Sozialismus von unten
Magazin für antikapitalistische
Debatte & Kritik

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Nr. 6, Frühjahr 2001

[Inhaltsverzeichnis SVU Nr.6]


Klassiker der Sozialismus:

Lenins "Staat und Revolution"

Wie sollte das Verhältnis von AntikapitalistInnen zum Staat sein? Kann der Staat ein Mittel sein, die Gesellschaft zu ändern oder muß er gestürzt werden? Wie kann er gestürzt werden? Und wird eine sozialistische Gesellschaft selbst einen Staatsapparat brauchen? Wie sollte er denn aussehen? Ahmed Shah führt uns durch Lenins Werk "Staat und Revolution" und zeigt, was wir daraus für den heutigen Kampf gegen Konzernherrschaft lernen können.

"Die großen Revolutionäre wurden zu Lebzeiten von den unterdrückenden Klassen ständig verfolgt, die ihre Lehre mit wildesten Ingrimm und wütendstem Haß begegneten, mit zügellosen Lügen und Verleumdungen gegen sie zu Felde zogen. Nach ihrem Tode versucht man, sie in harmlose Götzen zu verwandeln, sie sozusagen heilig zu sprechen, man gesteht ihrem Namen einen gewissen Ruhm zu zur "Tröstung" und Betörung der unterdrückten Klassen, wobei man ihre revolutionäre Lehre des Inhalts beraubt, ihr die revolutionäre Spitze abbricht, sie vulgarisiert."

So schreibt Lenin über die Entstellung des Marx‘schen Lebenswerks durch die damaligen sozialdemokratischen Theoretiker. Leider ist Lenins Werk selbst dem gleichen Schicksal verfallen. Der Stalinismus benutzte ihn als Ikone zur Rechtfertigung einer staatskapitalistischen Diktatur. Dadurch wird in der Tat seine "revolutionäre Lehre des Inhalts beraubt". Allerdings ist es gerade heute in erster Linie dieses stalinisierte Bild von Lenin, das die meisten Menschen kennen. Hier soll Lenins bei weitem bestes Werk für sich sprechen. Er schrieb es 1917, kurz vor der Oktober-Revolution. Die Frage des Staates war hochaktuell. "Staat und Revolution" war kein Werbebroschüre für seine Partei, sondern ein strategischer politischer Beitrag für die ganze Bewegung. Er beschäftigte sich mit den Ideen der Hauptströmungen in der Bewegung - der sozialdemokratischen und anarchistischen - und versuchte, die Verwirrung über die marxistische Staatstheorie zu beseitigen und die gezielte Fehlinterpretation der Ideen von Marx und Engels zu bekämpfen. Dies ist ihm gelungen.

Staat und Revolution bietet eine Konzentration der besten Analysen von Marx, Engels und Lenin zu diesem Thema. Die antikapitalistische Bewegung heute kann viel daraus lernen.

Der Staat und die Unversöhnbarkeit der Klassen

Lenin haßte den bürgerlichen Staat: "Beamtentum und stehendes Heer, das sind die Schmarotzer am Leib der bürgerlichen Gesellschaft, Schmarotzer, die aus den inneren Widersprüchen, die diese Gesellschaft zerklüften, entstanden sind, aber eben Parasiten, die die Lebensporen verstopfen. Durch alle bürgerlichen Revolutionen hindurch ... zieht sich die Entwicklung, Vervollkommnung und Festigung dieses Beamtentums - und Militärapparats."

Lenin versteht Marxismus als eine emanzipatorische Philosophie zur Selbstbefreiung der ausgebeuteten und unterdrückten Mehrheit. Die sozialistische Revolution hat für Lenin deshalb das Ziel, den Kapitalismus und seinen Staat zu beseitigen: "Alle früheren Revolutionen haben die Staatsmaschinerie vervollkommnet, man muß sie aber zerschlagen, zerbrechen."

