Sozialismus von unten
Magazin für antikapitalistische
Debatte & Kritik

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Nr. 6, Frühjahr 2001

[Inhaltsverzeichnis SVU Nr.6]


Vom Wirtschaftswunder zur Stagnationskrise:

Wie stabil ist der heutige Kapitalismus?

Die FAZ sah sich unlängst in einem großen Artikel genötigt zu betonen, daß die Welt nicht vor einer Weltwirtschaftskrise à la 1929 steht. Das neoliberale Kieler Institut für Weltwirtschaft führt aus, daß den USA trotz "vordergründig ... auffallender Parallelen" keine Dauerstagnation droht, wie sie in Japan nun schon seit 1990 herrscht. Daß solche Untergangsthemen den rechten bürgerlichen Rand erreicht haben, zeigt, wie tief sich die Probleme des Marktes in den Mainstream eingefressen haben. Immer noch glauben aber viele Linke, die Marktwirtschaft wäre "zu stabil" oder "zu stark", um sie zu "überwinden". In den folgenden, sich aufeinander beziehenden zwei Artikeln wird diese These von Tobias ten Brink und Thomas Walter überprüft.
Erstens werden die Prozesse beschrieben, die den Kapitalismus aus einer langen Boomphase der Nachkriegsjahrzehnte in eine Situation führten, in der seit den 70er Jahren eine Phase tiefer Probleme auftrat - regelmäßig wiederkehrende und zum Teil verheerende Wirtschaftskrisen, Arbeitslosigkeit und größeres soziales Elend waren und sind der Ausdruck dieser stagnativen Phase. Zweitens wird der Frage nachgegangen, inwiefern die seit den 70ern andauernden Versuche des Kapitals, den Kapitalismus umzustrukturieren, etwas gegen die Instabilität des Systems ausrichten konnten.

