Sozialismus von unten
Magazin für antikapitalistische
Debatte & Kritik

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Nr. 6, Frühjahr 2001

[Inhaltsverzeichnis SVU Nr.6]



  • Oskar Wilde: Der Sozialismus und die Seele des Menschen

  • Nijinsky: Eine choreographische Annäherung





  • Oskar Wilde: Der Sozialismus und die Seele des Menschen, Berlin, Alexander-Verlag 1993 (engl. Originaltitel: The soul of man under socialism)

    Lebe Wilde & gefährlich

    Das Individuelle und der dazugehörige "-ismus" – was wurde auf der Linken nicht schon an Blödsinn darüber verzapft! Ich kenne eine maoistische Gruppe, deren Mitglieder fest davon überzeugt sind, im Sozialismus würden alle Menschen in Uniformen herumlaufen, "weil Mode dann keine Rolle mehr spielt".

    Daß sich die Genossen Hurrastalinisten da hier gewaltig irren – Schwamm drüber. Wer Nordkorea sexy findet, mit dem ist über Stilfragen genauso schlecht disputieren wie über den Sozialismus. Aber selbst Meister Brecht verstieg sich in den späten 20ern dazu, das "Abschleifen des Individuellen" im kapitalistischen Produktionsprozeß als fortschrittlich zu begrüßen.

    Oscar Wildes Essay "Die Seele des Menschen im Sozialismus" ist eine Verteidigungsschrift für den Individualismus. Wilde stellt klar, daß der Sinn des Sozialismus gerade darin besteht, das Individuum von der Leine zu lassen.

    Nun ist ja die Möglichkeit zur ungehemmten individuellen Entfaltung eines jener Versprechen, welche die bürgerliche Revolution einst mit großem Tschingdarassabumm auf die Tagesordnung der Welt hievte. Dort steht sie – genau wie Gleichheit, Freiheit, Schwesterlichkeit – bis heute hübsch herausgeputzt herum, die Entfaltung des Einzelnen, und gerade im parlamentarischen Kapitalismus ganz, ganz oben auf der Liste.

    Sie von der Liste ins Leben zu holen, fehlt der Masse der Erdenbürger nur fatalerweise das nötige Kleingeld. Für unsereinen bleibt Individualismus eine geschwätzige Parole der Fernsehwerbung, die genauso wenig mit dem eigenen Leben zu tun hat wie der angepriesene BMW Roadster.

    Also müssen wir unser Bedürfnis nach dem Speziellen, Eigentümlichen und Ungebundenen in Hobbykellern, Squash-Centern oder mittels neuer Klamotten befriedigen – was zur Befriedung unseres Bedarfs an Individualität natürlich mitnichten hinreicht, wenn gleichzeitig unsere Innenstädte zur menschenfeindlichen "City" werden, Wohnanlagen den Charme mittelfränkischer Zahnarztpraxen versprühen und die Unwirtlichkeit öffentlicher Räume allem Lebenden die Gurgel drückt.

    Oscar Wildes Aufsatz wirkt da als Frischluftzufuhr. Daß die Weltrevolution in erster Linie eine Frage des guten Geschmacks ist, das allermindeste quasi, was man sich an Stilbewußtsein und Lebensfreude gönnen sollte, wird hier endlich einmal deutlich ausgesprochen. Daß man von einem demokratischen Kollektiv nur dann etwas hat, wenn einem die Mehrheit nicht permanent dazwischenfunkt und einen mit Vorschriften über Dinge belästigt, die sie einen Scheißdreck angeht, kurz: daß der Sozialismus nur einer ist, wenn es deiner ist!

    Über Parteiaufbau, das ist zweifellos kritikwürdig, steht relativ wenig in Wildes schwungvollem Essay. Das allerdings wird durch eine überaus originelle Auseinandersetzung mit Jesus mehr als kompensiert. Dessen Wiederinbesitznahme für die Hippiebewegung als ersten prominenten Aussteiger der westlichen Kulturgeschichte, und das ausgerechnet durch den ersten öffentlichen Schwulen der modernen Zeit – pikant.

    das Flori Kirner




    Komm zurück, Nijinsky!