Eine Klassengesellschaft und der innerhalb dieses gesellschaftlichen Rahmens ständig stattfindende und unlösbare Kampf der Klassen gegeneinander bedingt die Existenz einen Staates. Lenin zitiert Engels. Der Staat: "...ist das Eingeständnis, daß diese Gesellschaft sich in einen unlösbaren Widerspruch mit sich selbst verwickelt, sich in unversöhnliche Gegensätze gespalten hat, die zu bannen sie ohnmächtig ist. Damit aber diese Gegensätze, Klassen mit widerstreitenden ökonomischen Interessen, nicht sich und die Gesellschaft in fruchtlosem Kampf verzehren, ist eine scheinbar über der Gesellschaft stehende Macht nötig geworden, die den Konflikt dämpfen, innerhalb der Schranken der 'Ordnung' halten soll; und diese, aus der Gesellschaft hervorgegangene, aber sich über sie stellende, sich ihr mehr und mehr entfremdende Macht ist der Staat."

Lenin faßt zusammen: "Der Staat ist das Produkt und die Äußerung der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze. Der Staat entsteht dort, dann und insofern, wo, wann und inwiefern die Klassengegensätze objektiv nicht versöhnt werden können. Und umgekehrt: Das Bestehen des Staates beweist, daß die Klassengegensätze unversöhnlich sind."

Lenin kritisierte vehement die Meinung führender Sozialdemokraten, die den Staat als neutral betrachteten. Sie sahen im Staat ein Instrument, das benutzt werden könnte, um die Klassengegensätze zu versöhnen. Damit leiteten sie, allen voran ihr Chefideologe in Deutschland, Karl Kautzky, eine politische Wende ein: Weg von Marx und Engels revolutionären Ideen, hin zur Anpassung an das kapitalistische System. Schlimmer noch; denn gerade Kautsky tat dies im Namen des Marxismus. Lenin schreibt: "Auf der einen Seite pflegen bürgerliche und besonders kleinbürgerliche Ideologien ... Marx in der Weise zu 'verbessern', daß der Staat sich als Organ der Klassenversöhnung erweist. Nach Marx hätte der Staat weder entstehen noch bestehen können, wenn eine Versöhnung der Klassen möglich wäre... Nach Marx ist der Staat ein Organ der Klassenherrschaft, ein Organ zu Unterdrückung der einen Klasse durch die andere, ist die Einrichtung derjenigen 'Ordnung'', die diese Unterdrückung festigt, indem sie den Konflikt der Klassen dämpft ... Auf der anderen Seite ist die 'kautskyanische' Entstellung des Marxismus viel feiner... (Theoretisch) wird weder in Anrede gestellt, daß der Staat ein Organ der Klassenherrschaft ist, noch daß die Klassengegensätze unversöhnlich sind. Außer acht gelassen oder vertuscht wird aber folgendes: Wenn der Staat das Produkt der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze ist, wenn er eine über der Gesellschaft stehende und 'sich ihr mehr und mehr entfremdende' Macht ist, so ist es klar, daß die Befreiung der unterdrückten Klasse unmöglich ist, nicht nur ohne gewaltsame Revolution, sondern auch ohne Vernichtung des von der herrschenden Klasse geschaffenen Apparats der Staatsgewalt, in dem sich diese 'Entfremdung' verkörpert."

Die Politik der Sozialdemokratie, die Versöhnung der Klassengegensätze, und ihre Staatstreue bildete die theoretische Grundlage für ihre konterrevolutionäre Praxis. 1914 unterstützte die SPD den imperialistischen Krieg ‘ihres’ Staates gegen die anderen Völker, genauer gesagt gegen die ArbeiterInnen anderer Länder. Und 1919 zerschlugen sie die Revolution der ArbeiterInnen im eigenen Land als diese sich gegen diesen mörderischen Staat erhoben. Einer ihrer Politiker, Noske, erklärte unverschämt danach: Irgendjemand mußte ja den Bluthund spielen. Es ist die gleiche Logik, mit der die Schröder-Regierung in den Krieg in Kosovo geszogen ist und weiter zum massiven Polizeieinsatz gegen CastorgegnerInnen, die den Atomaustieg erkämpfen, den die SPD vor der Wahl selbst versprochen hatte. Innenminister Otto Schilly verwandelte sich vom RAF-Anwalt zum modernen ‘Bluthund’ à la Noske.