1. Vom Wachstum zur Stagnation

Wenn man anhand einiger wichtiger volkswirtschaftlicher Daten die Situation der Menschen im Kapitalismus in der Zeit zwischen 1949 bis 1973 (erste sog. Ölkrise) mit der Situation von heute vergleicht, kann man deutliche Veränderungen feststellen: Zu der damaligen Zeit, im sogenannten "Wirtschaftswunder", galt der Kapitalismus als ein System, welches funktionierte. Zwar haben der erste Weltkrieg, die Weltwirtschaftskrise ab 1929, Faschismus und Zweiter Weltkrieg eigentlich bewiesen, daß es mit dem "Funktionieren" des Kapitalismus so nicht ganz stimmen kann, doch gab es nach dem Zweiten Weltkrieg ein vergleichsweise kräftiges bzw. stabiles Wachstum. So nahm das Wirtschaftswachstum, genauer das Bruttoinlandsprodukt (BIP), nach Abzug von Preissteigerungen, also "real", von 1950 bis 1960 jahresdurchschnittlich in der BRD um 8 % zu, in den 90er Jahren dagegen nur noch um rund 1,5 %.1 Von diesem hohen Wachstum fiel auch etwas für die Arbeitnehmer ab. Real nahmen die Nettolöhne je Kopf in den 50er Jahren um 5,4 % jahresdurchschnittlich zu, in den 90er Jahren gingen sie dagegen jährlich um 0,4 % zurück! Eine Studie stellt für die damalige Zeit fest: "[D]ie durchschnittliche tarifliche Wochenarbeitszeit des Arbeitnehmers [konnte gleichzeitig] von 48 Stunden im Jahre 1953 auf 41 Stunden im Jahre 1970 herabgesetzt werden."2
Angesichts eines solchen Wirtschaftswachstums schmolz die anfangs hohe Nachkriegsarbeitslosigkeit in der BRD dahin wie Schnee in der Frühlingssonne. 1950 betrug die Arbeitslosenrate noch 11 %, Anfang der 60er Jahre nicht einmal mehr 1 %. Weniger als 200.000 waren arbeitslos, ab 1960 wurde sogar auf "Gastarbeiter" zurückgegriffen. In der ersten Krise nach dem Krieg, 1967, schnellte die Arbeitslosigkeit auf 2 % hoch. Doch schnell war diese Rezession überwunden. Die Arbeiter hatten damals das Gefühl, von Jahr zu Jahr mehr Möglichkeiten zu haben, ohne den Kapitalismus in Frage stellen zu müssen. Die hohen Wachstumsraten waren von kräftigen Gewinnen begleitet, was es dem Kapital gestattete, einige Stücke vom Profitkuchen "abzugeben". Es schien eine kooperative Politik zwischen Kapital und Arbeit möglich - Arbeitgeber und Gewerkschaften arbeiteten "sozialpartnerschaftlich" zusammen. Gewerkschaftskämpfe wurden mit zum Teil großzügigen Zugeständnissen beantwortet. Resultat war die Integration großer Schichten der Arbeitnehmer und der Arbeiterbewegung in eine kapitalismusfreundliche Ideologie, die ihnen großartige Wachstums- und damit Wohlstandsaussichten versprach - eine Illusion, wie sich später herausstellte.
Inzwischen hat sich die Lage kräftig verändert. Die Wachstumsraten des "goldenen" Zeitalters sind vorbei, der Kapitalismus lahmt. Auch die Politik hat sich geändert. Statt der damaligen Ausweitung des Sozialstaates (freilich unter dem Druck der Gewerkschaften, der z. B. zur Einführung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle führte) gibt es seit der Krise in den 70er Jahren jetzt laufend Versuche, soziale Errungenschaften abzubauen und zu "sparen". Galten in der Rezession 1967 eine halbe Million Arbeitslose als viel, sind es heute rund vier Millionen offizielle Arbeitslose. Die arbeitssparenden Rationalisierungen führen nicht, wie es in einer vernünftigen Welt möglich wäre, zu einem höheren Lebensstandard und einer kürzeren Arbeitswoche, sondern zu mehr Armut in einer an sich reichen Gesellschaft. Statt mehr Freizeit werden mehr Überstunden gefahren.
