Sozialismus von unten
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Nr. 6, Frühjahr 2001

[Inhaltsverzeichnis SVU Nr.6]


Robert Service: Lenin. Eine Biographie, München, C. H. Beck 2000, 680 S., 68,- DM

War Lenin ein Psychopath?

Über 600 Seiten umfaßt die neue Lenin-Biographie des britischen Historikers Robert Service. Im Mittelpunkt des Buches steht Lenin als Persönlichkeit. Service stützt sich in seiner Recherche auf erst kürzlich geöffnete Akten des Moskauer Parteiarchives der KP. Im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung wurde das Werk schon als neuer Standard für die Historikerwelt gehandelt. Doch viel Neues hat Robert Service nicht vorzubringen: Weder hat das Quellenmaterial aus den Archiven nennenswerte neue Erkenntnisse ans Tageslicht gebracht, noch ist die Herangehensweise des Historikers an Lenin neu.

Lenins politischen Werdegang sieht Service vorprogrammiert in den Umständen, die sein Elternhaus und seine Kindheit prägten. In seiner früheren dreibändigen politischen Biographie zu Lenin hatte Service schon eine direkte Linie von der bolschewistischen Partei über die Oktoberrevolution zur stalinistischen Diktatur zu ziehen versucht. Diesmal geht er weiter und ortet die Wurzeln des Stalinismus in Lenins Charakter.

Im Ansatz knüpft Service damit an die stalinistischen Geschichtsschreiber an, auch wenn er von einem anderen Standpunkt aus schreibt. Lenin erscheint als Mensch, dessen politischer Werdegang abgekoppelt wird von den politischen Umständen und den Herausforderungen, die sich daraus für revolutionäre Arbeit ergaben.

Schon mit Anekdoten aus Lenins früher Kindheit will Service belegen, daß Lenin grausam, selbstsüchtig und hysterisch war:

"Er hörte nicht auf, Radau zu machen und war [...] seine ganze Kindheit hindurch wild und anstrengend. Er war viel destruktiver als die anderen Uljanov-Kinder. Als er von seinen Eltern einmal ein Pferdchen aus Pappmache zum Geburtstag bekam, fiel ihm nichts Besseres ein, als ihm die Beine abzureißen [...] Mit drei Jahren trampelte er über eine Sammlung von Theaterzetteln, die sein älterer Bruder Sascha sorgsam auf dem Teppich ausgebreitet hatte [...] Ein paar Jahre später schnappte er sich Annas Lieblingslineal und zerbrach es." (S. 57)

Das ganze Buch hindurch versucht Service, einen roten Faden zu ziehen, der ein gestörtes zwischenmenschliches Verhältnis von Lenin zu anderen Personen unterstellt: ausgehend von der Kindheit über die politischen Auseinandersetzungen innerhalb der Arbeiterbewegung, dem Verhältnis zu Frauen, bis zum Terror des Bürgerkrieges. Schon in der Einleitung nimmt er sein Fazit vorweg:

"Lenin war hypochondrisch veranlagt, und wenn er nicht auf die tätige Sympathie seiner Familie hätte zählen können, wäre er wahrscheinlich geplatzt. Es bestand immer die Möglichkeit, daß er explodierte: Lenin war eine wandelnde Zeitbombe. Die auf ihn einwirkenden geistigen Einflüsse trieben ihn zur Revolution, und seine innere Wut gab diesem Trieb etwas Rasendes. Sein leidenschaftlicher Zerstörungsdrang war stärker als seine Liebe zum Proletariat." (S. 29)

Mit diesem Pauschalansatz verstrickt sich Service in seiner sehr ausführlichen Biographie – es fehlt kein Monat in Lenins Leben – selbst häufig in Widersprüche. So stellt Service beispielsweise mehrfach die These auf, daß Lenin lieber hinterm Schreibtisch oder bei Parteitagen tätig war, als sich um die Belange der Arbeiter zu scheren. An anderer Stelle jedoch lesen wir, daß Lenin sich gern unter die Fabrikarbeiter und Soldaten mischte ("Er liebte es, unter diesem Milieu zu verkehren"), und während des Revolutionsjahres 1917 "fand er seine Erfüllung als Marxist in der Gesellschaft der Arbeiterklasse und war ständig in der Stimmung freudiger Erregung." (S. 360).