Diktatur des Proletariats

Für Marx war die Alternative der Sturz der besitzenden Minderheit und ihrer Selbstschutzorgane gegen die Mehrheit, des Staatsapparats, eben durch die revolutionäre Machtübername der produzierende Mehrheit. Sie müsse die Kontrolle über die Produktionsmittel an sich reißen. Um aber diese Kontrolle erlangen und behalten zu können, mußte sie auch den bürgerlichen Staat stürzen, der sie daran hindern wolle. Insofern sprach er von der Notwendigkeit einer ‘Diktatur des Proletariats’ - der Herrschaft und Kontrolle der produzierenden Mehrheit über die Produktivkräfte -gegen die Minderheit. Das sollte die Basis legen für eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums zugunsten der Mehrheit. Und das wiederum würde der Anfang sein können für die Abschaffung des Klassensystems und der Klassen überhaupt. Um dies zu erreichen, müßten die ArbeiterInnen nicht nur den bürgerlichen Staat stürzen, sie müßten auch ihren eigenen Staat schaffen, um ihre Herrschaft und ihre Vorstellung von einer solidarischen Gesellschaft gegen eine widerwillige Bourgeosie durchzusetzen.

Diese Erkenntnis betrachtete Marx als seinen wichtigsten theoretischen Beitrag: "Was mich nun betrifft, so gebührt mir nicht das Verdienst, weder die Existenz der Klassen in der modernen Gesellschaft noch ihren Kampf unter sich entdeckt zu haben. Bürgerliche Geschichtsschreiber hatten längst vor mir die historische Entwicklung dieses Kampfes der Klassen und bürgerliche Ökonomen die ökonomische Anatomie derselben dargestellt. Was ich neu tat, war 1. nachzuweisen, daß die Existenz der Klassen bloß an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Produktion gebunden ist; 2. daß der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führt; 3. daß diese Dikatatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer Klassenlosen Gesellschaft bildet."

Wie Lenin es ausdrückte, unterscheidet sich die Diktatur des Proletariats folgendermaßen von der Diktatur des Kapitals: "Die ausbeutenden Klassen bedürfen der politischen Herrschaft im Interesse der Aufrechterhaltung der Ausbeutung, d.h. im eigennützigen Interesse einer verschwindend kleinen Minderheit gegen die ungeheure Mehrheit des Volkes. Die ausgebeuteten Klassen bedürfen der politischen Herrschaft im Interesse der völligen Aufhebung jeder Ausbeutung, d.h. im Interesse der ungeheuren Mehrheit des Volkes gegen die verschwindend kleine Minderheit der modernen Sklavenhalter, d.h. der Gutsbesitzer und Kapitalisten."

Das würde heute zum Beispiel bedeuten, daß die Mehrheit der Bevölkerung, die den Atomausstieg wollen, sich durchsetzen könnten gegen die wenigen Nutznießer der Atomkraft - die spitzenmäßig an der Atomenergie verdienen. Es würde bedeuten, daß Schulen und Krankenhäuser statt der Eurofighter oder Steuergeschenke für die Reichen finanziert würde. Daß die Masse der Armen in den Sweat Shops und Maqilladores der "Dritten Welt" die Kontrolle haben würden statt der multinationalen Firmen. Kurzum, das Wohl der Masse der Menschen würde zum Leitmotiv der Gesellschaft werden statt der Profite der wenigen Kapitalisten. Es würde einen Wandel bedeuten schreibt Lenin: "Von der bürgerlichen Demokratie zur proletarischen, von der Unterdrückerdemokratie zur Demokratie der unterdrückten Klassen, vom Staat als besondere Gewalt zur Niederhaltung einer bestimmten Klasse, zur Niederhaltung der Unterdrücker durch die allgemeine Gewalt der Mehrheit des Volkes, der Arbeiter und Bauern."

