Sozialismus von unten
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Debatte & Kritik

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Nr. 6, Frühjahr 2001

[Inhaltsverzeichnis SVU Nr.6]


Der Aufstand der Zapatistas gegen Neoliberalismus:

Vom Urwald in die Stadt

"Ihr seid nicht allein! Wir sind Ihr!": So empfingen Tausende die Zapatisten auf ihrem Marsch vom Lakandonischen Urwald nach Mexiko-Stadt im März 2001. Die Zapatisten wurden durch ihren Aufstand 1994 weltweit ein Symbol des Widerstands gegen neoliberale Politik. Lucia Schnell war im März in Mexiko. Sie berichtet von der "Zapatour" und erzählt die Geschichte der Bewegung.

Die Zapatour

Mit ihrem dreiwöchigen "Marsch für die indigene Würde" verlassen die Kommandanten der EZLN zum ersten Mal seit dem Aufstand die durch die Armee belagerten Gebiete im Bundesstaat Chiapas. Auf ihrer Tour halten sie täglich Kundgebungen in verschiedenen Städten, auf denen sich Tausende mit den Forderungen der EZLN an Regierung und Parlament solidarisieren. Die EZLN fordert vor allem die Umsetzung des schon 1996 unterschriebenen Abkommens von San Andrés über die Kultur und die Rechte der indigenen Bevölkerung, d. h. die Anerkennung der ca. 10 Millionen Indigenen in der mexikanischen Verfassung und die Gewährung einer gewissen Autonomie in bezug auf Land und Eigenverwaltung. Dies, die Freilassung der zapatistischen Gefangenen und die Schließung einiger Militärposten, sind die Bedingungen für einen neuen Dialog mit der Regierung.

Die EZLN setzt den Präsidenten Vicente Fox so stark unter Druck, daß er die Kommandanten in der Haupstadt willkommen heißt und die Sicherheitskosten des Marsches übernimmt, während seine Parteikollegen die EZLN als kriminelle Guerilleros bezeichnen. 70 % der Bevölkerung in Mexiko-Stadt sprechen sich für die Erfüllung der zapatistischen Forderungen aus, und auch der Nationale Kongreß der Indigenen Völker beschloß, sich hinter die Zapatisten zu stellen, was bisher noch nicht der Fall war.

Ausbeutung

Doch Fox und seine Klientel, die mexikanische Unternehmer- und Großgrundbesitzerklasse, blockieren die Umsetzung der Minimalforderung von San Andrés, die den indigenen Gemeinden eine gewisse Autonomie über ihr Land geben würde. Denn diese stellt die Freiheiten des Kapitals, überall zu investieren und auszubeuten, in Frage und steht im Gegensatz zu den neoliberalen Projekten der Regierung wie dem Plan Puebla-Panama, der die Ausbeutung von Bodenschätzen, Mineralien und Erdöl in ganz Mittelamerika, erleichtern soll: Vor allem die an Chiapas angrenzende Landenge (Isthmus) von Tehuantepec soll eine Verkehrs- und Produktionsschneise als Billiglohnzone, d. h. als logistische Alternative zum veralteten Panama- Kanal werden. Für dieses Megaprojekt müßten Hunderttausende umgesiedelt werden. Marcos dazu: "Der Isthmus ist nicht zu verkaufen!"

Auch die Erweiterung der NAFTA zur FTAA (Free Trade Area of the Americas, dt.: gesamtamerikanische Freihandelszone), wird die Lebensbedingungen für die durchschnittlichen Mexikaner noch verschlechtern und die Macht der Konzerne vergrößern. Damit setzt sich die neoliberale Politik von Privatisierungen, Senkung von Umweltstandards und Arbeiterrechten fort, die durch die IWF-Programme 1982 begann.

Die allgemeinen Reformen, Gesundheit, Bildung, Land, Arbeit, die die Zapatisten fordern, passen nicht in dieses Konzept. Es wird sogar vermutet, daß die USA im Gegenzug für ihre Milliardenkredite in der Pesokrise 1994 eine militärische Offensive gegen die Zapatisten sehen wollte: die Februaroffensive von 1995. Die EZLN ist ein Hinderniß für die Globalisierer. Deshalb erfüllte die Regierung trotz des Marsches auch diesmal nicht die zapatistischen Bedingungen für den Dialog. Doch die Zapatisten werden nicht aufgeben. Sie brachten mit ihrem Aufstand gegen die NAFTA eine Bewegung mit ins Rollen, die sowohl in Seattle im November 1999 gegen die WTO als auch im April 2001 gegen die FTAA in Québec (Kanada) die Herrschenden auf dem Kontinent ins Schwitzen bringt.

