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Die Revolte in Argentinien und die globale Krise
Chris Harman
Redebeitrag von einem argentinischen Linken auf einer Konferenz "Globalisierung und Widerstand" im Frühjahr 2001 in London.
Das Fernsehen sendete Bilder von Hunderten von Demonstranten, hauptsächlich Frauen und Kinder, vor einem Supermarkt, die laut schrieen, "Wir wollen essen! Wir wollen essen!" ... Im Laufe des Tages wurden Hunderte Supermärkte im ganzen Land geplündert.
Als ich die Demonstrationszüge aus allen Vierteln der Stadt kommen sah, nachdem der Präsident den Notstand angekündigt hatte, dachte ich: Das ist wie der Fall der Mauer. Das ist der Fall der neoliberalen Mauer.
Die gesellschaftliche und politische Krise in Argentinien hat die US-Regierung überrascht. Sie erwartete eine langsame, politisch steuerbare Abwicklung der Nichtzahlung der Staatsschulden. Niemand hatte ernsthaft an die Möglichkeit des politischen und gesellschaftlichen Chaos gedacht.
Eine Woche nach der erwarteten Ankündigung der Nichtzahlung sieht es nicht mehr so leicht aus. Die USA befürchtet, dass die Instabilität sich auf andere Länder ausbreiten könnte ... Ein langjähriger amerikanischer Diplomat mit Erfahrung in der Region bemerkt: "Die Regierung Bush hat sich in diese Krise nicht eingemischt, weil sie keinen politischen Gewinn zu Hause darin gesehen hat. Vielleicht wird das anders, wenn sie sich plötzlich mit einer politischen und gesellschaftlichen Krise in der Hemisphäre konfrontiert sieht, weil dann ihre politische Gegner fragen können: Wer hat Südamerika verloren?"
Die Explosion der Wut, die in den Straßen von Buenos Aires am 19.-20. Dezember erschien, hat nicht nur eine Regierung gestürzt. Sie zeigte auch, wie eine Wirtschaftskrise plötzlich eine potentiell revolutionäre Lage schaffen kann. In der Zeit danach ging die Präsidentschaft durch vier verschiedene Hände, bis sie bei Duhalde, dem Vizepräsidenten in den späten 80er Jahre und dann Ministerpräsidenten von Buenos Aires, gelandet ist. Wo ich sechs Wochen später schreibe, zeichnet sich keine Beruhigung des Aufruhrs auf der Straße ab. Es gibt Berichte über Caceralazo-Proteste in Buenos Aires und ähnliche Proteste in Dutzenden der Provinzstädte. Die Berichte auf der Website des Fernsehsenders Azul zu verfolgen, ist ein wenig so, als würde man Beschreibungen von Deutschland im Jahre 1923 lesen, im Jahre eines verfehlten revolutionären Aufstandes und des gescheiterten Hitlerputsches in München. In einem Ort nach dem anderen haben piqueteros Straßen blockiert, Hungrige marschieren in die Supermärkte ein und verlangen Lebensmittel, Menschen, deren Konten gesperrt wurden, lassen ihre Wut an den Bankfilialen aus. Der Chef der regierenden Partei im Senat hat öffentlich von der Möglichkeit eines "Bürgerkriegs" gesprochen. Die Regierung hat die Rückzahlung der Auslandsschulden ausgesetzt, die Inhaber privatisierter Konzerne verbal scharf attackiert, sogar Polizei zur Kontrolle der Finanzen ausländischer Banken geschickt. Doch gleichzeitig versucht sie den IWF zu überzeugen, dass sie sich mit ihm irgendwie einigen wird, und will Banken im ausländischen Besitz beruhigen und glaubhaft machen, dass sie ihnen nicht absichtlich schaden will. Wenige Beobachter glauben, dass die Regierung die Unzufriedenheit beruhigen kann, die gleichwohl in der Mittelschicht und in der Arbeiterklasse wütet, oder dass sie die Forderungen des internationalen Kapitalismus befriedigen kann. Wie jede Regierung mitten in fast revolutionären Unruhen wird sie zuerst in die eine Richtung gezogen, dann in die andere und wieder zurück, unfähig, eine konsequente Politik zu führen, unfähig, sich Gedanken über was anderes als das eigene Überleben zu machen. Es ist noch zu früh, um klar zu sehen, wie die Lage sich entwickeln wird. Manche Kommentatoren haben vom "Zusammenbruch des Staates" gesprochen. Das ist übertrieben. Die "Formationen bewaffneter Menschen" des Staates waren am 20.Dezember in Buenos Aires noch in der Lage, mindestens 24 Demonstranten zu töten und in anderen Städten weitere 20. Sie haben Proteste - insbesondere in der Provinz - seitdem immer wieder angegriffen. Doch kann es keine Zweifel daran geben, dass die Autorität des Staates enorm geschwächt worden ist. Und das Militär, in der Vergangenheit so oft Schlichter in der Politik des Landes, war bisher nicht willens, sich einzumischen. Ein Offizier sagte Journalisten, "Auch wenn die Situation sich zur Anarchie oder zum Bürgerkrieg entwickelt, wird meine größte Sorge sein, wenn ich gebeten werde zu intervenieren, dass meine Männer meinem Befehl noch gehorchen." Dieser Zustand der Instabilität kann nicht ewig dauern. Die diversen Elemente innerhalb der argentinischen herrschenden Klasse versuchen verzweifelt, eine gemeinsame Strategie zu entwickeln, mit der sie die Kontrolle über die Ereignisse wiedererlangen und den Aufstand auf den Straßen beenden können. Sollen sie erfolgreich sein, werden sie ohne jegliche Zweifel alle Staatsgewalten einsetzen, um ihre Version der "Ordnung" wieder durchzusetzen und sich gegen diejenigen zu rächen, die ihre Macht in Frage gestellt haben. Aber sie sind noch weit entfernt davon, das tun zu können. Im jetzigen Moment hat der argentinische Aufstand eine riesige Bedeutung für das globale System und für seine Opposition, die sich in den zweieinhalb Jahren seit Seattle entwickelt hat. Präzedenzfälle in Argentinien
Wie in jeder großen Rebellion haben die Menschen in Argentinien auf ihr kollektives Gedächtnis zurückgegriffen. Dreimal im zwanzigsten Jahrhundert führten riesige Aufstände von unten zu Konflikten mit dem Staat, deren Ausgang sich jeweils jahrelang tiefgehende Wirkung auf die gesellschaftliche Entwicklung hatte.
Der erste große Kampf war im Januar 1919 - einem Jahr weltweiter revolutionärer Unruhen. Die Semaña Tragica (Tragische Woche) sah blutige Kämpfe zwischen Arbeitern und der Staatsgewalt in Buenos Aires.
Das Ergebnis dieser Kämpfe hatte einen entscheidenden Einfluss auf das Muster der argentinischen Politik in den folgenden zwei Jahrzehnten. "Die Rolle der Gewerkschaften wurde allgemein geschwächt", während die Rolle des Militärs als politischer Schlichter des Landes verstärkt wurde. Es konnte nach einem Putsch im Jahre 1930 ein "infames Jahrzehnt" einleiten, in dem konservative Regierungen durch Wahlmanipulation, Korruption und den fast vollständigen Ausschluss der Arbeiter vom politischen Leben über das Land herrschten.