Das werden die Kapitalisten niemals freiwillig akzeptieren. Die Kontrolle über den Reichtum, den normale Menschen Tag für Tag schaffen, muß ihnen entrissen werden, um ihrem Marktwahnsinn, der unsere Welt heute kaputt macht, ein Ende zu setzen. Alles anderes, meint Lenin, sei Traümerei:

"Die kleinbürgerlichen Demokraten, diese Pseudosozialisten, die den Klassenkampf durch Träumereien von Klassenharmonie ersetzten, stellten sich auch die sozialistische Umgestaltung träumerisch vor, nicht als Sturz der Herrschaft der ausbeutenden Klasse, sondern als friedliche Unterordnung der Minderheit unter die sich ihrer Aufgaben bewußt gewordene Mehrheit."

Aber bedeutet ein Staat der ArbeiterInnen, nicht immer noch Herrschaft? Doch. Aber diese Herrschaft ist notwendig wenn wir "Herr" über unsere eigene Welt, unsere eigene Zukunft werden wollen. Es würde aber, so argumentiert Lenin in "Staat und Revolution", der Anfang vom Ende jeglicher Herrschaft von Menschen über Menschen sein. Diese kollektive Herrschaft könne benutzt werden, die Herrschaft einzelner Individuen über unser Leben zu beseitigen; denn dadurch werde die Grundlage gelegt dafür, daß jegliche Herrschaft von Menschen über Menschen überflüssig werde.

Lenin zitiert Engels: "Indem er (der Staat) endlich tatsächlich Repräsentant der ganzen Gesellschaft wird, macht er sich selbst überflüssig. Sobald es keine Gesellschaftsklasse mehr in der Unterdrückung zu halten gibt, sobald mit der Klassenherrschaft und dem in der bisherigen Anarchie der Produktion begründeten Kampf ums Einzeldasein auch die daraus entspringenden Kollisionen und Exzesse beseitigt sind, gibt es nichts mehr zu reprimieren, das eine besondere Repressionsgewalt, einem Staat, nötig machte. Der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt - die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft - ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat."

Das heißt: "An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht 'abgeschafft' er stirbt ab." Dazu kommen wir später wieder.

Das Absterben des Staates

Der bürgerlichen Staat mußte also "zerschlagen", "zerstört", "zerbrochen" werden - Lenin wiederholt diese Worte immer wieder. Man fühlt die Dringlichkeit dieser "Staatsfrage", die sich aus der revolutionären Situation in Rußland ergibt, in Lenins Text deutlich. Auf anderem Wege würde die Revolution nicht erfolgreich sein können.

Die Massen müssten den bürgerlichen Staat durch ihren eigenen "Arbeiter-und-Bauern-Staat" ersetzen, um überhaupt mit dem Aufbau einer anderen Gesellschaft beginnen zu können. Sie mußten zu "neuen Herren" der eine neuen Ordnung werden. Damit würde aber eine neue Phase der gesellschaftlichen Entwicklung eingeleitet.

Lenin zitiert Engels:

"Indem er endlich tatsächlich Repräsentant der ganzen Gesellschaft wird, macht er sich selbst überflüssig. Sobald es keine Gesellschaftsklasse mehr in der Unterdrückung zu halten gibt, sobald mit der Klassenherrschaft und dem in der bisherigen Anarchie der Produktion begründeten Kampf ums Einzeldasein auch die daraus entspringenden Kollisionen und Exzesse beseitigt sind, gibt es nichts mehr zu reprimieren, das eine besondre Repressionsgewalt, einem Staat, nötig machte. Der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt - die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft - ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat."