Ebenso unterstellt Service Lenin, daß er niemals "die Verbundenheit mit seinen Genossen über seine materielle Bequemlichkeit" stellte (S. 156). An anderer Stelle hören wir vom gleichen Lenin, daß er einem Genossen beim Karrenfahren aushilft oder genereller gesprochen: "Lenins Gegner hatten schon immer bemängelt, daß er in Bezug auf Menschen, mit denen er sich umgab, zu gutmütig sei." (S. 295)

Man muß Service auch eine sehr selektive Verwertung der persönlichen Memoiren von Lenins Familienmitgliedern vorwerfen. Er ist nicht der erste Biograph Lenins, der Zugang zu diesen Quellen hatte. Vor der Verfestigung des Stalinismus waren diese Materialien in Rußland noch öffentlich zugänglich. Der Revolutionär und Mitkämpfer Lenins, Leo Trotzki, verwertete beispielsweise in seiner 1928 geschriebenen Biographie "Der junge Lenin" die gleichen Quellen. Neben all den Geschichten, die Service über Lenins Kindheit dokumentiert, präsentiert Trotzki von den gleichen Zeitzeugen auch ganz andere Erinnerungen. So schreibt die gleiche Schwester Lenins, die Service oben anführt für Lenins Zerstörungswut: "In den reiferen Jahren konnten wir überhaupt oder fast überhaupt keinen Jähzorn bei ihm feststellen." (Leo Trotzki: Der junge Lenin, Wien 1969, S. 103)

Losgelöst

Die realen Kämpfe der Unterdrückten gegen die alte Ordnung nimmt Service nicht zum Ausgangspunkt für Lenins Wirken. Er schreibt fast nichts über die Revolution von 1905, wo die Arbeiterräte als demokratische Selbstorganisationsform des Widerstandes geschaffen wurden. Dadurch mußte die Frage vom Verhältnis der Partei zur Politik und den Organisationsformen der Bewegung neu definiert werden, was heftige Debatten innerhalb der Parteien auslöste.

Noch weniger schreibt er über die Debatten in der internationalen Arbeiterbewegung, die mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges hereinbrachen. So hatte z. B. die deutsche sozialdemokratische Partei durch ihre Unterstützung des kapitalistischen Kriegszugs das sozialistische Prinzip des Internationalismus verraten. Lenins scharfe Angriffe gegen Karl Kautsky hatten hier ihren Ursprung.

Indem Service Kontext und politische Bedeutung der Auseinandersetzungen ausklammert, versucht er Lenin als Streithahn aus Prinzip darzustellen. Letztlich sei Lenin der Fraktionskampf wichtiger gewesen als der Klassenkampf. So ist Service unfähig, Lenins größte politische Stärke zu erfassen: die marxistische Methode auf konkrete politische Herausforderungen anzuwenden.

Konkret

Was bei Service wie eine bösartige Profilneurose Lenins aussieht, ist in Wirklichkeit politische Zielstrebigkeit. So schreibt Trotzki in seinem kürzlich neu aufgelegten Buch "Über Lenin":

"Lenins Zielstrebigkeit war stets konkret, anders wäre sie übrigens auch keine echte Zielstrebigkeit [...] In den kritischen Augenblicken, wenn es sich um eine verantwortungsvolle oder riskante taktische Schwenkung handelte, fegte Lenin gleichsam alles Nebensächliche oder Aufschiebbare fort. (Leo Trotzki: Über Lenin – Material für einen Biographen, Essen 1996, S. 118)

Lenin drängte immer darauf, den Marxismus konkret anzuwenden. Dafür muß die revolutionäre Organisation zu jeder Zeit die entscheidende gesellschaftliche Auseinandersetzung herausgreifen, sich positionieren, angemessene Forderungen erheben und praktisch eingreifen. Und wie der revolutionäre Kampf sich entwickelt und verändert, Fortschritte macht und Rückschläge erleidet, hat auch die revolutionäre Partei sich immer wieder neu zu positionieren.

Der britische Marxist und Revolutionär Tony Cliff arbeitete Lenins Bedeutung in diesem Kontext – des Aufbaus einer interventionsfähigen revolutionären Partei – in seiner dreibändigen Lenin-Biographie heraus.