1943 ergriff eine Gruppe nationalistischer Armeeoffiziere die Macht. Sie taten das zu einer Zeit, in der Wirtschaftswachstum zur Verbreitung der Kampfbereitschaft in der Arbeiterklasse beigetragen hatte, und einer der Offiziere, Juan Peron, nahm es an sich, diese Bewegung unter Kontrolle zu halten. Er bestand darauf, dass Arbeitgeber einigen Forderungen der Arbeitnehmer nachgeben sollten. Dadurch konnten Führer, die hinter seinen eigenen politischen Ambitionen standen, selbst die nötige Unterstützung gewinnen, um in den wichtigsten Gewerkschaften, die rapide an Mitglieder und an Einfluss gewannen, eine vorherrschende Position einzunehmen. Bis 1945 schliesslich verbreitete sich in Teilen der herrschenden Klasse die Meinung, dass er zu weit gegangen sei. Sie überzeugte Perons Offizierskollegen, ihn aus der Regierung zu entfernen. Der Sieg der Arbeiter war zwiespaltig. Er schaffte Umstände, in denen die Arbeitgeber gezwungen wurde, Reallöhne in den folgenden vier Jahren um mehr als 30 % zu erhöhen. Die Gewerkschaftsführer übten bedeutenden Einfluss in der "Justizialistischen Partei" aus, die Peron gründete. Seine Regierung führte eine Art soziales Netz ein, Anerkennung der Gewerkschaften, bezahlten Urlaub, Abfindungen bei Entlassung, Geldleistungen für Bedürftige. Doch die Form des Sieges band Arbeiter und die Arbeiterbewegung an den Mythos des "Arbeiteroberst" und den Personenkult um seine Frau "Evita" - und an einen Nationalismus, der die Einheit "patriotischer" Arbeitgeber und -nehmer predigte: "Internationaler Kapitalismus ist ein Werkzeug der Ausbeutung, nationales Kapital ein Werkzeug der Wohlfahrt." Der dritte große Aufstand war der Cordobazo im Jahr 1969 - das argentinischen Gegenstück zum Mai 1968 in Frankreich und zum italienischen "heissen Herbst". Er fand vor dem Hintergrund von zwei Jahrzehnten von Angriffen auf Reallöhne und Arbeitsbedingungen statt. Unter Peron hatten die Reallöhne angefangen zu sinken, doch nach Meinung des argentinischen Kapitalismus waren die Gewerkschaften immer noch zu stark, und er wurde 1955 vom Militär gestürzt. Es gab nicht die sofortige, koordinierte Revolte der Arbeiter wie zehn Jahre früher, doch massivste Repression wurde notwendig, um den weit verbreiteten Widerstand zurückzuschlagen, der Straßenschlachten, einen zweitägigen Generalstreik und bewaffnete Sabotage einschloss. Im nachfolgenden Jahrzehnt griff der argentinische Kapitalismus jede Gelegenheit auf, um Aktivisten zu schikanieren ... Jeder erfolgreichen Verteidigung ihrer Lebensstandards durch die Arbeiter folgte steigende Inflation, durch die die Arbeitgeber ihre Profite wieder gutmachten, und Rezessionen, die den Arbeitern die Kampfbereitschaft gegen staatliche Repression raubten. Bis 1960 standen Reallöhne in Buenos Aires wieder auf dem Niveau von 1946 und bis 1965 war der Anteil der Arbeiter am Bruttosozialprodukt von 49,9% auf 40,7% gesunken. Dies war die Kehrseite der "entwicklungsorientierten" Strategie einer herrschenden Klasse, die die nötigen Profite suchte, die den Aufbau einer auf dem Weltmarkt konkurrenzfähigen Schwerindustrie ermöglichen würde. Diese Angriffe führten zu großer Verbitterung innerhalb der Arbeiterklasse. Diese fand Ausdruck in einer enormen Treue gegenüber der peronistischen Gewerkschaftsbürokratie und einer so großen politischen Identifizierung mit dem exilierten Peron, dass er jede wirklich offene und freie Wahl gewonnen hätte. Das war Anlass für die Intervention des Militärs gegen zivile Regierungen 1962 und 1966 und die folgende Militärdiktatur General Onganias. Diese fror Löhne ein, brach Streiks und übernahm Gewerkschaften, die versuchten Widerstand zu leisten. Sie verbot auch noch alle politischen Parteien, auch die bürgerlichen, und versuchte militärische Leitung in jedem Bereich der Gesellschaft durchzusetzen, zum Beispiel indem sie die Universitäten unter ihrer Kontrolle brachte. Im Mai 1968 tötete das Militär zwei Studenten während Demonstrationen gegen Essenspreise. Protestdemonstrationen und vereinzelte Streiks brachen aus und die Gewerkschaftsbünde riefen einen landesweiten Generalstreik für den 30. Mai aus. Cordoba war das Zentrum der Autoindustrie, die erst in den vergangenen 20 Jahren entstanden war. Die Löhne waren besser als in etlichen anderen Industriebranchen, und manche sahen die Autoarbeiter als eine "Arbeiteraristokratie". Doch die Neuigkeit der Industrie und die relative Jugend der Beschäftigten bedeutete auch, dass sie weniger von der Erfahrung vergangener Niederlagen betroffen waren und auch weniger gewohnt, auf die Gewerkschaftsbürokratie zu hören. Die Autobetriebe und Kraftwerke entschieden sich, den Generalstreik mit einem "aktiven Streik" am 29. Mai zu unterstützen. Arbeiterkolonnen - manche mit Molotowcocktails bewaffnet - zogen ins Stadtzentrum, Sitz der Polizei, der Hotels und der Banken. Es waren "4.000 IKA-Renault-Arbeiter, 10.000 Metallarbeiter, 1.000 Arbeiter der Kraftwerke und so weiter." Die Arbeiter vertrieben 4.000 Polizisten und übernahmen das Stadtzentrum. Etwa 5.000 Soldaten wurden dann eingesetzt, die die Arbeiter zum Rückzug in die Arbeiter- und Studentenviertel zwangen, wo diese Barrikaden errichteten. Die folgende Repression tötete 16 Menschen, konnte aber nicht verhindern, dass der Aufstand die Schwäche der Militärregierung und die Kraft der Massenmobilisierung deutlich machte. Der Aufstand eröffnete eine dreijährige Phase von riesigen Streiks, Betriebsbesetzungen, Geiselnahmen von Managern, gewalttätigen Demonstrationen, Guerillaübergriffen auf die Staatsgewalt, und einem zweiten bewaffneten Aufstand in Cordoba, dem Viboraza. Diese Welle der Kämpfe ebbte erst dann ab, als das Militär unter dem Druck der herrschenden Klasse zuliess, dass Peron ins Land zurückkehrte und im Oktober 1973 die Präsidentschaft übernahm. Die Regierung von ihm, und nach seinem Tod im Juni 1974 von seiner dritten Frau Isabel, spielte ungefähr die gleiche Rolle wie diejenigen, unter deren Schirmherrschaft der "Gesellschaftsvertrag" in Großbritannien, der "Pakt von Monclao" in Spanien und der "historische Kompromiss" in Italien eingeführt wurden. Die Perons konnten ihren Einfluss in den Bürokratien der Gewerkschaften einsetzen, um durch einen Pacto Social die Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse wieder in Griff zu bekommen, während die Bourgeoisie und deren Staat ihre Kräfte wieder sammelten. Doch diese Neugruppierung nahm eine sehr viel blutigere Form als in Westeuropa an. Rechtsextreme Gruppen bekamen freie Hand, ihre Gegner physisch zu liquidieren. Just an dem Tag, als Peron ins Land zurückkehrte, griffen rechte paramilitärische Gruppen Linke an, die sich in der zwei Millionen Menschen starken Menge befanden, die Peron am Flughafen begrüßte - eine große Zahl von ihnen wurden getötet. Während der drei Jahren der peronistischen Regierung wurden mehrere Linke und Basisaktivisten der Gewerkschaften ermordet, während die Gewerkschaftsführer mit der Regierung zusammen arbeiteten. 1976 stürzte das Militär dann Isabel Peron in einem Putsch und startete den blutigsten Angriff gegen eine Arbeiterbewegung, der seit dem Zweiten Weltkrieg irgendwo auf der Welt stattgefunden hatte, in dem 30.000 Linke und Basisaktivisten ermordet wurden. Das Wesen des Kampfes in ArgentinienDie drei großen Ausbrüche der Volkswut im 20. Jahrhundert hatten eines gemeinsam. Sie waren Konflikte zwischen der Industriearbeiterklasse einerseits und der Bourgeoisie mit deren Staat andererseits. Sie waren Klassenkonflikte, die der internen Dynamik der Entwicklung des argentinischen Kapitalismus selbst entsprangen, nicht einem anderen Produktionsmodus oder irgendeiner äußerlichen Ursache. Dies ist wichtig, denn die Realität - und die Wurzel der Explosion von 19.