Das heißt:

"An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht 'abgeschafft' er stirbt ab."

Der Moment, in dem der Staat der überwältigenden Mehrheit die Macht erobert, wird der Anfang vom Ende des Staates überhaupt eingeleitet. Es ist der Anfang einer Transformation in eine klassenlose Gesellschaft. Die Macht der alten Gesellschaft wird aktiv abgebaut durch die ArbeiterInnen selber, durch ihre eigene neue Machtposition und ihren Staat. Je mehr die ArbeiterInnen sich durchsetzten, desto mehr werden die Klassengegensätze sich auflösen. Die Grundlage für des Existenz des Staates wird nach und nach verschwinden. Denn, meint Lenin:"in einer Gesellschaft ohne Klassengegensätze ist der Staat unnötig und unmöglich".

Die Vielzahl der Maßnahmen des ArbeiterInnenstaates zur Demokratisierung der Gesellschaft, für die Umverteilung des Reichtums, wird zu einem qualitativen Wandel führen: "Hier ist gerade einer der Fälle des "Umschlagens von Quantität in Qualität" wahrzunehmen: Die mit der denkbar größten Vollständigkeit und Folgerichtigkeit durchgeführte Demokratie verwandelt sich aus der bürgerlichen Demokratie in die proletarische, aus dem Staat (= eine besonderen Gewalt zur Unterdrückung einer bestimmten Klasse) in etwas, was eigentlich kein Staat mehr ist."

Lenin betont aber immer wieder, das dies nur möglich sei, wenn die Bewegung versteht, daß der Anfang vom Ende der Existenz jeglicher Art von Staat der revolutionäre Sturz des bürgerlichen Staates durch die arbeitenden Massen sei. Er greift vehement die sozialdemokratischen Interpretation von Engels Satz über das Absterben des Staates an:"Ohne zu fürchten fehlzugehen, darf man sagen, daß von dieser wunderbar gedankenreichen Engelsschen Betrachtung nur so viel wirkliches Gemeingut des sozialistischen Denkens in den heutigen sozialistischen Parteien geworden ist, daß der Staat nach Marx ‘abstirbt’, im Unterschied zur anarchistischen Lehre von der der Abschaffung des Staates. Den Marxismus so zurechtzustutzen heißt ihn zu Opportunismus herabzumindern, denn bei einer solchen ‘Auslegung’ bleibt nur die vage Vorstellung von einer langsam, gleichmäßigen, allmählichen Veränderung übrig, als gebe es keine Sprünge und Stürme, als gebe es keine Revolution".

Pariser Kommune

Marx und Engels haben nicht einfach theoretisiert über der Frage des Staates. Lenin betont ständig, daß ihr theoretischer Beitrag aus der "Zusammenfassung der Erfahrung" des Klassenkampfes selbst kam, das heißt aus den Erfahrungen der Kämpfe der Ausgebeuteten und Unterdrückten gegen ihre Situation.