Der "Irrsinn der Marktwirtschaft" wird immer deutlicher: Die Herrschenden klagen über die hohen Lohnkosten, dabei steigen die Gewinne im Vergleich zu den Löhnen seit zwanzig Jahren stärker. Der Sozialstaat sei zu teuer, dabei bleiben die Löhne einschließlich sämtlicher Sozialabgaben hinter dem Wachstum des BIP zurück. Die Rentner werden angeblich zu teuer, dabei zeigen überschlägige Rechnungen, daß jährlich ein zusätzliches Wachstum von 0,5 % des BIP ausreichte, um die Verschiebung im Altersaufbau aufzufangen. Die Renten sollen über die Finanzmärkte sicherer gemacht werden, dabei fahren die Aktienkurse Achterbahn. Zwar hat sich das BIP je Kopf seit den 50er Jahren von sehr niedrigem Niveau aus kräftig erhöht, und dies hat eine Reihe neuer Konsumgüter auch für die Arbeiter und Arbeiterinnen gebracht, doch gerade im existenziellen Bereich, im Bereich der sozialen Sicherung, hat sich im Vergleich der heutigen Zeit zu damals wenig getan. Der Zwang, daß fast alle arbeiten müssen, um zu überleben, damit wenige ihre Profite einstreichen können, ist geblieben. Der Widerspruch zwischen den technischen und kulturellen Möglichkeiten einerseits und den damit verbundenen potentiellen Möglichkeiten zur Befriedigung der Wünsche der Bevölkerung und dem tatsächlich Erreichten ist größer geworden.
Dies gilt nicht nur für Deutschland, sondern für die Welt insgesamt. Gab es in den 60er Jahren noch die an den Schulen gelehrte Hoffnung, daß die "Entwicklungsländer" bald die reichen Länder eingeholt haben würden, so ist heute Afrika abgeschrieben und Südamerika da, wo es schon immer war - ein ewiges "Schwellenland". Auch der Zusammenbruch des Erzfeindes im Ostblock hat den Kapitalismus nicht humaner gemacht. Im Gegenteil, die Jahre nach 1989 waren alles andere als friedlich, worüber unzählige Kriege, Bürgerkriege und eine dramatische Zuspitzung der Armut gerade in den ehemaligen Ostblockstaaten Zeugnis ablegen.
Dementsprechend findet man heute viel weniger Menschen als früher, die optimistisch in die Zukunft blicken, wenn es um ihre sozialen Perspektiven geht. Das Vertrauen in die Marktwirtschaft zeigt Risse. In einem Artikel der Christlich Demokratischen Arbeitnehmer (CDA), dem "Arbeitnehmerflügel" der CDU, wird festgestellt: "Bis in die neunziger Jahre glaubte eine Bevölkerungsmehrheit an die gemeinsame Interessenlage zwischen Wirtschaft und Bürgern. Das ist umgeschlagen: Jetzt ist die Mehrheit der Bevölkerung überzeugt, daß sich die Interessengemeinschaft zwischen Bevölkerung und Wirtschaft am Standort Deutschland auflöst."
71 % der Bevölkerung seien überzeugt, die Zukunft werde unsicherer, die Gesellschaft härter. Und weiter: "Die Demonstrationen in Seattle und Davos um die Jahrhundertwende 2000 gegen die Welttreffen der ‚Globalisierer' waren Vorboten für eine politische ‚Klimaerwärmung'."3 Die Frage, die sich stellt, ist die nach den Gründen für die Veränderung eines Kapitalismus, der die Menschen integrierte, hin zu einem Kapitalismus, der sie ausspuckt.