-20. Dezember - werden oft durch die Sprache verschleiert, die zur Beschreibung Argentiniens verwendet wird. Argentinien wird normalerweise von Volkswirtschaftlern als "wachsender Markt" oder "Entwicklungsland" bezeichnet. Hier wird suggeriert, dass Argentinien sich auf dem Weg von einer Vergangenheit als armes, landwirtschaftlich orientiertes Land zur Zukunft als fortgeschrittenes Industrieland befindet, und dass seine Probleme daran liegen, dass dieser Weg nicht schnell genug beschritten wird. Einige Linke haben eine eigene Version von dieser Idee und sprechen von einer "abhängigen Wirtschaft", einem "Land der Dritten Welt" oder einer "Halbkolonie". Es gibt tiefe Armut in dem Land heute, und sie besteht schon lange in den riesigen aber dünn besiedelten ländlichen Gebieten und den Wellblechstädte um Städte wie Buenos Aires und Cordoba. Doch der Grund dafür ist nicht, weil Argentinien historisch ein "armes, landwirtschaftliches" Land der "Dritten Welt" wäre. Vor einem Jahrhundert war es ein Land mit einer Wirtschaft sehr ähnlich denen von Australien, Kanada oder Neuseeland, die sich dem höchst profitablen Export von Produkten groß angelegter kapitalistischer Landwirtschaft (Fleisch, Wolle, Getreide) nach Westeuropa gewidmet hatte und als "Getreidespeicher der Welt" bezeichnet wurde. Die Beschäftigten waren keine für die Dritte Welt typisch indigenen Völker (die meisten von diesen waren im 19. Jahrhundert nach US-amerikanischem Vorbild ausgerottet worden), sondern Einwanderer und Saisonarbeiter aus Spanien und Italien, die durch Löhne angelockt wurde, die höher als in Südeuropa waren. Die Produktion pro Arbeiter war um einiges höher als in Frankreich oder Italien. Die herrschende Klasse hatte enge Verbindungen zu den Herrschern Großbritanniens - das Land war unter reichen britischen Auswanderern beliebt, es gab viel britisches Kapital und ungefähr ein Drittel der Exporte gingen nach Großbritannien - doch war sie auch unabhängig genug, um protektionistische Schutzzölle auf britische Industrieimporte zu erheben und im Ersten Weltkrieg neutral zu bleiben, während jede britische Kolonie Geld und Soldaten zu den imperialistischen Kriegsanstrengungen beitrug. "Argentinien am Anfang des Ersten Weltkriegs war ein moderner kapitalistischer Staat geworden," schreibt eine marxistische Geschichte des Peronismus. Das Problem für die verschiedenen Teile der kapitalistischen Klasse Argentiniens während des zwanzigsten Jahrhunderts war nicht, dass ihnen nationale politische Unabhängigkeit fehlte. Diese hatte sie seit 1816 genossen. Das Problem war, dass sie über ein Land mit einem relativ kleinen Binnenmarkt und relativ wenigen Ressourcen herrschte, in einer Welt von viel reicheren kapitalistischen Klassen, die über größere Märkte und mehr Ressourcen verfügten. Das wurde ihnen jedes mal deutlich gemacht, wenn die Weltpreise von landwirtschaftlichen Waren und mit ihnen ihre Gewinne fielen. Dies geschah in der großen Rezession zwischen den Kriegen, als der Weltmarktpreis für Weizen um 75% sank. Die argentinische Bourgeoisie, die sich ein Teil der Machtelite der Welt glaubte, stellte die Brüchigkeit des Gleichgewichtes fest, auf dem ihr Reichtum beruhte ... Sie könnte ihre Grenzen mit Chile oder Bolivien mit Zwang verändern, aber sie könnte die Franzosen nicht zwingen, ihr Land für ihr Getreide oder Fleisch zu öffnen. Ihre Antwort ab den 1930er Jahren war der Versuch, landwirtschaftliche Profite in den Aufbau von vermutlich weniger krisenanfälligen produzierenden und extrahierenden Industrien zu lenken, die einen mit hohen Zöllen geschützten Binnenmarkt beliefern sollten. Regierungen, die von den landwirtschaftlichen kapitalistischen Interessen (oft die "Oligarchie" genannt) geprägt waren, begannen diese Entwicklung; Peron erhöhte in den späten 1940er Jahren ihre Intensität, und die postperonistischen Regierungen der 50er und 60er Jahren fuhren weiter auf demselben Weg. Die industrielle kapitalistische Klasse, die jetzt die alte landwirtschaftliche kapitalistische Oligarchie in den Schatten stellte, bestand aus zwei miteinander verstrickten Gruppierungen. Eine Gruppe privater Kapitalisten besaßen die kleine und mittlere Industrie, während staatliche Bürokraten (unter ihnen auch Offiziere des Militärs) die neue Großindustrie wie Eisen und Stahl, Autos, Kraftwerke und Öl leiteten. Beide pflegten Verbindungen zu den Bürokratien der Gewerkschaften, die so in einem Netz der Korruption eingebunden waren. Solche Massnahmen ermöglichten die Industrialisierung Argentiniens. In den frühen 1970er Jahren arbeitete nur noch 13% der Bevölkerung auf dem Land, verglichen mit 34% in der Industrie. Die Wachstumsrate der Industrie war mit der von Italien vergleichbar (das in der Sprache von Wirtschaftswissenschaftlern damals gerade einen "Wirtschaftswunder" erlebte, obwohl immer noch eins der ärmeren westeuropäischen Länder und von Gebieten enormer Armut im Süden geprägt). Einige Zahlen für das Jahr 1972 machen den damals geringen Unterschied zwischen Argentinien und Italien deutlich:
Es gab Unterschiede zwischen den beiden Ländern. Argentinier waren ein wenig besser dran, was Lebensmittel betraf, Italiener besaßen mehr Gebrauchsgegenstände. Doch diese waren Unterschiede zwischen Ländern mit einem vergleichbaren Niveau der "Entwicklung"; das Ergebnis wäre ganz anders bei einem Vergleich z.B. zwischen Italien und Indien, oder gar zwischen Argentinien und Guatemala. Und Argentinien war wahrscheinlich weniger von ausländischem Kapital und ausländischen Importen abhängig. Importe machten nur ein Prozent der argentinischen Gebrauchsgüter aus, und ausländisches Kapital schlug, obwohl in gewissen Industriezweigen wichtig, insgesamt nur mit fünf Prozent der Fixinvestitionen zu Buche (verglichen mit 15,4% im Jahre 1943). Seit 1972 hat eine riesige Veränderung stattgefunden. Eine große Kluft hat sich zwischen den Lebensstandards der Masse in den beiden Ländern entwickelt. Bei einem durchschnittlichen Stundenlohn (im produzierenden Gewerbe) von nur $1,67 schon vor der gegenwärtigen Krise - wobei sehr viele Menschen noch weniger bekommen - erlebt Argentinien heute Armut in einem Ausmaß, das in Italien seit den 40er Jahren nicht mehr zu finden ist. Sogar die durchschnittliche Kalorienaufnahme ist gesunken (obwohl sie sich immer noch auf einem ähnlichen Niveau wie in Großbritannien Mitte der 90er Jahre bewegt und um ein Drittel höher als in Ländern wie Guatemala und Bolivien ist). Das ist jedoch nicht wegen "Unterentwicklung" in Argentinien geschehen, sondern wegen der Widersprüche, mit denen ein schwacher Kapitalismus über einer bestimmten Entwicklungsstufe zu kämpfen hat. Vom Standpunkt des Kapitalismus gesehen, hat sich Argentinien seit 1972 "entwickelt" - und der Zustand der Mehrheit seiner Bevölkerung hat sich dabei verschlechtert. Keine herrschende Klasse irgend eines Landes kann sich jemals auf ihren Lorbeeren ausruhen. Konkurrierende nationale Kapitalismen akkumulieren ohne Unterlass und deshalb kann sie es sich nicht leisten, ins Hintertreffen zu geraten. Eine, die über eine relative kleine Wirtschaft herrscht, steht vor besonderen Problemen, auch wenn es sich eher um eine Industrie- als um eine Agrarwirtschaft handelt. Die Abschottung des Binnenmarktes bot in der Vergangenheit eine vorübergehende Lösung für manche dieser Probleme. Die Enge des Marktes bringt aber unverhältnismäßig hohe Produktionskosten