Die Erfahrung der Pariser Kommune von 1971, der ersten antikapitalistischen Revolution der ArbeiterInnen in die Geschichte, wo die ArbeiterInnen, für eine kurze Zeit die ökonomische und politische Macht eroberten. Die arbeitenden Massen von Paris stürzten den bürgerlichen Staat und begannen, eine neue Ordnung aufzubauen. Marx war wahnsinnig enthusiastisch über diese "Himmelstürmer" wie er sie nannte. Und er entwickelte seine Staatstheorie am weitesten durch seine Analyse der Erfahrungen der Pariser ArbeiterInnen. Dieser "praktische Schritt war wichtiger als Hunderte von Programmen und Auseinandersetzungen", schreibt Lenin. Die Pariser Kommune war eine Bestätigung für Marx und ein historischer Beleg für Lenin, daß die ArbeiterInnen nur durch den revolutionären Sturz der bürgerlichen Staatsmacht und durch Erorberung der ökonomischen Macht anfangen könnten, ihre eigene Demokratie aufzubauen. Interessant ist für uns an dieser Stelle, wie die Pariser KommunardInneen ihre eigene demokratischen Ordnung aufzubauen. Lenin zitiert Marx aus seinem Klassiker über die Kommune, "Bürgerkrieg in Frankreich": "Das erste Dekret der Kommune war ... die Unterdrückung des stehenden Heeres und seine Ersetzung durch das bewaffneten Volk ... Die Kommune bildete sich aus den durch allgemeines Stimmrecht in den Bezirken von Paris von Paris gewählten Stadträten. Sie waren verantwortlich und jeder Zeit absetzbar. Ihre Mehrzahl bestand selbstredend aus Arbeitern oder anerkannten Vertretern der Arbeiterklasse ... Die Polizei, bisher das Werkzeug der Staatsregierung, wurde sofort aller ihrer politischen Eigenschaften entkleidet und in das verantwortliche und jederzeit absetzbare Werkzeug der Kommune verwandelt. Ebenso die Beamten aller andern Verwaltungszweige. Von den Mitgliedern der Kommune an abwärts, mußte der öffentliche Dienst für Arbeiterlohn besorgt werden. Die erworbenen Anrechte und die Repräsentationsgelder der hohen Staatswürdenträger verschwanden mit diesen Würdenträger selbst ... Das stehende Heer und die Polizei ... einmal beseitigt, ging die Kommune sofort darauf aus, das geistliche Unterdrückungswerkzeug, die Pfaffenmacht, zu brechen ... Die richterlichen Beamten verloren jene scheinbare Unabhängigkeit, ... sie sollten ... fernerhin gewählt, verantwortlich und absetzbar sein."

Hier ist kein Platz, mehr darüber zu erzählen. Es zeigt, aber was für eine demokratische Ordnung möglich ist, wenn die ArbeiterInnen ihre eigene staatliche Instanz schaffen und ihr Schicksal in die eigene Hände zu nehmen. Dies war keine Utopie der Zukunft: es war gelebte Demokratie. Der Grund, warum die Kommune niedergeschlagen werden konnte, war, daß sie nicht entschlossen genug waren in ihren Repressionsmaßnahmen gegen die widerständige Bürokratie.

Lenin zeigt sich als begeisterte Anhänger der Demokratie der KommunardInnen - und verteidigt sie vehement gegen die Kritiker wie den Sozialdemokraten Bernstein, der sie als "primitiven Demokratismus" diffamierte: "Die Herabsetzung der Gehälter der höheren Staatsbeamten erscheint ‘einfach’ als Forderung eines naiven, primitiven Demokratismus. Einer der ‘Begründer’ des neuen Opportunismus, der frühere Sozialdemokrat Eduard Bernstein, übte sich wiederholt im Nachplappern der trivialen bürgerlichen Spötteleien über den ‘primitiven’ Demokratismus. Wie alle Opportunisten, wie auch die jetzigen Kautzkyaner, hat er absolut nicht begriffen, erstens, daß der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus ohne eine gewisse ‘Rückkehr’ zu ‘primitivem’ Demokratismus unmöglich ist, (wie soll denn sonst der Übergang zur Ausübung der staatlichen Funktionen durch die Mehrheit der Bevölkerung, ja durch die ganze Bevölkerung ohne Ausnahme erfolgen?), und zweitens, daß ‘primitiver demokratismus’ auf der Basis des Kapitalismus und der kapitalistischen Kultur etwas anderes ist als der primitive Demokratismus der Urzeit oder der vorkapitalistischen Zeit."