Das Ende des Wirtschaftswunders

Was hat sich verändert, daß aus dem stabilen Wirtschaftswachstum der Nachkriegszeit eine Situation erwuchs, die immer mehr im Gegensatz zu den Interessen der überwältigenden Mehrheit der Weltbevölkerung steht?
Um das zu beantworten, muß zuerst die Frage nach den enorm hohen Wachstumsraten geklärt werden. Ein Wirtschafts-"Wunder" war es nämlich nicht, was sich in der Welt nach 1945 abspielte. Eine wichtige Ursache für den Boom war die Vernichtung und Abnutzung von Kapital im Krieg. Die Verwüstung von Produktionsanlagen, Städten und ganzen Regionen in Europa und der Kapitalverschleiß in den USA ermöglichte dem Kapitalismus eine neue Runde wirtschaftlichen Wachstums.
Die Kriegsindustrie wurde aber, anders als nach dem ersten Weltkrieg, nicht auf zivile Produktion umgestellt. Statt dessen setzte mit dem Kalten Krieg ein gigantischer Rüstungswettlauf ein. Staatliche Investitionen füllten die Auftragsbücher der Kriegsindustrie wie zu besten Weltkriegszeiten. In den USA ging jeder fünfte Steuerdollar in Rüstungsaufträge, was - wegen der stabilen Nachfrage nach Rüstungsgütern und Gütern der damit verbundenen Industrien - einen stabilen Aufschwung ermöglichte.4 Das Wirtschaftswunder basierte also genaugenommen auf der Zerstörungsorgie des Zweiten Weltkriegs und dem Schrecken der Atombombe im Rüstungswettlauf.5 Diese besondere Konstellation zwischen den von den USA und der UdSSR geführten Blöcken war jedoch nicht von Dauer - es entwickelten sich Widersprüche, die die ökonomischen Auswirkungen dieser politischen Konstellation untergruben.
Die Rüstungsausgaben waren nämlich ungleich verteilt. Da Deutschland und Japan als Weltkriegsverlierern die Aufrüstung in großem Maßstab verboten war, hatten sie viel geringere Rüstungsausgaben als die USA oder die UdSSR und konnten so ihre zivile Industrie schneller aufbauen. So eroberten sie Segmente des Weltmarkts (z. B. die Automobilindustrie) und erlebten eine anhaltende, vor allem auf dem Export gründende Konjunktur, die noch stärker als die der USA war. So wurden die schnellstwachsenden Ökonomien zu harten Konkurrenten der unmittelbar nach 1945 komplett dominierenden USA, was die amerikanische Wirtschaft zu einem Schwenk zwang, der die Stabilität auf den Weltmärkten untergrub: Die Rüstungsausgaben konnten in dieser Form nicht mehr aufrechterhalten werden, die Investitionen in die Zivilwirtschaft wurden gesteigert. Waren bisher die USA mit ihren Rüstungsausgaben Zugpferd der Weltwirtschaft, so meldeten sie sich jetzt als Konkurrent zurück.
Die neue Situation ließ die hohen Gewinne, genauer gesagt die Profitraten - ähnlich wie in früheren Zeiten - jedoch wieder schneller fallen, und die Weltwirtschaft geriet ins Wanken. Ab 1973 brach die erste ernsthafte Wirtschaftskrise seit dem Krieg aus, die in ihrem Verlauf auch die BRD traf.6 Infolge der Krise kam auch das sogenannte Bretton-Woods-System fester Wechselkurse an sein Ende.7
Die 70er - die Krisen melden sich zurück "In marktwirtschaftlich-kapitalistischen Ordnungen dreht sich letztlich alles um die Rentabilität des eingesetzten Kapitals, hier als Profitrate bezeichnet. Sie bestimmt die Höhe der Investitionen und damit das Wirtschaftswachstum sowie die Beschäftigung."8.
Was Prof. Heinz-J. Bontrup schreibt, bedeutet, daß im Falle des Sinkens der Profitraten die Wirtschaft in ernste Schwierigkeiten gerät. Genau das passierte mit der Auflösung der Konstellation der 50er und 60er Jahre.
Mit der Wirtschaftskrise in der ersten Hälfte der 70er Jahre und spätestens in der nächsten weltweiten Krise zu Beginn der 80er Jahre wurde deutlich, daß die alten Krisenmerkmale wieder da waren. Grundsätzliches Problem waren die seit den 60ern gesunkenen Profitraten. Es entstand ein Problem, welches im Kapitalismus immer wieder auftritt, wenn die Investition in die Produktion zu einem nicht mehr so sicheren Mittel wird, das Kapital zu expandieren, d. h. Profite zu realisieren: Ein enormer Kapitalüberschuß wuchs an. Es existierte zuviel Kapital für zu wenig lohnende Investitionen. Es war also schwieriger als vorher, profitable Investitionen zu tätigen, weil die Profitraten gefallen waren.
In solchen Szenarien, und diese tauchen seit dem Bestehen des Kapitalismus immer wieder auf, wird eine Umstrukturierung notwendig, eine Tatsache, die Marx schon 1848 betonte: "Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftliche Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren."9 Als Reaktion auf die Krise der 70er Jahre versuchte das Kapital nun mit allen erdenklichen Mitteln Wege zu finden, die Rentabilität des eingesetzten Kapitals wieder zu erhöhen - die neoliberale Wende seit Ende der 70er war der ideologische Ausdruck dieses Versuchs.10 Grundlage für diese Wende war die Erfahrung des mißlungenen Versuchs, mit Hilfe keynesianischer, staatsinterventionistischer Methoden die Krisen zu bekämpfen. Die damals noch vorherrschende Wirtschaftslehre - der heute seitens der Konzerne oft verpönte Keynesianismus - wurde durch den Neoliberalismus, auch als Monetarismus bezeichnet, ersetzt.