mit sich und die für eine erweiterte Produktion nötigen Ressourcen sind dementsprechend beschränkt. Daher die unablässigen Anstrengungen, die Ausbeutungsrate so weit wie möglich zu steigern und die wiederholten Neustrukturierungen, um mit Zwangsmaßnahmen Kapital aus den Händen von Kleinunternehmen in die von Großunternehmen zu verlagern. Damit war der argentinische Kapitalismus seit über einem halben Jahrhundert zugange. Das erklärt die Heftigkeit ihrer Konfrontationen mit der Arbeiterklasse, ihre politische Instabilität, der wiederholte Rückgriff auf Militärherrschaft und, neuerdings, die Marktöffnung gegenüber den multinationalen Konzernen, der internationalen Finanzwelt und den Diktaten des Internationalen Währungsfonds. Argentiniens Kapitalisten konnten in den ersten fünf Jahren von Perons Herrschaft diese Probleme bis zu einem gewissen Grad unter den Teppich kehren. Die Lebensmittelknappheit im Nachkriegseuropa zog die Preise für argentinische Agrarexporte in die Höhe und die ins Land zurückfließenden hohen Profite ermöglichten es der Regierung, eine mürrische Arbeiterklasse zu befrieden und eine Industrialisierungspolitik zu fahren, die sowohl der mittleren als auch der Kleinbourgeoisie zugute kam. Die Kehrseite dieser Konstruktion zeigte sich jedoch in den frühen 50er Jahren, als der Zusammenbruch der Agrarpreise den Methoden Perons den Boden unter den Füßen raubte. Von 1951 an konnte der argentinische Kapitalismus die Industrie nur mittels Verschärfung der Ausbeutungsrate weiter ausbauen. Das bedeutete, den Lebensstandard, den die Arbeiterklasse mittlerweile genoss, wieder herabzusetzen. Und der Wettkampf, um den argentinischen Kapitalismus auf der Höhe seiner Konkurrenten auf dem Weltmarkt zu halten, bedeutete, dass die Akkumulation verstärkt im Produktionsgütersektor auf Kosten des Sektors für Konsumgüter zur Deckung des Bedarfs der Arbeiter und Mittelschichten stattfinden musste. Das erklärt, warum die herrschende Klasse 1955 Peron ins Exil schickte, und auch warum jene Sektoren des Peronismus mit den verschiedentlichsten Verbindungen zu den nationalen Kapitalisten gegen seinen Sturz keinen ernsthaften Widerstand leisteten. Das erklärt auch warum in der Zeit von 1955 bis 1983 sich mehr oder minder langandauernde Militärdiktaturen mit viel kürzeren Perioden ziviler Herrschaft abwechselten. Jede industrielle Ausweitungsphase lockte neue Menschen in die Arbeitsstätten und erhöhte das Selbstvertrauen der Arbeiterklasse, was sich sowohl in erhöhter Streikbereitschaft als auch in der Unterstützung für "populistische" peronistische Politiker ausdrückte, die eine zumindest teilweise Rückkehr zu dem Lebensstandard und den Wohlfahrtsleistungen, die die Menschen noch in Erinnerung hatten, versprachen. Zivile Regierungen konnten einem solchen Druck nicht lange standhalten. Der argentinische Kapitalismus hatte allerdings sehr wohl den festen Willen, sich ihm zu widersetzen, und entschied sich schließlich für den Einsatz der rauen Handlanger des Militärs, um die Ordnung wieder herzustellen. Der letzte dieser Zyklen war jener, der seinen Anfang mit Cordobazo nahm, die peronistischen Regierungen der 70er Jahre umfasste und in der Militärdiktatur der Junta ihren Abschluss fand. Die neuen peronistischen Regierungen versuchten, die Unzufriedenheit unter der Arbeiterschaft mit finanziellen Zugeständnissen zu neutralisieren, ohne die Profite über Maßen anzuzapfen, indem sie die Notenpresse anschmiss, was eine monatliche Inflation von 20 bis 30 Prozent im Jahr 1975 verursachte. Die "Wiederherstellung der Ordnung" durch die Militärdiktatur 1976 wurde mit bislang unerhörter Brutalität vollzogen. Es fanden nicht nur Massentötungen statt. Es kam auch zu einem noch nie da gewesenen Angriff auf den Lebensstandard der Arbeiterschaft. Die Reallöhne waren 1978 nur halb so viel wert wie noch 1975. Damit lagen sie tiefer als 1940. Die Angriffe auf die Arbeiter und die Linke wurden begleitet von einer massiven Rationalisierungswelle in der Industrie infolge der Überbewertung der Peso, die das Land in ein Paradies für Spekulanten verwandelte. Ein Fünftel aller Beschäftigten in der verarbeitenden Industrie wurde innerhalb von vier Jahren entlassen, während die übrigen Arbeiter zu Produktivitätssteigerungen von 37 Prozent getrieben wurden. In der gleichen Zeit verloren eine halbe Million Arbeiter im öffentlichen Dienst ihre Stellen. Diese Maßnahmen reichten jedoch nicht aus, um die Probleme des argentinischen Kapitalismus zu lösen. Der wirtschaftlichen Ankurbelung im Jahr 1979 folgte die Stagnation des Jahres 1980 und eine Rezession ein Jahr später, während die jährliche Inflationsrate bei über 100 Prozent harrte. Eine wachsende Unzufriedenheit erfasste nicht nur die verarmte Arbeiterklasse, sondern auch manche Sektoren des argentinischen Kapitals. Der Krieg wegen der Falkland-/Malvineninseln war der Versuch, von diesen Problemen abzulenken. Die militärische Niederlage brachte die Diktatur zum Fall 1983. Damit waren die Schwierigkeiten des argentinischen Kapitalismus noch nicht vom Tisch. Eine kapitalistische Klasse auf der Suche nach einer StrategieDer Sieg der Radikalen Partei Alfonsins bei den Präsidentschaftswahlen von 1983 öffnete die Tür zur Neuauflage des klassischen Musters ziviler Regierungen. Die Arbeiter machten Druck, um ihren unter der Junta herabgesetzten Lebensstandard wieder herzustellen. Der argentinische Kapitalismus war nicht stark genug, um solche Zugeständnisse zu gewähren und erhöhte im Gegenzug die Preise, um seine Profite wieder rein zu holen. Ein paar Jahre lang stieg die Produktion. Dann erreichte die Inflation astronomische Werte - 1.470 Prozent in den zwölf Monaten bis Juni 1989, 20.226 Prozent in den zwölf Monaten bis März 1990 - just in dem Augenblick, als die Wirtschaft in eine tiefe Rezession mit einem Produktionsrückgang von 15 Prozent glitt. Währenddessen hatte sich die Auslandsschuld auf $60 Mrd. verdoppelt. Die wirtschaftliche Lage der Arbeiter war noch schlimmer als unter der Junta: Die Reallöhne lagen 1989 rund 25 Prozent unter ihrem Niveau von 1980, das wiederum, wir erinnern uns, noch unter dem von 1940 lag. Die Gewerkschaften organisierten nicht weniger als 14 Generalstreiks in dieser Periode. Der nackte Hunger befiel nun eine arbeitende Bevölkerung, die einst zu den besternährten der Welt gehörte, und es kam zu Lebensmittelaufständen begleitet von Plünderungen von Supermärkten in Buenos Aires 1989. Die althergebrachte Antwort auf Krisen und Enttäuschung mit einer gewählten Regierung, nämlich der Militärputsch, konnte diesmal nicht mehr funktionieren - drei Putschversuche 1987/88 brachen alle angesichts der landesweiten Gegenwehr (eine Million Menschen ging auf die Straßen gegen den ersten Putsch) und angesichts der Spaltungen innerhalb der Streitkräfte in sich zusammen. Statt dessen kam es zu Wahlverschiebungen, als der Peronist Menem bei den Präsidentschaftswahlen von 1989 haushoch über Alfonsins Radikale Partei siegte. Die Krise der Alfonsin-Regierung öffnete dem argentinischen Kapitalismus die Augen für die Notwendigkeit einer neuen ökonomischen Strategie. Trotz seiner wiederholten Akkumulationsanstrengungen und seines verzweifelten Wunsches, international konkurrenzfähig zu werden, lag der Pro-Kopf-Ausstoß um ein Fünftel unter dem von vor zehn Jahren! Die mächtigsten und am weitesten fortgeschrittenen Sektoren des Kapitals hatten schon lange nach einer neuen Strategie gedrängt. Bereits die Ongania-Diktatur von 1966 bis 1970 hatte auf die Notwendigkeit für den argentinischen Kapitalismus reagiert, die