Diese Demokratie, errungen durch den gewaltsamen Sturz der Bourgeoisie durch die bewaffneten ArbeiterInnen und verteidigt durch die neue Herrschaft der bewaffneten ArbeiterInnen war das erste tatsächlich demokratische System, das die Welt erlebt hat. Es war unvergleichbar mit der bürgerlichen parlamentarischen Demokratie, wo man, wie Marx es formulierte "einmal in drei oder sechs Jahren...entscheiden" konnte "welches Mitglied der herrschenden Klasse das Volk im Parlament ver- und zertreten soll." Die Kommune "sollte nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zugleich."

Die erste und die höhere Phasen der kommunistischen Gesellschaft

Lenin, Marx und Engels verzichteten auf Prophezeiungen, wie eine kommunistische Gesellschaft aussehen könnte. Dies überließen sie anderen, wie z.B. den Utopischen Sozialisten des 19.Jahrhundert, die wunderbaren Zukunftsvisionen entwickelten. Marx, Engels und Lenin waren hingegen klarer in Bezug auf die Grundzüge einer realistischen Transformation der Klassengesellschaft in eine sozialistische und schließlich kommunistische Gesellschaft. Ein ganzes Kapitel in "Staat und Revolution" ist dieser Frage gewidmet. Es ist realistisch und (gerade deshalb) inspirierend zugleich.

"Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andre", schrieb Marx. In dieser Periode wird eine "revolutionäre Diktatur des Proletariats" den Wandel organisieren - in andern Worten: Die Mehrheit würde im Interesse der Mehrheit, mit voller "Macht", vollziehend und gesetzgebend zugleich, eine neue Gesellschaftsordnung anstreben.

Sie wird die gesamten gesellschaftlichen Ressourcen zu Verfügung haben: "Man stürze die Kapitalisten, man breche mit der eisernen Faust der bewaffneten Arbeiter den Widerstand dieser Ausbeuter, man zerschlage die bürokratische Maschinerie des modernen Staates - und wir haben einen von dem ‘Schmarotzer’ befreiten technisch hochentwickelten Mechanismus vor uns, den die vereinigten Arbeiter sehr wohl selbst in Gang bringen können, indem sie Techniker, Aufseher, Buchhalter anstellen und ihrer aller Arbeit, wie die Arbeit aller ‘Staats’beamten überhaupt, mit Arbeiterlohn bezahlen".

Sie wird auch mit dem negativen Erbe der Vergangenheit umgehen müssen: "Eine kommunistische Gesellschaft [entsteht, d. Verf.] nicht wie sie sich auf ihrer eigenen Grundlage entwickelt hat sondern umgekehrt, wie sie eben aus der kapitalistische Gesellschaft hervorgeht; die also in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet ist mit den Muttermalen der Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt."

Es wird Zeit brauchen, diese "Muttermale" zu beseitigen. Deshalb spricht Lenin, wie Marx, von einer "ersten", "niederen Phase des Kommunismus" oder von Sozialismus. In dieser Gesellschaft wird es "gleiche Rechte" für alle geben. Und es wird noch nach Leistung bezahlt. Aber das Prinzip der gleichen Rechte ist nicht gerecht, weil Menschen ungleich sind: Der eine hat Kinder, der andere nicht, der eine ist schwächer als der andere und so weiter. Daß die Menschen wirklich gerecht bezahlt werden für das, was sie leisten, ist ein Fortschritt. Und die erste Phase des Kommunismus wird auch eine Aufhebung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen bringen durch die Vergesellschaftung der Produktionsmittel in Gemeineigentum. Trotzdem werden die Unterschiede in der Verteilung der Reichtum, wenn diese Unterschiede auch um ein Vielfaches geringer sein werden als im Kapitalismus, nicht aufgehoben sein. Noch spielt der Staat eine agierende Rolle in die Gesellschaft.