Wie reagierte das Kapital, um die Profite wieder zu heben?

Im wesentlichen gab es zwei Wege, durch die das Kapital versuchte, die Instabilität wieder in den Griff zu bekommen11 - im eigenen Staat (nach innen) und über die Staatsgrenzen hinweg (nach außen).
Der Angriff nach innen: Überall auf der Welt wurde - ideologisch unterstützt durch neoliberale Propaganda - seit den 70er Jahren eine massive Umverteilung von Reichtum durchgesetzt, die sich in der BRD vor allem ab den 90ern immer drastischer bemerkbar machte. Aus Sicht des Kapitals "unnötiger Ballast", wie erkämpfte soziale Rechte, der Sozialstaat, bestimmte Bildungsmöglichkeiten usw., wurde weltweit zum Teil sehr erfolgreich "abgeworfen".
In den USA beweisen Studien, daß ein Arbeitnehmer 1997 im Vergleich zu 1983 zwischen 158 und 223 Stunden - also zwischen 4 und 6 Wochen jährlich! - mehr arbeiten muß, um den Lebensstandard in etwa zu halten.12 In Deutschland betragen die Lohnsteuern 270 % des Niveaus von 1980. Im Gegensatz dazu wurden die Unternehmenssteuern gesenkt, um die Profitraten zu subventionieren.13 Aber auch neue Arbeitsverhältnisse wurden durchgesetzt. Unter dem wohlklingenden Stichwort Flexibilisierung verbargen sich Angriffe auf die Arbeitszeiten, die Arbeitsbedingungen, etc. Hinter den Privatisierungen von Staatsbetrieben lag ebenfalls das Vorhaben, der Wirtschaft profitträchtige Bereiche zum Geschenk zu machen.
Die Wende nach außen und die Finanzmärkte: Das Kapital wandte sich aber auch verstärkt nach außen. Es schwärmte bildlich gesprochen aus: Wie bei den Bienen, wenn es nicht mehr genug Honig im Bienenstock gibt, um eine expandierende Population zu nähren, ein Teil wegfliegt auf der Suche nach einer neuen Behausung, internationalisierte sich ein Teil des Kapitals. Es nahm und nimmt die flüssige Form von Geld an und durchströmt die Welt nach Wegen, neue Profite zu realisieren.14 Kapitalexport: Neben dem Export von Waren kam etwas neues hinzu - der direkte Export von Kapital, um die Wettbewerbsposition zu verbessern, so z. B. durch Übernahmen von Firmen im Ausland, Aktienbeteiligungen, von Zweigwerken usw. Sogenannte Direktinvestitionen (bei denen im Gegensatz zu einfachen Geldanlagen bei ausländischen Banken Anteile von anderen Unternehmen erworben werden) stiegen von 32,2 Mrd. DM 1973 auf 543,9 Mrd. DM 1997 an.15 Um das weltweit im Interesse der großen Wirtschaftsnationen durchsetzen zu können, mußten alte Barrieren gebrochen und neue technische Voraussetzungen (die Verbreitung von elektronischen Informations- und Kommunikationsmedien) geschaffen werden. Auch dies geschah - die sogenannte Deregulierung der Weltmärkte, beispielsweise die Abschaffung von Kapitalverkehrskontrollen, bediente die neuen Wünsche der Konzerne und der ihnen helfend beiseite stehenden jeweiligen Nationalstaaten.
Finanzmärkte: Viele Kapitalisten suchten ihr Glück an den internationalen Finanzmärkten in der Aktien- und Devisenspekulation. Wieso wurde verstärkt an Börsen "gewettet", anstatt in die eigene Produktion zu investieren? Die größere Bedeutung der Finanzmärkte und als wichtige Voraussetzung dafür deren Liberalisierung ist ebenfalls als ein Resultat einer sich seit den 70er Jahren tendenziell verschärfenden Situation auf den "realen" Weltmärkten zu verstehen. Die größere Bedeutung international nach Anlage suchender Kapitalströme und deren oftmals spekulative Beschäftigung resultiert im wesentlichen aus den Problemen im Wirtschaftskreislauf der Industriestaaten: Vor dem Hintergrund eines international bestehenden erhöhten Konkurrenzdruckes seit den 70er Jahren aufgrund insgesamt allgemein gesunkener Profitraten, wurde die Anlage von Kapital im produktiven Sektor stärker als noch in den 50er/60er Jahren zum Risiko, und die Bereitschaft, sich über Finanzanlagen an den Profiten anderer zu beteiligen, wuchs. Rainer Roth schreibt:
"Kapital wird überschüssig, wenn es aufgrund des selbstverursachten Falls der Profitraten nicht mehr ausreichend verzinst wird. ... Das überschüssige Kapital will mit produktiven Investitionen nichts mehr zu tun haben. ... da der heimische Markt für das zunehmend beschäftigungslose Kapital relativ immer kleiner wird, wandert es mehr und mehr aus. Firmenübernahmen, Privatisierungen, Kredite und Finanzanlagen aller Art sind seine Arbeitsmethoden ... Der Kapitalüberschuß drängt international seit Mitte der 80er Jahre in die Aktienanlage."16
Dritte Welt: Um dem tendenziellen Fall der Profitrate entgegenzuwirken, haben die kapitalistischen Länder seit den 80er Jahren zudem ihre Bemühungen, die "Dritte Welt" auszubeuten, verstärkt - mit Erfolg. Weltbank, Internationaler Währungsfonds (IWF) und internationale Handelsabkommen, z. B. im Rahmen der WTO17, verschärften die Ausbeutung der "Dritten Welt" im Interesse der stärksten Länder. Unter dem Schlagwort des Freihandels und der Globalisierung wurden die Märkte der "Dritten Welt" rücksichtslos für die Wirtschaftsmächte geöffnet.18
Ob die gesamten Umwälzungen im Kapitalismus eine wieder erhöhte Stabilität bewirkt haben, ist die Fragestellung des folgenden Artikels.