Bedingungen für ein neues Akkumulationsschema auf der Grundlage eines Bruchs mit der Autarkie und des Eintritts der Industrie in die Weltmärkte zu schaffen. Die erweiterte Akkumulation musste vom Stadium der Entwicklung eines internen, vom Staat mit Zollbarrieren geschützten Marktes in das des rücksichtlosen Kampfes um Lebensraum zwischen den mächtigsten Giganten auf dem Weltmarkt wachsen. Der Wechsel von der alten Strategie mit ihrem Schwerpunkt auf dem einheimischen Markt wurde gebremst durch den politischen Druck, den der Aufschwung der Arbeiterkämpfe in den späten 60er und frühen 70er Jahre ausübte. Erst unter der Militärjunta von 1976 genoss das Großkapital den notwendigen Freiraum, um ihre neue "neo-liberale" Politik durchzusetzen. Herabgesetzte Zölle und ein hoher Wechselkurs verursachten eine Importflut, die einem Großteil der alten mittelständischen und kleinbetrieblichen Industrie das Wasser abgrub, und die Gesamtzahl der in der produzierenden Industrie geleisteten Arbeitsstunden sank um 20 Prozent. Manche Sektoren des Regimes fuhren jedoch damit fort, den Staatsapparat zur Förderung bestimmter Industrien unter der Leitung von Monopolen und Teilen des Staatsapparats einzusetzen - im einzelnen waren es Maschinenbau und Ausrüstung, Eisen und Stahl, Infrastrukturmaßnahmen, Strom und Gas, Rüstungsindustrie und Landwirtschaft, die alle zwischen 1976 und 1980 expandierten. Der vom Militär geführte Staat betrachtete die Einnahmen aus den Lebensmittelexporten - nun vorrangig an die UdSSR - als Quelle für den Aufbau einer nationalen industriellen Basis (und für den Waffenkauf), und so schulterte der Staat über die Hälfte der Gesamtinvestitionen in der Periode von 1976 bis 1978. Das Großkapital wuchs auf Kosten des Kleinkapitals wie auch durch die verschärfte Ausbeutung der Arbeiterklasse. Ihm fehlte aber nach wie vor die ersehnte Konkurrenzfähigkeit auf internationalen Märkten. Die Puristen des freien Marktes machten dafür die noch existierenden staatlichen Kontrollen und die verstaatlichten Industrien verantwortlich. Die Krise der späten 80er Jahre lieferte ihnen die gewünschte politische Gelegenheit, um sich jener zu entledigen. Die verzweifelte Lage, in der sich die Menschen befanden, reduzierte die Wahrscheinlichkeit von Widerstand seitens der Arbeiterklasse wie auch seitens der mittleren Bourgeoisie. Nachdem der Lebensstandard ins Bodenlose gesunken war und die Inflation unglaubliche Ausmaße erreicht hatte, sehnten sich in ihrer Verzweiflung alle Klassen nach irgendeiner Alternative. Menem versprach genau das, als er die Regierungsgeschäfte übernahm. Er hatte die starke Rückendeckung der Gewerkschaftsbürokratie und die Unterstützung der meisten Arbeiter. Er hatte aber auch Verbindungen zu Sektoren des Großkapitals, die sich verzweifelt nach einem neuen Akkumulationsmodell sehnten, und wandte sich an den ehemaligen Chef der Zentralbank unter der Diktatur, dem Harvard-trainierten Ökonomen Domingo Cavallo, um es zu verwirklichen. Cavallo vertrat den messianischen Standpunkt, dass der Neoliberalismus die Antwort für alle Probleme des argentinischen Kapitalismus böte. Der neo-liberale Wundermacher
"Es ist Frühling in Buenos Aires. Die Regierung verkauft alles Erdenkliche. Riesige Plakatwände verkünden die Versteigerung von Bürogebäuden auf der schicken Calle Florida und im Uferviertel am Hafen. Armeeeinheiten werden aus Buenos Aires geworfen, damit die teuren Grundstücke verscherbelt werden können. Sogar die Giraffen, Vogelsträusse und ein 48jähriger indischer Elefant namens Norma befinden sich im Privatbesitz, nachdem die Stadtväter den Zoo verkauft haben." Die Veränderungen der letzten drei Jahre sind zusammen genommen nichts weniger als eine ökonomische Revolution. Während der Zusammenbruch des Kommunismus in Europa mit lautem Krach erfolgte, zerbröselte die alte Orthodoxie Lateinamerikas mit ihrer Schwerpunktsetzung auf strategische, staatlich gelenkte Industrien in aller Stille. Die Lateinamerikaner, wie die Osteuropäer auch, beugen sich dem privaten Markt und sind in ein Wettrennen getreten, um ihre darniederliegenden Wirtschaften wieder auf Trab zu bringen. Diese Veränderung verheißt Megageschäfte für die Banker der Ersten Welt, die ein ganzes Kontinent in die Finanz-, Verschmelzungs- und Aufkaufstricks des Nordens einführen und als Gegenleistung deftige Kommissionen für ihre Hilfe kassieren dürfen.
So ereiferte sich das Wirtschaftsmagazin Business Week 1991. Seinen Optimismus in Bezug nicht zur auf die erhofften Profite aus Argentinien, sondern auch in Bezug auf die Beendigung des alten Zyklus von Krisen und Überschuldung teilte ein Großteil der Wirtschaftsmedien und "Experten" weltweit. In internationalen Finanzkreisen, die darauf erpicht waren, ein Schnäppchen durch den Aufkauf argentinischer Unternehmen für billiges Geld zu machen, wurden diese Maßnahmen natürlich mit großer Freude aufgenommen. Aber auch Schlüsselsektoren der argentinischen herrschenden Klasse, die ihr Dasein als große Fische im kleinen argentinischen Teich gegen ein Dasein als mittelmäßige Fische in einem weltweiten See eintauschen konnten, begrüßten sie. Für eine Weile waren sogar große Teile der unteren Mittelschichten und der Arbeiter damit einverstanden, so tief war die verzweifelte Hoffnung, der Krise am Ende des Jahrzehnts endlich zu entkommen, und so groß die Illusionen in Menem als peronistischem "Arbeiterfreund". Die Reformen wurden zunächst von einer begrenzten Verbesserung der Lebenssituation einer großen Anzahl von Menschen begleitet, solange die Wirtschaft auf Wachstumskurs blieb, bis 1994. Die Durchschnittslöhne fielen nicht mehr und überschritten ihren Tiefpunkt von 1989. Ein paar Jahre lang nahm die Beschäftigtenzahl in den meisten Wirtschaftssektoren zu. Die Selbständigen und die Kleinunternehmen der Mittelschichten hatten das Gefühl, dass die Bankrottgefahr zunächst gebannt sei. Die lohnabhängigen Sektoren der Mittelschichten (genauer gesagt, die besser bezahlten Sektoren der Arbeiterklasse im Angestelltenverhältnis) konnten mit Genugtuung beobachten, wie die Schere zwischen ihren Gehältern im Vergleich zu denen der an- und ungelernten Arbeiter wuchs. Das Gefühl, zumindest das einiger Menschen, dass die Dinge sich zum Besseren wenden könnten, reichte, um Menem den Sieg bei den Präsidentschaftswahlen von 1994 und seiner Partei bei den Parlamentswahlen zur Mitte seiner Mandatszeit 1996 zu sichern. Ähnlich wie im Fall des "Thatcher-Lawson"-Aufschwungs der späten 80er Jahre, gab es gerade genug Bewegung in den Lebensbedingungen einer großen Anzahl von Menschen, um die Illusion fortdauernder Veränderung und das Geschwätz vom "Wunder" wirken zu lassen. Aber bereits 1992 waren die Rationalisierung und Neustrukturierung der Industrie voll im Gange. Bestimmte Wirtschaftszweige waren von massiver Arbeitsplatzzerstörung betroffen - ca. ein von zehn Jobs im Produktionssektor und ein von fünf in der Stromerzeugung, Gas und Wasserwirtschaft waren weggefallen. Die Arbeitslosigkeit begann steil nach oben zu schießen und erreichte 18 Prozent 1994/95. Von da an blieben die Arbeitslosenzahlen trotz der von 1995 bis 1998 wieder einsetzenden Erholung hoch. Bei aller Überschwänglichkeit für die Auswirkungen der "Reform" hielt die Financial Times 1997 fest: Das beschleunigte Wachstum hat sich nicht in einem merklichen Rückgang der Arbeitslosenrate niedergeschlagen, trotz Anzeichen, dass neue Arbeitsplätze in zunehmenden Maße entstehen. Die hohe Arbeitslosigkeit war ein Faktor hinter der Zunahme gesellschaftlicher Spannungen im Verlauf des Jahres.