"Der Staat stirbt ab, insofern es keine Kapitalisten, keine Klassen mehr gibt und man daher auch keine Klasse mehr unterdrücken kann. Der Staat ist aber noch nicht ganz abgestorben, denn noch bleibt die Wahrung des ‘bürgerlichen Rechts’, das die faktische Ungleichheit sanktioniert. Zum vollständigen Absterben des Staates bedarf es des vollständigen Kommunismus."

Erst in einer "höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft" sind die Menschen richtig frei:

"...nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch die Produktionskräfte gewachsen sind und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen - erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahnen schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jeden nach seinen Bedürfnissen!"

Im Kommunismus wird es keinen Grund für irgendeine Repressions- oder Staatsmaschinerie geben. Oder wie Lenin schreibt: "Solange es einen Staat gibt, gibt es keine Freiheit, Wenn es Freiheit geben wird, wird es keinen Staat geben".

Emanzipation

Lenins Werk bietet eine Strategie für die Selbstemanzipation der Menschheit. Es bietet uns eine Theorie für den praktischen Aufbau einer Bewegung für die Selbstemanzipation der Ausgebeuteten und Unterdrückten dieser Welt.

Die Broschüre "Staat und Revolution" wurde nicht zu Ende geschrieben. Lenin wollte ein Kapitel über die konkreten Erfahrung der russischen Revolutionen von 1905 und Februar 1917 schreiben. Die Oktober-Revolution kam dazwischen. Lenin war allerdings alles andere als enttäuscht. Im Nachwort vom November 1917 schreibt er: "Über eine solche ‘Verhinderung’ kann man sich nur freuen [...] es ist angenehmer und nützlicher, die ‘Erfahrungen der Revolution’ zu machen, als über sie zu schreiben".

Die Revolution war erfolgreich und brachte eine Explosion kreativer Energie von Millionen in Rußland und anderen Ländern. Der revolutionäre Welle schwappte zwar in andere Länder, doch wurden die dortigen Revolutionen niedergeschlagen. Rußland blieb isoliert und seine revolutionäre Energie wurde von Stalin ausgelöscht.

"Staat und Revolution" zeigt aber, das Lenin eine ganz andere Politik als Stalin vertrat. Während der Stalinismus auf dem Müllhaufen der Geschichte landete, sollten wir die wertvollen Ideen aus dieser kleinen Broschüre für unseren eigenen Kampf gegen den Kapitalismus heute verwenden. Die französische Reaktion tötete die Pariser Kommune, Stalin tötete die revolutionäre Bewegung in Russland. Aber der Kampf gegen Konzernherrschaft ist heute wieder aufgeflammt. Die Ideen in "Staat und Revolution" können uns dabei helfen, das wir diesen Kampf gewinnen. Zuletzt noch ein par Worte von Lenin über eine Zukunft, die dieses Mal uns gehören könnte: "Als Endziel setzen wir uns die Abschaffung des Staates, d.h. jeder Gewaltanwendung gegen Menschen überhaupt. Wir erwarten nicht, daß eine Gesellschaftsordnung anbricht, in der das Prinzip der Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit nicht eingehalten werden würde. Doch in unserem Streben nach Sozialismus sind wir überzeugt, daß er in den Kommunismus hinüber wachsen wird und daß im Zusammenhang damit jede Notwendigkeit der Gewaltanwendung gegen Menschen überhaupt, der Unterordnung eines Menschen unter den andern, eines Teils der Bevölkerung unter den anderen, verschwinden wird, denn die Menschen werden sich daran gewöhnen, die elementaren Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens ohne Gewalt und ohne Unterordnung einzuhalten. Um diese Element der Gewohnheit zu betonen, spricht Engels eben von einem neuen Geschlecht, das, ‘in neuen, freien Gesellschaftszuständen herangewachsen, imstande sein wird, den ganzen Staatsplunder von sich abzutun’ - jedes Staatswesen abzuschaffen, auch die demokratisch -republikanischen".




Sozialismus von unten, Nr. 6, Frühjahr 2001