"Es gibt nichts als Nummern. Sie markieren uns mit einer Nummer. Als Kinder sind wir eine Nummer in der Schule, später werden wir eine in der Umfrage, bei der Wahl, in der Armutsstatistik, in der Analphabetenrate, im Prozentsatz von Unfällen, eine Nummer in der Statistik von heilbaren Krankheiten, von Kaufgewohnheiten, von Radiohörern, von Fernsehern, von zufriedenen Konsumenten des Waschmittels "Migaja", das alles reinigt außer dem Gewissen... Nein, wir sind keine Nummern! Brüder und Schwestern der UNAM! Wir möchten Euch um etwas bitten: daß Ihr studiert und kämpft, [...] daß Ihr nicht aufhört ein Morgen, was als solches entweder kollektiv oder nicht sein wird, zu suchen und zu finden." Diese Sätze sagt Marcos, der Subcomandante der EZLN, der zapatistischen Armee der nationalen Befreiung, vor 60.000 Studierenden an der UNAM, der größten Universität Mexikos am 21. März 2001, während des Marsches der Zapatisten für indigene Würde (siehe Kasten).

Die Zapatisten brachten durch ihren Aufstand vor sieben Jahren in Chiapas Widerstand gegen Neoliberalismus auf die Tagesordnung und haben seitdem viele Menschen weltweit in ihrem Kampf inspiriert. Sie wählten den 1. 1. 1994, den Tag des Inkrafttretens des Nordamerikanischen Freihandelsabkommen NAFTA, an dem die Herrschenden den sogenannten Eintritt Mexikos in die "Erste Welt" feiern und damit die Existenz von 40 Millionen Mexikanern unter der Armutsgrenze verschweigen wollten. Mitten in den Pessismus der Linken und alle Theorien vom "Ende der Geschichte" nach dem Mauerfall katapultierte die EZLN ihren Widerstand: "Uns wurde die grundlegendste Bildung verweigert, um uns als Kanonenfutter zu gebrauchen und die Reichtümer aus unserem Land zu holen, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, daß wir hier vor Hunger und aufgrund heilbarer Krankheiten sterben, daß wir nichts haben, gar nichts, kein würdiges Dach, kein Land, keine Arbeit, keine Gesundheit, keine Bildung; ohne Recht, unsere Gemeindeverwaltung frei und demokratisch zu wählen, ohne Unabhängigkeit von Fremden, ohne Frieden und Gerechtigkeit für uns und unsere Kinder. Aber heute sagen wir Basta! Es reicht!"

Eigentlich hat Chiapas, der ärmste Bundesstaat Mexikos, riesige Reichtümer: Die zweitwichtigste Erdölförderung Mexikos, 40 % der mexikanischen Elektrizität und Kaffee- und Viehproduktion für den Export. Doch ein Drittel der Gemeinden haben keinen Strom, obwohl sogar Strom nach Kalifornien während der dortigen Ausfälle exportiert wurde. Besonders schlimm ist die Armut unter der indigenen Bevölkerung: Zwei Drittel sind unterernährt, die Hälfte sind Analphabeten. Die EZLN entstand als Selbstverteidigungsguerilla der indigenen Bauern gegen die Großgrundbesitzer, zumeist deutsche Kaffeeplantagenbesitzer.

Umzingelung

Seit dem Aufstand setzt die Regierung auf die Zermürbungsstrategie: sie führt einen "Krieg niedriger Intensität"; 50.000 Soldaten formieren einen Belagerungsring um die zapatistischen Gemeinden, die "befreiten Gebiete". Zum anderen versuchte sie, durch Verhandlungen die Bewegung zu vereinnahmen. Die EZLN brach die Verhandlungen schließlich ab, da die Kompromisse niemals umgesetzt wurden und der Terror der Armee weiterging. Weil die EZLN den Belagerungsring des Staates militärisch nie durchbrechen kann und ständig der Gefahr der Vernichtung ausgesetzt ist, braucht sie die Solidarität der mexikanischen Bevölkerung und der Weltöffentlichkeit. Um dies zu organisieren, führen sie einen politischen Kampf und setzen auf Massenbewegung von unten; insofern grenzen sie sich ab von der klassischen Guerillataktik und elitärem Terrorismus: "Unsere Waffe ist das Wort."