Für die Masse der Arbeiter bedeutete das "Wirtschaftswunder" lediglich, dass die Reallöhne mehr oder minder auf dem gleichen, historisch tiefen Niveau pendelten, während sich ein wachsendes Heer von Menschen mit langfristiger Arbeitslosigkeit konfrontiert sah. Da das Arbeitslosengeld nur wenige Monate lang ausgezahlt wird, schlug sich das in tiefster Armut wachsender Kreise nieder. Der Augenblick der Wahrheit kam mit den Auswirkungen der Asienkrise von 1997 für Lateinamerika.
Plötzlich waren in aller Welt die Finanz- und Geschäftsleute erschrocken und in Sorge um ihre Investitionen, die sie sicher und gewinnbringend in den "aufstrebenden Märkten" angelegt glaubten - auch in Lateinamerika -, und zogen ihr Geld ab. Gerade mal zwei Jahre, nachdem Argentinien sich von der Rezession im Zusammenhang mit der Mexikokrise 1994 erholt hatte, wurde es erneut in die Rezession zurückgeworfen. Und die Kredite, von denen die Regierung und die Unternehmen abhingen, damit es überhaupt weiterging, wurden ständig teurer, da die Kreditgeber - aus- und inländische gleichermaßen - enorme Aufschläge, weit über die normalen Zinssätze hinaus, forderten.
Die Ostasienkrise von 1997 … wurde zu einer globalen Finanzkrise, so dass die Zinssätze für alle aufstrebenden Märkte einschließlich Argentiniens stiegen.
Die schon immer bestehende Wettbewerbsschwäche des argentinischen Kapitalismus gegenüber Brasilien verschlimmerte sich also noch, als Brasilien seine Währung abwertete und so seine Produkte sowohl auf den Weltmärkten, als auch in Argentinien billiger machte. Die argentinischen Unternehmen, daran gehindert erschwingliche Kredite aufzunehmen, gingen daran ihre Profite zu schützen, indem sie die Produktion drosselten und die Löhne senkten. Die Automobilproduktion sackte um 47 % in einem Jahr ab; die Anzahl der in der Textil- und Schuhindustrie Beschäftigten sank auf die Hälfte des Niveaus von 1990. Und dann begann im letzten Jahr die wirtschaftliche Krise, die von den drei Weltzentren des Hochkapitalismus (USA, Deutschland, Japan) herüberschwappte, übel zu werden. Die Arbeitslosigkeit stieg, bis sie eine Rate von 20 % erreicht hatte, und die ohnehin schon sehr niedrigen Löhne im privaten Sektor wurden um ein Fünftel abgesenkt.
Die Entlassungen und Lohnkürzungen verschärften die Krise der Klein- und Mittelbetriebe. Sie konnten einfach ihre Produkte nicht mehr verkaufen. Bis zum September 2001 war der Warenumsatz insgesamt um 8,4 % gegenüber Vorjahr gesunken, in den Kaufhäusern sogar um 21 %. Offizielle Zahlen gaben jetzt an, dass inzwischen 40 % der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebten. Dies war eine wirtschaftliche Katastrophe, die der Deutschlands und der USA in den frühen dreißiger Jahren vergleichbar war.
Der Beginn einer neuen Rezession war das Todesurteil für die Menem-Regierung. Die Wahlen von 1999 führten zu einem klaren Sieg einer Allianz, welche die Radikale Partei zusammen mit einem neuen, angeblich linken Parteienbündnis "Frepaso" bildete. Aber die neue Regierung setzte die Politik ihrer Vorgängerin fort, indem sie Mai 2000 und noch mal im folgenden Jahr Sparpakete schnürte. Der Widerstand aus der Bevölkerung zwang den Präsidenten De la Rua, das Sparpaket vom März 2001 zurückzunehmen und den Urheber Lopez Murphy zu feuern. Aber die Neoliberalen waren bald außer sich vor Freude, da De la Rua ihn durch Cavallo ersetzte. Der zurückkehrende "Wundermacher", so sagten sie, könnte abermals Argentiniens Kapitalismus aus der Bredouille holen. Es ist nun klar, das Argentinien nicht in der Lage ist, dem langsamen Fall in den Ruin mit Mitteln der herrschenden Lehre beizukommen. Da die Produktion sinkt, verschlechtert sich die Finanzlage. Das schwächt das Vertrauen, so dass die Zinssätze auf argentinische Dollaranleihen hochgeschnellt sind und jetzt um fast 20 % über denjenigen von US-Schatzbriefen liegen. Mit solchen Zinssätzen kann die Wirtschaft nur zusammenbrechen. Der nächste logische Schritt scheint eine Kombination aus Abwertung und Zahlungsunfähigkeit zu sein. Aber es wurde befürchtet, dass dies bloß eine Flucht aus der Währung auslösen und die Rückkehr sehr hoher Inflationsraten mit sich bringen würde. Blieben erhebliche Dollarverbindlichkeiten bestehen, könnte es außerdem trotzdem noch zu einer Massenpleite kommen. Eine Woche später gab ein früherer leitender Wirtschaftswissenschaftler des IWF die ketzerische Ansicht von sich, es gäbe für die Regierung keine Möglichkeit, die Defizite wie vom IWF gewünscht wegzubekommen: Eine realistische Einschätzung der wirtschaftlichen Misere … hat Auswirkungen auf die internationale Wirtschaftspolitik. In diesem Jahr wird das staatliche Defizit weit höher sein als der Zielwert von 6 Mrd. $ des IWF-Programms … das staatliche Finanzloch wird sich in diesem Jahr wahrscheinlich auf 20 Mrd. $ bis 25 Mrd. $ belaufen. Da die Wirtschaft tief in der Rezession steckt, kann der tatsächliche Finanzbedarf der Regierung für das Jahr 2002 wahrscheinlich nicht unter 12 Mrd. $ bis 15 Mrd. $ gesenkt werden.
Cavallo wollte darauf nicht hören. Er lehnte sogar Vorschläge einiger Leute aus dem IWF ab, dem brasilianischen Beispiel zu folgen und den Peso abzuwerten. Inzwischen weigerte sich der IWF selbst, irgendetwas zu unternehmen, um ihm aus der Patsche zu helfen. Die republikanische Regierung in Washington hielt Argentinien nicht für strategisch wichtig und sprach von "moralischer Gefährdung" (moral hazard), würde die Schuldenlast Argentiniens gemildert. Sie meinte sogar, dass diejenigen, die leichtsinnig genug gewesen waren Argentinien Geld zu leihen, einen Teil der Verluste selbst tragen sollten. Zweifellos wurde die US-Regierung in dieser Ansicht dadurch bestärkt, dass europäische, insbesondere spanische Unternehmen unverhältnismäßig stärker von einem argentinischen Zusammenbruch geschädigt würden als amerikanische. Und so fing der IWF an klar zu stellen, dass er die Cavallo versprochenen Finanzmittel nur freigeben würde, wenn es weitere rigorose Einschnitte gäbe. Schon waren Provinzregierungen, die ihre Beschäftigten nicht mehr mit richtigem Geld bezahlen konnten, dazu übergegangen besondere Zuteilungsscheine auszugeben, mit denen man in bestimmten Geschäften Waren eintauschen können sollte. Der Aufstand vom 19. und 20. Dezember war "spontan" in dem Sinne, dass keine einzelne Organisation dazu aufgerufen hatte und keine einzelne politische Kraft seine Entwicklung leitete. Man fühlte sich an das Frankreich des 14. Julis 1789 und des Februars 1848 erinnert, an Russland Februar 1917, an Deutschland November 1918, Ungarn Oktober 1956, und wieder an Frankreich Mai 1968 und - jüngere Ereignisse - an Rumänien Dezember 1989, Albanien 1997 und an Serbien 1998 und 2000. Bei all diesen Ereignissen verschmolz der Zorn von Myriaden verschiedener Gruppen mit ihren eigenen besonderen Sorgen plötzlich zu einer explosiven Kraft, der die etablierten Herrscher nicht standhalten konnten. Einige der Herrschenden rannten um ihr Leben. Andere neigten sich vor der Macht der wütenden Bewegung, um zu versuchen zu einem späteren Zeitpunkt wieder die volle Kontrolle zurück zu gewinnen.