    Nijinsky.
    Eine choreographische Annäherung von John Neumeier (Hamburger Staatsoper)

    Kaum ein Mensch hat mehr Faszination und Hingabe mobilisiert als er - Vaslaw Nijinsky, Star des "Balletts Russes", Neuschöpfer des klassischen Tanzes, Faun, Harlekin, Petruschka. Kurt Tucholsky flehte noch Jahre nach dessen Abgang von der Bühne: "Wo bist Du, Nijinsky! Komm, lege noch einmal deinen Schleier nieder, und siehe: er wurde zum Weib, weil du es wolltest. Fahre noch einmal wie ein buntes Rad unter die Tanzenden! Ach, Nijinsky, wo bist du?"

    - In der Irrenanstalt saß er, Genie längst vergangener Tage. Geboren 1889 in Russland beendete Nijinsky 1919 abrupt seine Tanzkarriere, stürzte in tiefe geistige Nacht und verbrachte die Zeit bis zu seinem Tode 1950 in verschiedenen Sanatorien.
    Was von ihm blieb, sind ein paar Fotos, einige Tagebuchnotizen, bis heute nicht entschlüsselte choreographische Aufzeichnungen - und Sturzbäche elegischer Lobeshymnen! Die große Sarah Bernhardt bekam es angesichts des "größten Schauspielers der Welt" schier mit der Angst. Paul Claudel verglich seine Bewegungsabläufe mit der Lyrik Vergils, und auch Hugo von Hofmannsthal sah in Nijinsky die "Vision der Antike" - während die New York Tribune eben dieses "unnötig nuttig" und "ganz überflüssigerweise höchst unanständig" fand.

    Alles Lob, ob negativ ob positiv, verfehlt Nijinsky doch um Haaresbreite. Mit den profanen Mitteln der Sprache wollen sie dem Einem nahe kommen, dessen Körpersprache immer stärker war. Wer das Phänomen Vaslaw Nijinsky wirklich verstehen will, ist gut beraten, sich die "choreographische Annäherung" des Hamburger Balletts anzusehen.

    Die erste Hälfte des Neumeier-Werks ist ganz den Konflikten um Nijinskys Sexualität gewidmet, der Liebesaffäre mit Serge Diaghilev und der plötzlichen Heirat mit Romola Pulzky. Höchst unanständig dabei so manche Szene, und einfach hinreißend, wie zwischen allem Hin und Her das übermütige Genie des jungen Nijinsky blüht, in der Sinnlichkeit der wilden Tänze:
    "Ich bin ein Narr in Gott, deshalb treibe ich gern närrische Späße. Ich will sagen, dass der Narr nur dort hinpasst, wo Liebe ist. Ein Narr ohne Liebe ist nicht Gott. Gott ist ein Narr. Und ich bin Gott. Ihr seid Gott!" - oh Blasphemia, Du herrliche Schöne!

    Der zweite Teil der Neumeier-Choreographie - eine Demonstration, was mit den Mitteln des Balletts möglich ist. Geste um Geste entfaltet sich eine wortlose Tragödie epischer Ausmaße. Schau, wie der Erste Weltkrieg einfährt in Nijinskys Tanz wie der Schnitter ins Kornfeld, im Trommelfeuer das fröhliche Kind seiner Seele (sensationell getanzt von Yukichi Hattori), weibische Leidenschaft im Blutrausch der Gräben ertränkt, gebrochen, an den Hörnern gepackt, dem Faun das Genick.

    Die funkensprühende Ohnmacht des Narrentänzers im Schlachthaus Europa kulminiert in Nijinskys letztem Tanz, seiner satanischen "Hochzeit mit Gott".
    Am Ende fällt der Zuschauer erschöpft in den Sitz zurück - benommen vom grellen Wahnsinn einer Weltkriegswelt, die dem Menschen im Menschen nur die Flucht lässt in die Dunkel der Einsamkeiten: "...ich merkte, dass ich nicht geliebt wurde. Ich verschloss mich. Ich verschloss mich so sehr, dass ich die Leute nicht verstehen konnte. Ich weinte und weinte..." Der Krieg warf den Schleier des Todes - und Finsternis überkam Nijinsky.
    Dem Neumeier John unser Dank aus vollem Herzen: Seit seiner Berufung nach Hamburg 1997 hat er eine außergewöhnliche Tanztruppe aufgebaut, deren Erfolg sich in der kunstvollen Verbindung klassischer und moderner Elemente begründet.
    Du aber, göttlicher Königsfaun, lass uns nicht länger warten. Hast Du nicht versprochen wiederzukehren, eines Tages, "als schönes, wildes Pferd!" ?
    Komm zurück, Nijinsky, bitte komm schnell. Es ist so kalt geworden.


    das Flori Kirner





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