Vom lakandonischen Urwald aus wenden sie sich in ihren Botschaften "an die Menschheit" oder den "Planeten Erde" und greifen den "neuen Weltkrieg des Neoliberalismus" scharf an: "Die Werte des Marktes beanspruchen heute allgemeine Geltung. Sie beherrschen nicht mehr nur die Arbeit der Regierungen, sondern auch die Funktionsweise der Medien, der Schule, ja der Familie. Einen Platz in der Gesellschaft hat heute nur noch, wer verwertbar ist und Kaufkraft besitzt. Damit eliminieren die Marktkriterien jenen Teil der Menschheit, der sich als nicht rentabel erweist." Die EZLN als eine radikale Minderheit steht in ständiger Kommunikation mit der mexikanischen Bevölkerung durch ihre regelmäßigen Botschaften und Erklärungen. Mehrmals haben sie Umfragen durchgeführt: 1995 sprachen sich in einer von der EZLN organisierten Umfrage 1,2 Millionen Mexikaner aus für die Gründung eines landesweiten zivilen, unabhängigen politischen Forums, die EZLN, die Zapatistische Front der Nationalen Befreiung. 1999 organisierten sie die "Nationale Befragung gegen den Ausrottungsfeldzug": 5.000 zapatistische Delegierte bereisten ganz Mexiko und sprachen 64 Millionen Landsleute und mehr als 1.000 Organisationen an, 120.000 Personen waren mit der Organisation und Durchführung der Befragung beschäftigt, 2,8 Millionen Mexikaner stimmten mit "Ja" auf Fragen zu indigenen Rechte und gegen den Krieg. Außerdem organisierten die Zapatisten verschiedene Treffen, unter anderem das "Intergalaktische Treffen gegen Neoliberalismus und für die Menschheit" mit 3000 Teilnehmern aus 54 Ländern.

Obwohl die Forderungen der Zapatisten hauptsächlich auf die mexikanische Politik abzielen, etwa die Rechte der indigenen Bevölkerung, stellen sie ihre Probleme in Zusammenhang mit anderen Unterdrückten auf der ganzen Welt. Ihre einfache und bildliche Sprache macht Identifikation möglich, zumal sie die unmittelbaren lokalen Probleme verknüpfen mit allgemeinen Tendenzen. "Unten sind wir, die wir die Farbe der Erde haben, der Indigene, der Arbeiter, der Bauer, der Angestellte, der Lehrer, der Student, die Hausangestellte, der Slumbewohner, der Intellektuelle, der Künstler, der Religiöse, der Homosexuelle, die lesbische Frau, der Arbeitslose, der Jugendliche, der Mann, die Frau, der Alte, das Kind."

Der Marsch der 24 Kommandanten der EZLN durch ganz Mexiko stellt eine neue Qualität der Offensive dar nach monatelangem Schweigen und Schwierigkeiten durch Terror der Armee und Stagnation der Bewegung. Er endete in Mexiko-Stadt, dem Zentrum der Macht, über 1000 km von Chiapas entfernt.

Mexiko-Stadt

Der Brückenschlag zur einfachen Bevölkerung hat sich gelohnt: Die Zapatisten wurden jubelnd von der Bevölkerung empfangen, über 200.000 drängten sich zur Kundgebung der EZLN. Die Hauptstadt hat mit umgebenden Slums um die 30 Millionen Einwohner, 50 % der Produktion des Landes findet dort statt. Sie ist eine Stadt der Gegensätze: Über 60 Jahre lang hat sich eine Partei an der Macht gehalten. 1968 hatte diese Partei (PRI) im Vorfeld der Olympiade eine riesige Bewegung für demokratische Rechte und soziales Elend niederschlagen lassen. Hunderte Studierende kamen bei dem Massaker im Oktober 1968 um. Letztes Jahr gab es den größten Uni-Streik seitdem. Die mit 200.000 Studierenden größte Universität Lateinamerikas wurde von April 1999 bis zur brutalen Räumung durch die Polizei im Februar 2000 besetzt, um gegen Studiengebühren zu protestieren. Viele der Streikaktivisten waren schon vorher vom "Zapatismus" infiziert. Seit dem Streik existieren an der Uni verschiedene politische, mehr oder weniger revolutionäre Zusammenhängen, die auch die weltweiten antikapitalistischen Ereignisse wie die Proteste gegen den IWF in Prag lebhaft diskutieren. Zeitgleich zu der WTO-Blockade in Seattle gab es eine riesige Soli-Demo der Studis vor der US-Botschaft.