Berichte über den Aufstand in Argentinien erzählen, wie er verschiedene Ursprünge hatte. Da waren die hungrigen Menschen, die sich vor den Supermärkten versammelten und Lebensmittel forderten, und die dazu übergingen Banken anzugreifen und zu plündern, als sie sie nicht bekamen. Da waren die Menschen, die anfingen, sich in den Stadtbezirken (Barrios) zu sammeln und im Zorn auf den Corralito auf ihre Kochtöpfe (Cacerolas) trommelten und sodann in das Stadtzentrum zogen. Es gab die jungen Leute, die herbeiströmten, um sich der Mobilisierung anzuschließen, als diese einmal im Gange war. Es gab die Madres de la Plaza de Mayo, Frauen, die jeden Donnerstag gegen das "Verschwinden" ihrer Kinder und Ehemänner während des "schmutzigen Kriegs" der Junta protestierten. Aber als diese Gruppen einmal zusammengekommen waren und Widerstand leisteten, obwohl die Polizei 23 Menschen in Buenos Aires (und weitere zwanzig im Land) tötete, um so Cavallo zum Rücktritt und den Präsidenten De la Rua zur Flucht zu zwingen, da gab es dieses gemeinsame Bewusstsein des Cacerolazos ("Kochtopfprotest"), das die Einzelinteressen der verschiedenen Gruppen aufhob (im Hegelschen Sinne). So kam es, dass sie neun Tage später wieder auf der Straße waren. Diesmal richtete sich ihre Wut gegen den Nachfolger Rodriguez Saá, und sie drangen ins Abgeordnetenhaus ein, um seinen Rücktritt zu erzwingen. Und drei Wochen später konnte die führende Zeitung Pagina 12 über eine neue Welle des Protests als über "das Gespenst, das Schrecken im Rosa Haus (im Präsidentenpalast) verbreitet", berichten. Der Cacerolazo begann an vielen Punkten in der Stadt und nahm an Zahl und Stärke zu. In dem Barrio Norte nahm er seinen Anfang auf den Balkonen und in den Hauseingängen unter begeistertem Hupen der Autos. Noch wurde nicht gesungen, und keine Fahnen waren zu sehen, und niemand hatte die Strasse gesperrt, aber der Lärm war schon ohrenbetäubend. Um neun Uhr abends, im Belgranoviertel, kamen sie aus ihren Häusern auf die Straße. Eine Gruppe schlug auf Metall und sang … eine andere Gruppe begann in Cabildo und Juramento immer mehr zu wachsen. In San Cristobal, einem Viertel, das bei früheren Cacerolazos sehr aktiv gewesen war, versammelten sich die Menschen in San Juan und La Rioja. Um ein Uhr mittags begann eine Menschenmenge sich vor dem Abgeordnetenhaus zusammen zu ballen. Zunächst kamen einige Dutzend, dann einige Hundert und schließlich immer größere Gruppen aus anderen Stadtvierteln Straßen entlang, die völlig gesperrt waren. Als eine kritische Masse erreicht worden war, formierte sich eine Marschkolonne, die sich hinunter zur Plaza de Mayo bewegte.
Das Ziel der Protestierenden war es, eine Änderung der Regierungspolitik herbeizuführen - oder sogar einen Wechsel der Regierung, wie sie es am 20. und 29. Dezember erreicht hatten. Und als sie nicht gleich Erfolg hatten, versuchten die jüngeren und ärmeren Teile der Menge sich zum Abgeordnetenhaus durchzukämpfen, was zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei führte.
Dieses Muster sich wiederholender Straßenkämpfe erinnert an die für die große Französische Revolution von 1789/94 charakteristischen "Journées": Tage, an denen die Bevölkerung der ärmeren Viertel von Paris von den Straßen zu den Machtsymbolen im Zentrum ausschwärmte. Ein Aufstand des einundzwanzigsten Jahrhunderts übernahm seine Form von der Urrevolution des achtzehnten Jahrhunderts!
Nach den ersten erfolgreichen spontanen Aufständen erkannten die Leute die Notwendigkeit sich zu organisieren. Teile der Medien versuchten den Eindruck zu erwecken, alles sei vorüber und behaupteten, alle wären an die Strände gegangen (auf der Südhalbkugel war Hochsommer). Andere erzählten Gräuelmärchen über die Mittelschichten, die in der Angst vor einem Mob der Armen lebten, der in ihre Häuser eindränge und ihr Eigentum stehle (das erinnert an "La Grande Peur", "die Große Angst", der Französischen Revolution). Und einige der ganz mächtigen Gewerkschaftsführer brachten ihren Einfluss auf Seiten der Regierung zur Geltung und versuchten die Proteste zu isolieren. Inzwischen führte es zu echten Problemen, sich einfach nur auf spontane Aktionen zu verlassen. In einigen Fällen griffen Arbeitslose und hungrige Arme nicht nur die großen Supermärkte und die Agrokonzerne an, sondern auch kleine Ladeninhaber und Straßenhändler, die fast so arm wie sie selber waren; dies drohte letztere in die Arme der Regierung zu treiben. Die jungen Leute, die die Hauptlast des Kampfes mit der Polizei trugen, konnten leicht von der Masse der Demonstranten isoliert werden, was es den staatlichen Geheimdiensten leichter machte, sich in Provokationen zu betätigen, die Unterdrückungsmaßnahmen rechtfertigen sollten. Schließlich mussten noch Peronistische Führer daran gehindert werden, zu einem alten Trick zu greifen, das heißt, Mobs von "Lumpenproletariern" zu organisieren, die für dreißig bis fünfzig Peso am Tag die Protestierenden angreifen würden. Sie sind Bewohner von San Christóbal. ‚In den letzten Wochen schwankten wir zwischen Begeisterung und Angst', sagen sie. ‚Wir haben Dinge getan, an die wir nie jemals auch nur gedacht haben, und wir wissen immer noch nicht, was wir noch alles tun werden müssen.' Sie trafen sich an der Ecke von Las Rioja und San Juan für die Proteste gegen De La Rua und marschierten zum Abgeordnetenhaus, und am nächsten Tag kamen sie wieder zusammen, um die Unterdrückung anzuklagen. Als die gesetzgebende Versammlung Duhalde ernannte, veranstalteten sie einen weiteren Cacerolazo. An diesem Sonntag folgten 150 Leute dem Aufruf zu einer Versammlung auf dem Platz Martin Ferro und organisierten spontan eine Versammlung. Inzwischen haben sie sich für eine festere Organisationsform entschieden ‚ohne die Parteien'. Unter ihnen war "ein Priester, mehrere Hausfrauen, zwei Mitglieder der kommunistischen Partei, ein Mitglied der Arbeiterpartei, ein Barbesitzer, ein halbes Dutzend Arbeitsloser … der örtliche Vorsitzende der peronistischen Partei, verschiedene Sozialarbeiter, Studenten und eine Gruppe Arbeiter von einem nahen Krankenhaus." "Wir stellen eine Liste aller Arbeitslosen des Viertels auf", meinte einer. Andere erzählen: "Wir kümmern uns um die Sicherheit, denn auf dem letzten Cacerolazo waren ein paar Unbekannte", und "Wir rufen zu einem neuen Cacerolazo auf gegen die steigenden Preise". Bald sprossen Versammlungen wie diese überall im Großraum Buenos Aires und in Dutzenden Provinzzentren aus dem Boden. Ein Journalist beschrieb eine Versammlung in einem wohlhabenden Viertel für die französische Zeitung Libération und gab so ein Gefühl für die Stimmung in diesen Versammlungen: Es ist elf Uhr abends auf der Straßenkreuzung der Avenuen Cabildo und Congreso. Mit einem Lautsprecher in der Hand versucht ein etwa dreißigjähriger Mann etwas Ordnung herzustellen. ‚Wir wollen zu einer Abstimmung kommen über die Gedanken, die heute Abend formuliert worden sind', als da waren: Keine Zurückzahlung der ausländischen Schulden und Überprüfung ihrer Rechtmäßigkeit; Verstaatlichung der Banken; Überprüfung der Verbindungen zu den ausländischen Unternehmen, die die öffentlichen Dienste übernommen haben und deren unverschämtes Verhalten alle empört hat. An diesem Montag dauerte die Versammlung drei Stunden. Zwanzig Menschen hatten gesprochen. Ein Vorsitzender hatte versucht, die Redezeit auf zwei Minuten zu beschränken, aber die meisten überschritten die Zeit. Sie sind keine Aktivisten irgendeiner Partei. Sie sind mit einem einzigen Transparent erschienen, mit dem sie den Verkehr gestoppt haben: "Die Assemblia Popular des Belgranobezirks". Einen Monat lang hat sich diese Szene jeden Abend wiederholt, von Montag bis Samstag, mal in diesem mal in jenem Stadtbezirk. Und am Sonntag sind ungefähr 5000 Leute im Centenario-Park bei der Hauptversammlung, zu der Leute aus der ganzen Stadt zusammen kommen. Aus diesen Assemblias heraus wurde der erste landesweite Cacerolazo geboren, der Zehntausende Leute auf die Straßen aller großen Städte brachte.