1 Statistisches Bundesamt: Fachserie 18
2 A. Klönne, H. Reese: Kurze Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Frankfurt/M. 1986, S. 237
3 H. C. Lange: "Chance für einen Neuanfang", Soziale Ordnung 5-6/2000
4 In der Kürze kann hier kein umfassender Überblick über die Erklärung der Stabilisierung des Kapitalismus durch eine permanente Rüstungswirtschaft gegeben werden. Zum Weiterlesen empfiehlt sich: Michael Kidron: Rüstung und wirtschaftliches Wachstum. Ein Essay über den westlichen Kapitalismus nach 1945, Frankfurt 1971; Chris Harman: Explaining the crisis, London 1999 (1984); Tony Cliff: Die Ursprünge der Internationalen Sozialisten, Frankfurt 1999; H. Grossmann: Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems, Frankfurt/M. 1970 (Leipzig 1929)
5 D. h. auch, daß alle, die heute glauben, man müßte einfach wieder den "guten alten Kapitalismus der 50/60er" einschalten, fehl liegen. Eine Wiederholung dieser Art von Konjunkturprogramm kann man sich wohl kaum wünschen! Es wäre allerdings auch aus ökonomischen Gründen nicht wiederholbar.
6 In der Geschichte des Kapitalismus tauchen wirtschaftliche Krisen ständig auf. Sie sind keine Betriebsunfälle, sondern entstehen aus der inneren Logik der Marktwirtschaft selbst. Außerdem unterliegen die Krisen einer Tendenz, sich zu verschärfen. Derjenige, der dies am klarsten verstand und niederschrieb, war Karl Marx. Seine Analyse der Krisen im Kapitalismus, in der er Theoreme wie den "tendenziellen Fall der Profitrate" als Erklärung der Tendenz zu sich verschärfenden Krisen erläutert, liegen auch diesem Text zugrunde. Wer sich eingehender mit der (hochaktuellen) marxistischen Kapitalismusanalyse auseinandersetzen möchte, der/die sei auf folgenden Texte verwiesen: K. Marx: Das Kapital, Bd. 1 (Marx-Engels-Werke, Bd. 23), Berlin 1964; Ders., Das Kapital, Bd. 3, (MEW, Bd. 25), Berlin 1964, S. 221-277; F. Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, Kap. III, Frankfurt/M. 1997 (Nachdr.). Gute marxistische Analysen des heutigen Kapitalismus schrieben z. B.: Chris Harman: Der Irrsinn der Marktwirtschaft, Frankfurt/M. 2000, Pete Green: Grundlagen der marxistischen Ökonomie, Frankfurt/M. 1996
7 Eine Rückkehr zu festen Wechselkursen (Bretton-Woods-System) wäre daher nur Symptombekämpfung.
8 H.-J. Bontrup, "Zur säkularen Entwicklung der Kapitalrentabilität", in: WSI-Mitteilungen, 11/2000
9 K. Marx/F. Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW, Bd. 4, Berlin 1959, S. 465
10 Natürlich wurden in unterschiedlichen Teilen der Erde auch jeweils spezifische Maßnahmen ergriffen. Die generelle Linie blieb aber ähnlich.
11 Wenn wir von Situation des Kapitals sprechen, meinen wir hier die durchschnittliche Situation des gesamten Kapitals. Es gab natürlich einzelne Betriebe, Branchen oder Länder, die höhere Profitraten realisierten, wie auch andere, die noch unter der Durchschnittsrate lagen.
12 Collins, Hutman, Sklar: Divided Decade, Boston 1999
13 Siehe R. Roth: "Bildung für alle?", in: HLZ, Zeitung der GEW Hessen, 12/2000, S. 22
14 Hierin steckt also ein reales Element der sog. "Globalisierung der Weltwirtschaft". Aber Achtung: Um sich der "Globalisierungs"-Ideologie der Neoliberalen widersetzen zu können - der Propaganda, die zur Begründung und Legitimierung von allerhand "Sachzwängen", von denen es angeblich abhängt, ob der vermeintlich schwer angeschlagene "Standort Deutschland" wieder fit gemacht werden und damit "unser aller Wohlstand gesichert" werden kann - ist es wichtig, bestimmte Fakten nicht aus den Augen zu verlieren: Der größte Teil der Produktion verbleibt heute weiterhin im Heimatstaat. Die Konzerne sind längst nicht so ungebunden, wie sie vorgeben zu sein. Vielmehr dient die Argumentation "Wenn ihr (gemeint sind die Beschäftigten) nicht spurt, dann gehen wir halt ins Ausland" der Angstmache, um im Heimatstaat (nach innen) Kürzungen betreiben zu können. Auch existiert eine ungleiche Qualität der Internationalisierung, einige Autoren sprechen daher, wenn sie den schwammigen Begriff "Globalisierung" erfassen wollen, von einer Regionalisierung (in drei Wirtschaftsblöcke, zwischen denen 80 % der Kapitalströme fließen). Viele Länder, darunter fast der gesamte afrikanische Kontinent, fallen völlig aus der angeblichen Globalisierung heraus.
15 Kredite von Banken/Unternehmen und Wertpapieranlagen im Ausland legten noch mehr zu: Zusammen von 93,8 Mrd. 1970 auf über 2 Bio. DM Ende der 90er. Siehe: R. Roth: Das Kartenhaus. Ökonomie und Staatsfinanzen in Deutschland, Frankfurt/M. 1999
16 Ebenda, S. 315-324
17 A. Bakan: Nach Seattle: Die Politik der Welthandelsorganisation WTO, Frankfurt/M. 2000; A. Freeman: "Crisis and the Poverty of Nations: Two Market Products Which Value Explains Better", Historical Materialism 2000, No. 5, S. 66-69
18 Freilich auch mit Zustimmung der dortigen Kapitalisten, die auf einen Anteil an den Profiten hoffen (z. B. in China).

