Positionen hinweisen, zu denen diese Tradition uns meiner Meinung nach
verpflichtet. Erstens verpflichtet sie uns zu
einer Sicht der natürlichen und der gesellschaftlichen Welt als einziger
Gesamtheit, die sich über die Zeit als Ergebnis interner Widersprüche
fortentwickelt. Jede andere Sichtweise reduziert die natürliche Welt zu einem unbekannten,
von der Gesellschaft getrennten Reich, das sich nach fremden Gesetzen
entwickelt. Darüber hinaus, da sich die gesellschaftliche Welt aus der
natürlichen entwickelt (und immer noch durch stetiges Zusammenspiel mit ihr
geformt wird), haben wir allen Grund anzunehmen, daß, wenn die eine eine
dialektische Struktur besitzt, die andere es ebenfalls tut. Der Grund, warum
die Naturwissenschaften die dialektische Methode scheinbar weniger nötig haben
als die Gesellschaftswissenschaften, liegt darin, daß die extreme Fächerung und
Zweckgebundenheit eines Großteils der wissenschaftlichen Forschung für die
Zielsetzungen der kapitalistischen Gesellschaft ausreichend ist. So real ihre
Früchte auch sein mögen, diese wissenschaftliche Arbeit ist dennoch begrenzt in
ihren Ergebnissen und in ihren Methoden. Die Ziele der Wissenschaft werden
vorbestimmt durch den bürgerlichen Charakter der Gesellschaft, und dies
schließt weitgehend jede Diskussion über die allgemeine Struktur der
natürlichen Welt und über die Ziele der Wissenschaft aus. In dem Augenblick, wo
die wissenschaftliche Forschung über diese Grenzen hinausstößt - ob auf dem
Gebiet der Evolution, der Relativität, in der Chaos-Theorie, oder in Theorien,
wie die von Stephen Hawking, die sich mit der Natur des Universums beschäftigen
- tauchen Fragen der Dialektik oft auf. In vielen Fällen (Darwin ist ein
Beispiel, das Trotzki zitiert) entwickeln Naturwissenschaftler
quasi-dialektische Theorien. Dies ist ein Hinweis, sowohl daß die Wirklichkeit,
die sie untersuchen, eine dialektische Entwicklungsform hat, als auch, daß sie
den dialektischen Rahmen am nützlichsten für solche Studien finden. Dies ist
natürlich ein Argument, das letztlich nur entschieden werden kann durch eine
detaillierte Analyse der modernen Wissenschaft. Ich habe weder die Gelegenheit
noch das Wissen, um eine solche Analyse an dieser Stelle zu unternehmen. Trotzdem gibt es eine Reihe von
allgemeinen Gründen für die Annahme, daß die Natur dialektisch ist. Wir können
klar sagen, daß die Natur ein zusammengeschlossenes System ist, das sich über
Millionen von Jahren entwickelte, bevor die Menschen auf der Erde liefen. Sie
entwickelt sich auch weiter fort und würde es ganz unabhängig davon tun, ob
Menschen sie bebauten oder nicht. Sie besitzt daher eine interne Dynamik. Wir
können auch mit Sicherheit behaupten, daß sich die Natur nicht zufällig
entwickelte, sondern nach bestimmten, rational begreiflichen Prinzipien. Sie
entwickelte sich auch nicht sanft und gleichmäßig. Sie entfaltete sich durch
große Verwandlungen, welche, einmal geschehen, - und obwohl durch kleine,
molekulare Veränderungen vorbereitet - die Welt in einem qualitativ, grundsätzlich
verschiedenen Zustand hinterließen von dem, was er vorher war. Trotzki weist
auf die Entwicklung des menschlichen Bewußtseins als ein solches Moment der
Verwandlung. Zweitens, diese Sichtweise macht
es möglich, auf einer Grundlage zu argumentieren, die nicht den Vorwurf auf
sich zieht, daß jedes Konzept einer Dialektik, die sowohl die Natur als auch
die Gesellschaft umfaßt, automatisch Gefahr läuft, die objektiven Gesetze der
natürlichen Entwicklung auf die gesellschaftliche Sphäre zu übertragen und so
den Marxismus zum Determinismus zu reduzieren. Früher schien es, zumindest mir,
ein echtes Problem für den Marxismus zu sein. Trotzkis Notizbücher liefern eine
Lösung für dieses Problem. Trotzkis Argument ist nicht nur, daß das »Bewußtsein aus dem Unbewußten hervorging«
und damit eine qualitativ neue Phase in der Geschichte eröffnete. Er
argumentiert auch, daß die Struktur der Dialektik in der Gesellschaft eine
andere ist als die in der Natur - erstere muß die Entwicklung des Bewußtseins
in einer Art und Weise berücksichtigen, letztere braucht das nicht. Die
Dialektik kann nicht irgendein unbewegliches Substrat bleiben, auf dem sich
alles andere verändert, das aber selbst gegen jegliche Veränderung immun ist.
Die Dialektik selbst wird verwandelt im Zuge der Entwicklung der natürlichen
und der gesellschaftlichen Welt. Dies ist ein grundlegendes Merkmal der
materialistischen Dialektik, das in Hegel vollkommen fehlt. Hegel behandelte
nur die zeitlosen Muster des Denkens und brauchte deshalb keine artikulierte
Dialektik, die in der Lage ist, ihre Form an die Konturen der materiellen Welt
anzupassen, aus der sie entsteht. In dieser Sichtweise sind Natur
und Gesellschaft eine Einheit, sind aber nicht identisch. Sie sind eine »differenzierte Einheit«, in der jede
gesonderte Sphäre immer noch mit jeder anderen verbunden ist, in der aber jede
Sphäre auch ihre eigenen besonderen Prozesse, Gesetze usw. hervorbringt.
Trotzki hatte schon lange eine ähnliche Unterscheidung in seinem theoretischen
Werk getroffen. Sie war, wie ich versucht habe aufzuzeigen, ein leitendes
Prinzip in seiner Theorie der permanenten Revolution, in seinen historischen
Schriften und in seiner Analyse der Kunst. Trotzkis Konzept von der »differenzierten Einheit«, ein
philosophisches Äquivalent der kombinierten und ungleichen Entwicklung, ist ein
origineller Beitrag. Dies ist eine marxistische
Analyse, die keiner weiteren Verfeinerung durch solche Konzepte wie »relative Autonomie« bedarf, die keinen
Rückfall in den Dualismus erfordert, nur um die Behauptung aufrechterhalten zu
können, daß die bewußte menschliche Tätigkeit eine Rolle bei der Veränderung
der Gesellschaft spielt, und die schließlich nicht verlangt, daß wir in den
Idealismus zurückfallen, um die Rolle des Individuums in der Geschichte zu
erklären. Sie ist jedoch eine Methode, die
Verteidigung nötig hat. Viele Sozialisten in den fortgeschrittenen
kapitalistischen Wirtschaften haben zehn oder mehr Jahre durchgemacht, in denen
sich die echte marxistische Tradition auf dem Rückzug befand. Wie Trotzki
bemerkte, »reaktionäre Perioden ...
werden ganz natürlich zu Epochen des billigen Evolutionismus« und, hätte er
hinzfügen können, auch seines dialektischen Gegenteils, nämlich des
überhandnehmenden Idealismus. Von beiden hatten wir im Überfluß. Nun scheint
es, zumindest in Großbritannien, als ob jene Periode dem Ende zu geht. Es
könnte keinen besseren Zeitpunkt geben, um die wirkliche marxistische Tradition
wieder geltend zu machen, und auch kein besseres Beispiel als Trotzkis
Schriften. |