"Viele ‚Marxisten’ hatten versucht, die Verpflichtung zu vermeiden, wichtige Entscheidungen zu treffen, indem sie dem Marxismus ein fatalistisches Wesen verliehen. Dies war ein Merkmal der Menschewiki. Bei jeder Krise zeigten sie Zweifel, Unentschlossenheit und Angst [...] Unentschlossenheit ist der schlimmstmögliche Zustand zur Zeit einer Revolution. Lenin war der konsequenteste der Revolutionäre. Er war überlegen in seiner Tapferkeit bei Entscheidungen, in seiner Bereitschaft, die Verantwortung für die bedeutendsten Vorstöße zu übernehmen." (Tony Cliff: Lenin, Bd. I: Building the Party, London 1986, S. 265)

So betrachtet, waren die ständigen Debatten und Kontroversen innerhalb der Bolschewiki weder destruktiv noch Selbstzweck, wie es uns Service weismachen will. Die Flexibilität, die Lenin in den sich ständig wandelnden Bedingungen des revolutionären Kampfes an den Tag legte, kann Service nur verwirren, weil er sie politisch nicht versteht. Sie waren absolut notwendig, um eine praktische revolutionäre Führung im Kampf um eine bessere Gesellschaft zu entwickeln.

Das Revolutionsjahr 1917 ist ein wichtiges Beispiel dafür. Im Februar war der Zarismus von kriegsmüden Arbeitern und Bauern auf den Müllhaufen der Geschichte befördert worden. Die aufständischen Massen forderten ein Ende des Krieges, einschneidende Maßnahmen gegen die Armut und die Enteignung der Großgrundbesitzer. Ursprünglich waren die meisten Marxisten der Meinung, daß nach dem Sturz der Monarchie erst eine Phase von kapitalistischer Entwicklung und bürgerlicher Demokratie durchlaufen werden müsse, bevor der Kampf um eine sozialistische Gesellschaft aufgenommen werden könne. Die Menschewiki hielten komplett an diesem Dogma fest. Sie weigerten sich, den Arbeiter- und Soldatenräten die Macht zu überlassen und beteiligten sich an einer Regierungskoalition, die den Interessen der Kapitalistenklasse Rußlands diente. Auch die Mehrheit der führenden Bolschewiki hielt anfangs an diesem Kurs fest. Als Lenin im April 1917 aus seinem Exil nach Petersburg zurückkehrte, forderte er in seinen "Aprilthesen" einen Bruch mit der Regierung der besitzenden Klassen. Mehr und mehr war deutlich geworden, daß die Forderungen der revolutionären Massen – nach Land, Brot und Frieden – nur in einer weiteren sozialistischen Revolution durchgesetzt werden konnten. Als Lenin sich mit der neuen Parole "Alle Macht den Räten!" nicht in der Parteiführung der Bolschewiki durchsetzen konnte, wandte er sich an die Parteibasis und an die kämpfenden Massen selbst, um diese Position durchzusetzen. Tony Cliff schreibt darüber:

"Lenin hatte die Notwendigkeit für eine zentralisierte Parteiorganisation besser als irgendwer sonst verstanden. Doch war die Partei für ihn kein Selbstzweck, sondern ein Mittel um die Selbstaktivität und das Bewußtsein unter den Massen der Arbeiter zu fördern. Die Organisation zu einem Fetisch zu machen – sich ihr unterzuordnen, selbst wenn ihre Politik der Massenaktion im Wege stand – ging Lenin gegen den Strich. Wenn er es für notwendig befand, wie in den Jahren 1905-07 oder 1917, appellierte er an die Energie der Massen, um den Konservatismus der Parteiorganisation zu überwinden." (T. Cliff, a. a. O., S. 183)

Der springende Punkt bei Robert Service ist, daß er dem Kampf für eine sozialistische Gesellschaft grundsätzlich nichts abgewinnen kann. Anders bei Tony Cliff, der vor allem im ersten Band seiner Lenin Biographie versucht, Lehren für den Aufbau einer revolutionären Organisation heute zu ziehen.

Service’ politischer Standpunkt

Service’ antirevolutionärer Standpunkt wird an den wenigen Stellen seiner Lenin-Biographie deutlich, wo er politische Kritik an den Bolschewiki formuliert. Offen äußert er seine Sympathien für Theoretiker wie Eduard Bernstein oder Tugan-Baranowsky. Sie vertraten die These, daß der Kapitalismus seine zerstörerische Wirkung in Form von Krisen und Konkurrenzkampf immer mehr verlieren werde. Das Fazit ist, daß man den Kapitalismus nicht grundsätzlich bekämpfen muß.