2. Wie stabil ist der Kapitalismus heute?

Seit den 70er Jahren bemühen sich die Kapitaleigentümer, die Profitraten wieder auf ein höheres Niveau zu heben. Mit Hilfe neoliberaler Ideologien wurde versucht, diese Politik zu untermauern. Das Vorhaben scheiterte jedoch. Die Konzerne gehen zwar brutaler als früher gegen die Menschen vor, um möglichst viel aus ihnen herauszupressen, ihre Probleme (und erst recht die Probleme der Mehrheit) haben sie aber in keiner Weise gelöst:

1. Klappt es in den USA?

Als Argument für einen wieder stabilisierten Kapitalismus wird häufig auf die USA verwiesen. Dank neoliberaler Politik seien die USA Vorbild für den Rest der Welt und machten vor, wie Marktwirtschaft nach wie vor funktioniert. Dies hält jedoch einer näheren Betrachtung nicht stand.
Das konservative Wirtschaftsforschungsinstitut RWI in Essen kommt zu einem nüchternen Ergebnis.1 In den 90er Jahren war der Aufschwung in den USA schwächer als in den 60er oder den 80er Jahren, sowohl was das Bruttoinlandsprodukt als auch was die Zahl der Arbeitsplätze betrifft. Auch bei der Produktivitätsentwicklung kann das RWI trotz "New Economy"-Computertechnik in den USA für die 90er Jahre nichts entdecken, was bedeutend besser als in früheren Aufschwüngen gewesen wäre. Im übrigen nützen Produktivitätssteigerungen dem Kapitalismus wenig, weil es auf die Werte (Tauschwerte), nicht auf die Gebrauchswerte ankommt. Der Neue Markt stürzt nicht deshalb ab, weil die Firmen der neuen Technologie zu wenig produzieren, sondern weil sie zu wenig verdienen.
Doch was hat es mit den Erfolgen der USA bei den Arbeitslosen auf sich? Immerhin waren Ende der 90er Jahre in den USA mit sechs Millionen eine Million Menschen weniger arbeitslos als noch Anfang der 90er Jahre. Doch dem steht gegenüber, daß Ende der 90er Jahre fast eine Million mehr Menschen im Gefängnis saßen, inzwischen rund zwei Millionen2 bei einer Bevölkerung von rund 270 Millionen (zum Vergleich BRD 1998: 70.0003 bei einer Bevölkerung von rund 80 Millionen). Statistisch betrachtet kamen die Arbeitslosen einfach in den Knast.
Die USA schnitten in den 90er Jahren, vor allem Ende der 90er Jahre, auf einzelnen Gebieten besser ab als die Konkurrenz. Sie schnitten aber schlechter ab im Vergleich zu früheren Jahrzehnten. Die USA scheinen derzeit der "Einäugige unter den Blinden" zu sein. Die Frage, ob der Konjunkturabschwung, der seit Ende 2000 die Diskussionen in den Wirtschaftszeitungen prägt, zu einer echten Krise oder zu einer "weichen Landung" führt, erinnert daran, daß die "New Economy" kein neues System dauerhaften Wohlstands ist. Übrigens: Auch in den 20er Jahren, als eine ähnlich umfassende technologische Revolution stattfand (Telefon, Lastkraftwagen usw.), dachte man nicht mehr an die Krisenhaftigkeit des Marktsystems. 1926 wurde im "Wirtschaftsdienst" über die USA festgestellt: "Die stete Erwartung aller europäischen Betrachter, daß die durch Spekulation immer höher getriebene Produktion keine Abnehmer findet, das ganze auf Kredit errichtete Gebäude der Überproduktion in einer gewaltigen Krisis zusammenbricht, ist immer enttäuscht worden."
Dem wurde von Henryk Grossmann, einem marxistischen Wissenschaftler, kurz vor der Weltwirtschaftskrise 1929 entgegnet: "Trotz des Optimismus mancher bürgerlicher Theoretiker, welche glauben, daß es den Amerikanern gelungen ist, das Krisenproblem zu lösen und die Wirtschaft zu stabilisieren, sprechen viele Anzeichen dafür, daß wir uns dort einem Zustand der Überakkumulation nähern."4 Die gleich folgende Weltwirtschaftskrise gab ihm recht.