Ein Journalist der linken mexikanischen Tageszeitung La Jornada malt ein ähnliches Bild: Ein Teilnehmer einer der Stadtversammlungen im Centenario-Park erzählt folgendes:
Zu den Forderungen gehörte: Keine Zurückzahlung der Auslandsschulden; Verstaatlichung der privatisierten Banken unter der Kontrolle der Arbeiter und Nachbarschaftskomitees; Bestrafung der für die Repressalien vom 19. und 20. Dezember Verantwortlichen; Aufstellung von Sicherheitsausschüssen auf Bezirks- und Stadtebene, um Polizeiprovokationen bei Versammlungen und Demonstrationen zu begegnen; Unterstützung der arbeitslosen Piqueteros; Einberufung einer Nationalversammlung der Piquetero-Organisationen und der Assemblias; Unterstützung des Kampfes der Eisenbahn-, Telekommunikations- und Textilarbeiter und Kritik des Verhaltens der Gewerkschaftsführer, die diese Kämpfe nicht unterstützten. Der Peronismus beherrschte die argentinische Arbeiterbewegung über ein halbes Jahrhundert lang nach 1945, ganz so wie der Labourismus die britische Arbeiterbewegung beherrschte. Das war nicht immer der Fall gewesen. Zur Zeit der Semana Tragica 1919 gab es mächtige anarchistische, syndikalistische und reformsozialistische Flügel, und ab Beginn der 1920er Jahre bis in die 1940er Jahre hinein war der Kommunismus eine bedeutsame Kraft. Von da an aber dominierte der Peronismus.
Perons Formel hatte bereits an Glanz verloren, als ihn das Militär 1955 vor dem Hintergrund eines fallenden Lebensstandards der Arbeiterklasse schasste. Die Angriffe auf Arbeiterorganisationen seitens nicht-peronistischer Regierungen in den darauf folgenden 17 Jahren stärkten jedoch seinen Einfluss. Die Peron-Zeit erschien als goldenes Zeitalter im Vergleich zu den Zeiten danach. Das Image des Peronismus als politische Kraft der Arbeiterklasse wurde noch dadurch verstärkt, dass die Gewerkschaftsbürokratie den Kern des organisierten Peronismus in diesen 17 Jahren des Verbots der peronistischen Partei bildete. Für die überwiegende Mehrheit der argentinischen Arbeiter war der Peronismus die Arbeiterbewegung in jenen Jahren. Die Mehrzahl der Kämpfe, die sie unter den sich abwechselnden Militär- und zivilen Regierungen verfochten, wurden unter seinem Banner verfochten. In diesem Augenblick glaubte die große Mehrheit der Arbeiter, dass der Peronismus an der Macht eine Rückkehr zu jener Epoche einleiten würde, als die Arbeiter 47 Prozent des Volkseinkommens erhielten und einen Job und einen Lohn haben konnten, die ihnen ermöglichten zu leben... Sogar die militantesten Sektoren in den Werften verloren nicht alle ihren Illusionen in die bürgerlichen Parteien, in die Gewerkschaftshierarchie und in die Gesetze und die Gerechtigkeit der Unternehmer.
Diese Illusionen ermöglichten es Menem und Cavallo, ihre Privatisierungs- und Restrukturierungspläne ohne koordinierten Widerstand durchzupauken. Es gab Ausbrüche der Erbitterung mit Streiks und Besetzungen wegen Fabrikschließungen und Entlassungen. Es waren aber in der Regel isolierte Ausbrüche, gefolgt von Niederlagen und Demoralisierung. Die ganze Zeit hielt der Druck auf die Arbeiter an, härter zu schuften, wobei das Management offen damit drohte, den Betrieb zu schließen, falls sie nicht spurten. Unter solchen Umständen hatten die angebotenen Abfindungen eine ähnliche Wirkung wie beispielsweise in den 1980er in England. Viele Arbeiter, die keine Hoffnung hatten, die Jobs der gesamten Belegschaft durch kollektiven Kampf zu retten, entschieden sich für das Lockangebot.
In einer berühmten Textstelle stellte Lenin die These auf, dass es für das Vorhandensein einer revolutionären Situation nicht ausreiche, dass die ausgebeutete Klasse die Verhältnisse für unerträglich hält. Auch die herrschende Klasse müsse zu dem Ergebnis kommen, dass es nicht wie bisher weitergehen könne. Dies erzeugt tiefe lähmende Spaltungen innerhalb dieser Klasse, und so wird die ganze Gesellschaft in Aufruhr gestürzt, und die ausgebeutete Klasse wird angespornt, ihrem Ärger Ausdruck zu verleihen. Jeden Tag gewinnt die Bewegung der Volksversammlungen, der Assemblias, mehr an Stärke. Die offenen Treffen, die Assemblias in den Vierteln und die branchenübergreifenden Versammlungen haben sich auf fast alle Provinzhauptstädte ausgeweitet und fangen an, dank der Maßnahmen der Piqueteros (Straßenblockierer), weite Bereiche des Ballungsraumes von Buenos Aires zu erfassen (vor allem die an die Hauptstadt angrenzenden Gebiete, wie z. B. Matanza, Valentin Alsina und Tres de Febrero, die Hochburgen des Duhaldeapparates gewesen waren). Dies macht, wie man sich vorstellen kann, den Parteiapparat der Justizpartei in Buenos Aires sehr besorgt. Auf der letzten Demonstration konnte man sehen, wie die Assemblias daran gingen, sich mit der Bewegung der Straßenblockierer, der Piqueteros, zu vereinigen; sie riefen die gleichen Parolen ("Piquete y cacerola, Blockade und Töpfeklopfen, der Kampf ist der gleiche!", "Arbeit für alle!", "Verjagt sie alle, keiner darf bleiben!") und marschierten gemeinsam zur Plaza de Mayo. Quo vadis Argentinia?
Die wirtschaftliche und politische Instabilität Argentiniens macht es unmöglich, vorherzusagen, was als nächstes passiert. Die Regierung versucht verzweifelt, die Proteste der Töpfeklopfer, der Cacerolazos, klein zu kriegen, indem sie versucht, Teile der Mittelklasse von der Bewegung der Armen und Arbeitslosen abzubringen. Sie hofft auch verzweifelt, dass die bürokratischen Führungen der beiden CGT-Gewerkschaften es verhindern können, dass ganze Belegschaften der nichtarbeitslosen Arbeiter in diese Bewegungen hineingezogen werden. Dies ist der Geist, der hinter ihren verschiedenen "volkstümlichen" Versprechungen steckt. Sie zielen darauf ab, eine Lage zu schaffen, in der die Staatsmacht gegen die Bewegung auf der Straße entfesselt werden kann. Rassismus hat erkennbar zugenommen. Witze, Bemerkungen und Diskriminierung richten sich oft gegen neue Einwanderer aus Nachbarstaaten und aus Südkorea. Dieser Rassismus drückt sich oft in Vorstellungen aus, wonach Chiloten (Chilenen) und Boliguayos (Bolivier und Paraguayer) faule, rückständige, diebische Leute sind, die gekommen sind, um den Argentiniern die Arbeitsplätze wegzunehmen… Neue Untersuchungen zeigen, dass - Rassismus - während der letzten zehn Jahre zugenommen hat.
Das Erstarken der Kämpfe hat für den Augenblick die Stimmen dieser rassistischen und nationalistischen Demagogen zum Verstummen gebracht, die gerne versuchen würden, aus solchen Gefühlen politischen Honig zu saugen. Bemerkenswerterweise bringen die Beschlüsse der Assemblias ihre Solidarität mit den Einwanderungsgruppen zum Ausdruck. Aber es gibt wohl die Gefahr, dass Rassisten und rechte Nationalisten erneut Gehör finden, wenn es der Massenaktion der Cacerolazos und der Piqueteros nicht gelingt, mit der furchtbaren Armut, in der etwa die Hälfte der Bevölkerung lebt, fertig zu werden. Übersetzung von David Paenson, Tim Vanhoof, Thomas Walter
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