Aber auch die Arbeiterbewegung hat sich in den 90ern radikalisiert. Dazu trug die Peso-Abwertung vom Dezember 1994 bei, die schwerste Krise seit den 1930er Jahren. Der Wert des Peso halbierte sich und damit auch die Sparguthaben. Als die staatlich kontrollierten Gewerkschaften deshalb aus Angst die traditionelle Demonstration am 1. Mai 1995 absagen wollten, koordinierten Gewerkschafter von unten ein Bündnis, das 200.000 Arbeiter auf die Straße brachte, die größte Maikundgebung der Welt. Die unabhängige Gewerkschaft FAT und die "Intergewerkschaftliche Koalition für den 1. Mai" gewinnen an Bedeutung, während gleichzeitig die Anzahl der Streikenden in den letzten Jahren steigt: Die Lehrer streikten 20 Tage lang gegen die Privatisierung von Bildung, die Busfahrer legten aus Protest die Stadt lahm und auch die Elektrizitätsarbeiter gründeten Basisorganisationen in der Gewerkschaft, um gegen die Privatisierung des Stroms zu kämpfen, was ihnen durch Streiks auch gelungen ist.

Die Solidarität der Lehrer und Elektrizitätsarbeiter mit den Zapatisten ist groß. Ihre Transparente gegen den frisch gewählten, konservativen Präsident Vicente Fox fehlen auf keiner Kundgebung des Marsches. Denn die Mehrheit der Wähler machten den Ex-Coca-Cola-Manager im Juli 2000 zum Präsidenten und erhofften sich von der Abwahl der 70 Jahre lang regierenden PRI soziale Verbesserungen. Aber er wird seine Versprechungen nicht halten, schon jetzt plant er ein neoliberales Projekt nach dem anderen: Er ist der Vertreter der Konzerne. Es ist nötig, durch Kampagnen Fox die momentane Unterstützung vieler Mexikaner zu entziehen und die Konzerne anzugreifen. Doch der Kontakt der Zapatisten mit diesen Bewegungen und den Studierenden beschränkt sich auf gegenseitige Solidarität. Es fehlt die aktive Verbindung, die gemeinsame Anstrengung, um politische Ideen beim Rest der Bevölkerung zu kämpfen und Widerstand gegen die neoliberale Politik von Fox zu organisieren. Die Streiks der Arbeiter haben gezeigt, daß sie die Kraft haben, die Macht der inländischen wie ausländischen Konzerne zu brechen, die Chiapas und Mexiko in Armut halten. Deshalb war es genau richtig, von den Zapatisten nach Mexiko-Stadt zu ziehen. Die Zapatisten könnten ihre politische Autorität bei der Bevölkerung und die Strukturen der EZLN dafür nutzen, mit Studierenden und Arbeitern eine neue politische Kraft, eine Alternative zu Fox, aufzubauen, die für eine andere "Welt, in der viele Welten Platz haben" kämpft, d. h. eine Gesellschaft, die nicht nach den Regeln des Profits funktioniert, sondern in der die Produzierenden die Produktion demokratisch organisieren.

Machtfrage

Doch genau diesen entscheidenden Schritt lehnen die Zapatistas ab. Sie möchten sie die bestehenden Machtverhältnisse nicht stürzen: "Wir schlagen kein bestimmtes ökonomisches Modell vor, sondern zielen direkt auf die ethischen Werte in der Politik. Der Zapatismus unterscheidet sich grundlegend von den traditionellen revolutionären Bewegungen, wir streben nicht die Machtergreifung an... Wir werden keine politische Kraft organisieren, die um die Machtübernahme kämpft, sondern wollen eine Umkehrung der Machtverhältnisse in die Wege leiten."

Doch der Kapitalismus toleriert keine Freiräume in der Gesellschaft. Dies zeigt die bittere Erfahrung des Namensgebers der Zapatisten, Emiliano Zapata. Er eroberte Mexiko-City 1914 mit seinem revolutionären Heer von 25.000 armen Bauern unter dem Slogan "Land und Freiheit". Dann verließen sie die Stadt und den Regierungspalast aber nach zwei Monaten wieder, um sich in ihre revolutionäre Bastion in Morelos zurückzuziehen, wo sie Großgrundbesitzer enteigneten. Die Konservativen nutzten die Zeit, um Kräfte zu sammeln, holten 1919 zum Gegenschlag aus, vernichteten die Bewegung militärisch und ermordeten Emiliano Zapata. Die Zapatisten von heute haben aber viel bessere Möglichkeiten, mit einer selbstbewußten Arbeiterbewegung gemeinsam zu kämpfen, als Emiliano Zapata damals. Denn nur diese hat das Potential, diesen Staat zu stürzen, der die Interessen der Industrie verteidigt. Für die Verwirklichung der Ziele der Zapatisten dürfen sie diesen Staat nicht bestehen lassen, denn dieser wird ihre "autonomen Gebiete" auf Dauer nicht tolerieren.




Sozialismus von unten, Nr. 6, Frühjahr 2001