In seinem Angriff auf den revolutionären Weg, den die Bolschewiki gegen Zarismus und Kapitalismus eingeschlagen hatten, stützt sich Service auf die Positionen von Karl Kautsky und Plechanow. Sie gehörten dem "reformistischen" Flügel der Sozialdemokratie an, der den Kampf um eine sozialistische Gesellschaft im wesentlichen auf den Kampf um Mehrheiten in den bürgerlichen Parlamenten reduzierte. Die Perspektive der Bolschewiki auf eine Ausweitung der Revolution auf andere Länder hält Service für ebenso utopisch, wie es die damaligen "gemäßigten" sozialistischen Parteien taten, die revolutionären Massenerhebungen in ihren Ländern aktiv entgegenarbeiteten.

Gewalt

Heftig steigert sich Service in die Frage der Gewalt und des Terrors nach der Oktoberrevolution hinein. Er macht die Bolschewiki und Lenin persönlich für den Bürgerkrieg verantwortlich: "Das Blutvergießen in Rußland war im wesentlichen eine Frucht der Oktoberrevolution und in erheblichem Umfang die persönliche Schuld Lenins." (S. 473)

Service geht so weit zu behaupten, daß der Zarismus weniger repressiv gewesen sei als der sozialistische Staat, der nach der Revolution aufgebaut wurde. Das ist eine unbegreifliche Position, wenn man bedenkt, daß unter dem Zaren Pogrome angezettelt wurden, die Zehntausenden Juden das Leben kosteten, oder wenn man sich die Bilder von der Niederschlagung der Arbeitererhebung 1905 vor Augen führt.

Es stimmt, daß Millionen von Russen in den Jahren nach der Revolution starben. Nur wurden sie nicht von der Revolution getötet, sondern von den Gegnern der Revolution. Die alten herrschenden Kräfte und ihre Verbündeten aus dem In- und Ausland setzten massive Gewalt ein, um die neue sozialistische Gesellschaft im Blut zu ertränken. Dafür marschierten Armeen aus 16 kapitalistischen Ländern ein, und zaristische Generäle organisierten bestialisch wütende konterrevolutionäre Truppen in Rußland.

Service erwähnt diesen Ursprung der Gewalt und des Blutvergießens im Bürgerkrieg kaum, und so verdreht er Ursache und Wirkung, Angriff und Verteidigung, Opfer und Täter. Bei Service finden die Zwangsmaßnahmen der Bolschewiki im luftleeren Raum statt, sozusagen aus dem "Blutdurst" der Revolutionäre.

Eine besser reflektierte Auseinandersetzung mit der Politik der Bolschewiki nach der Oktoberrevolution findet man bei John Rees. Sein Buch, Oktober 1917 – Zur Verteidigung der Revolution (Frankfurt 1997), setzt sich mit den entscheidenden Fragen für Sozialisten auseinander: "Waren die Bolschewiki monolithisch?", "Ist revolutionäre Gewalt legitim?", "Führte Lenin zu Stalin?".

Rees zieht in diesem Buch eine Trennlinie zwischen dem revolutionären Erbe der Bolschewiki zu Zeiten Lenins und dem später entstehenden Stalinismus. Für alle, die den Kampf gegen den globalen Kapitalismus nicht aufgeben wollen, ist das vier mal dünnere Buch von John Rees mindestens fünf mal anregender und lehrreicher, als der Psychowälzer von Robert Service.

Fazit

Neben dem Ärger über Service schwachsinnige Thesen bleiben lediglich ein paar amüsante Anekdötchen aus Lenins Privatleben, die man anderswo nicht findet – z. B., daß Lenin im Winter gerne Schlittschuh lief "und Nadja fand ihn auf dem Eis mit seinen ‚spanischen Sprüngen’ und seinem ‚Stelzen wie ein Huhn’ fast etwas affig." (S. 167)

Doch dafür lohnt definitiv nicht die Investition von 68,- DM in den Kauf dieses Buches.

Von Michael Ferschke




Sozialismus von unten, Nr. 6, Frühjahr 2001