Sozialismus von unten
Magazin für antikapitalistische
Debatte & Kritik

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"Wenn die andere Seite den Einsatz erhöht,
müssen wir den Einsatz auch erhöhen"


Lindsey German

In einer bestimmten Phase jeder Befreiungsbewegung müssen jene, die in unserer Gesellschaft die Macht verwalten, versuchen, die Bewegung mit dieser Macht zu zerbrechen. Manchmal sind sie erfolgreich, und die Drohung mit Gewalt, Gefängnis oder sogar dem Tod spaltet die Bewegung und isoliert sie. Aber zu anderen Zeiten scheint es, als ob nichts die Bewegung aufhalten könne. Die Repression ruft Angst, Wut und Verwirrung bei den AktivistInnen hervor, aber mehr als das bestätigt sie das Gefühl, dass sie im Recht sind und sich weiterhin organisieren müssen.

Dies trifft mit Sicherheit auf die Wochen vor dem 21.Juli in Genua zu. Die Demonstranten wurden mit allen Arten von Hindernissen und Drohungen konfrontiert. Verkehrsverbindungen wurden geschlossen, und das gesamte Stadtzentrum von Genua wurde in eine extraterritoriale Kampfzone verwandelt. Die örtlichen Polizeikräfte wurden um das Zehnfache verstärkt. Das Ergebnis war ein Toter, viele brutal Verprügelte und Verwundete und hunderte Inhaftierte. Aber die Polizeiaktionen waren nur Teil einer zunehmenden Repression, die mit dem Wachstum der anti-kapitalistischen Bewegung einhergeht. Genua war die größte und blutigste Konfrontation, aber es ist klar, dass unsere Regierungen international vereinbart hatten, der Bewegung entgegenzutreten. Freiheitsbeschränkungen und Polizeibrutalität folgten überall -zuletzt in Götheborg- als Antwort auf die wachsende Flut von Demonstrationen seit Seattle vor fast zwei Jahren.

Welche Reaktionen hat es auf diese Entwicklungen gegeben? Es ist keine Frage, dass die Erschießung Carlo Giulianis am Freitag der Mobilisierung für die Massendemonstration in Genua am Samstag alles andere als geschadet hat -tatsächlich war das genaue Gegenteil der Fall. Die Demo war mit 300.000, größtenteils italienischen Beteiligten viermal so groß wie Seattle. Andere Protestdemonstrationen gegen die Repression und den Tod Giulianis zogen Zehntausende in Städten quer durch Italien an. Im Gespräch ist eine Massendemonstration in Rom im November.

Aber nicht alle haben so reagiert. Viele, die in den letzten Jahren an der anti-kapitalistischen Bewegung gearbeitet haben, waren erschüttert von den jüngsten Ereignissen und haben sich von ihren früheren Positionen zurückgezogen. Susan George berichtet von ihren Sorgen, Menschen auf Demonstrationen zu schicken, wo sie Leib und Leben riskieren. Drop the Debt zog sich am Vorabend von der Samstagsdemonstration zurück, weil man Gewaltausbrüche befürchtete. Sogar die Tute Bianche sind verstört, weil sie an dem Tag nicht durchbrechen konnten. Hinter all diesen Problemen liegt das Unverständnis verschiedener Gruppen, was die Entwicklung und Veränderung der Bewegung angeht. Die Gefahr besteht nun, dass einige AktivistInnen alte Taktiken aufgeben, ohne sie durch neue zu ersetzen.

Aber noch jede Bewegung ist irgendwann auf solche Hindernisse gestoßen. Die schwarze Bürgerrechtsbewegung in den USA der 60'er Jahre hatte sich der Gewaltfreiheit verschrieben. Aber sie traf auf scharfe Repression, Gewalt und Rassismus. Diese hätten sie erdrücken können, aber stattdessen fuhr die Bewegung fort und radikalisierte sich, bis in den späten 60'ern einige Schwarze das ganze System in Frage stellten und Zugeständnisse, die noch ein paar Jahre vorher die Bewegung befriedet hätten, niemandem mehr genügten.

Wir müssen diese Lehren heute wieder lernen. Gewaltfreie direkte Aktion kann sehr effektiv sein. Aber wenn die andere Seite den Einsatz erhöht -indem sie z.B. wie in Genua scharfe Munition einsetzt- dann müssen wir den Einsatz auch erhöhen. Ein Weg, dies zu tun, scheint, dass wir uns stärker militarisieren und besser ausrüsten -eine verständliche Reaktion, aber letztlich eine ausweglose, sobald nämlich eine kapitalistische Macht ihre ganze Staatsmaschinerie zum Einsatz bringt. Eine andere Reaktion ist der Rückzug und die Vermeidung von Konfrontationen -aber das bedeutet, die Straße den Mächtigen zu überlassen, statt sie im Protest einzunehmen. Die dritte Antwort lautet, die Mobilisierung zu verbreitern und zu vertiefen. Das kann zwei positive Auswirkungen haben: zum einen können wir auf die Weise so viele Menschen auf die Straße bringen, dass es unmöglich wird, gegen sie alle vorzugehen. Am 21. Juli bedeutete die große Zahl der Demonstranten, dass viele friedlich und erfolgreich protestieren konnten -obwohl die Polizei an einer Minderheit grausame Rache nahm für die Größe und den Erfolg der Demonstration. Der andere Effekt wäre, dass die Staatsgewalt mit einer alternativen Macht konfrontiert würde. Dazu müssen wir uns der Macht der organisierten Arbeiterschaft zuwenden. Es gibt zwei hauptsächliche Machtzentren in der kapitalistischen Gesellschaft: das Waffen- und Gewaltmonopol von Polizei und Armee, und die Kontrolle über die Arbeitsplätze, wo der Wohlstand produziert wird. Beide befinden sich gegenwärtig in den Händen der herrschenden Klasse. Aber Arbeiter können diese Macht herausfordern, indem sie sich dort, wo sie arbeiten, kollektiv organisieren und so anfangen, Macht von der Kapitalistenklasse zurückzuerobern.

Deshalb ist das internationale Wiedererstarken der Arbeiterbewegung seit Genua so wichtig. Die entscheidende Aufgabe ist es jetzt, die Verbindungen zwischen der Bewegung der Arbeiterklasse und den anderen Protesten zu stärken.
Das WTO-Treffen in Qatar sollte in jedem Land mit riesigen Demonstrationen begrüßt werden, und überall, wo sie Erfolg versprechen, mit Arbeitsniederlegungen in Unternehmen, Universitäten und Schulen. Wir müssen die Strategie der Bewegung jetzt gezielt auf Aktionen in der Industrie ausrichten. Unser Motto muss werden: "Wenn sie eine Stadt mit Gewalt dicht machen, machen wir dasselbe mit Streiks."

Aber was noch viel wichtiger ist: Wir müssen die Bewegung nach hause bringen, von einer großen Demo zu vielen tausend kleineren Protesten und Kampagnen, die in jedem Land zu einem Crescendo anschwellen können und unseren Machthabern klar machen, dass Genua den Wendepunkt hin zu einer viel größeren Bewegung markierte, vor der sie sich nicht verstecken können.

Lindsey German ist Herausgeberin des Socialist Review und Mitglied der britischen Socialist Workers Party




Sozialismus von unten, Nr. 7, Herbst/Winter 2001