2. Wie steht es um die Wachstums- und Profitraten?

Tatsächlich schwächeln die Wachstumsraten des Weltkapitalismus stärker denn je seit 1945. Insbesondere Japan, die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt, stagniert seit zehn Jahren. Die Aufregung um das amerikanische Wirtschaftswunder macht also nur Sinn angesichts der schwachen Konkurrenz. Sie ist aber fehl am Platz vor dem Hintergrund anderer Entwicklungen: "Wären die westlichen Ökonomien während dieser Jahre [70er bis 90er] in demselben durchschnittlichen Tempo wie in den 20 Jahren zuvor gewachsen, dann hätte die Gesamtproduktion um 40 Prozent über den tatsächlichen Werten gelegen. Die aus Wirtschaftskrisen resultierende weltweite Verschwendung ist viel größer als die, die durch alle Naturkatastrophen zusammen [...] verursacht wird."5
Dies liegt weniger an natürlichen "Grenzen des Wachstums", als vielmehr an den von Marx herausgearbeiteten inneren Widersprüchen des Kapitalismus. Bürgerliche Ökonomen können z. B. nicht (ohne weiteres) erklären, weshalb die sogenannte "Kapitaleffizienz" ständig zurück geht. Das heißt, um eine bestimmte Vergrößerung des Bruttoinlandsprodukts zu erreichen, muß immer mehr investiert werden. Infolgedessen liegen die Profitraten z. B. in Deutschland Ende der 90er Jahre - so die Deutsche Bundesbank - niedriger denn je. Weltweit kann man bezüglich der Profitraten feststellen, daß die aggressive Politik der Kapitalisten Anfang der 80er Jahre durchaus eine Erholung bei den Profitraten gebracht hat, auch in Deutschland. Doch hielt sich diese Erholung verglichen mit den 60er Jahren in Grenzen, um inzwischen wieder tendenziell zu sinken - ein Beweis für die erhöhte Instabilität des Systems und damit der Gefahr von tieferen Rezessionen am Beginn des 21. Jahrhunderts.
Aber sind die Gewinne nicht doch horrend gestiegen? Zu Recht weisen Gewerkschaftler auf die rasante Profitentwicklung hin, damit verweisen sie allerdings nur auf die gesteigerte Profitmasse. Profitmasse meint die absolute Summe der Profite in DM. Aber der erforderliche Kapitalaufwand für Produktionsmittel ist noch stärker gestiegen, die Profitrate, die Summe der Profite im Verhältnis zum eingesetzten Kapital, also gesunken. Was nutzen einem Unternehmer 4 Mio. DM Profit(masse), wenn er dafür immer größerer Beträge für Kapitaleinsatz aufwenden muß, die Rendite (Profitrate) also sinkt?6

3. Fusionen - Die Konzentrationstendenz und ihre Folgen

Für die verschärfte Instabilität des Kapitalismus spricht auch die anhaltende Konzentrationstendenz - die Fusionswelle.7 So erleben die USA derzeit ihre fünfte und größte Fusionswelle seit 100 Jahren.8 Jede dieser Wellen endete bisher in einer Krise. Dem "schwarzen Freitag" der Weltwirtschaftskrise 1929 und der ersten und zweiten Ölkrise gingen jeweils Fusionswellen voraus. Was folgt der jetzigen, der mit über 10.000 Fusionen jährlich bisher größten Fusionswelle?
Nebenbei bemerkt: Vor dieser Fusionswelle haben die bürgerlichen Ideologen völlig kapituliert. Früher haben konservative Ökonomen gegen Fusionen als Einschränkung des "Wettbewerbs" gewettert und hielten hier sogar Staatseingriffe für zulässig. Seitdem die Fusionswelle richtig rollt, hüllen sich diese Kritiker in schamhaftes Schweigen. Fusionen sind kein Zeichen von Stabilität, sondern verweisen auf Probleme der Konzerne. Hintergrund sind die niedrigen Wachstumsraten. Das bedeutet: Die Nachfrage an den Märkten ist gesunken, was wiederum heißt, die Konkurrenz verschärft sich - wenn die Märkte sich nicht ausdehnen, wird der Kampf um den größtmöglichen Teil des Kuchens härter. Ein Weg, sich dem zu widersetzen, ist der Versuch, zu fusionieren. Bei Fusionen wird zum einen ein Konkurrent geschluckt, Belegschaften bis hinauf zum Management haben vor Fusionen Angst, weil die jetzt "doppelten" Arbeitskräfte, z. B. in Verwaltung, Vertrieb und Werbung, entlassen werden können.
Verschaffen Fusionen dem einzelnen Konzern eine Verschnaufpause, so wird dadurch bzw. durch die Konzentrationstendenz der Kapitalismus instabiler. Geht angesichts der weiter anhaltenden Krisentendenz einer dieser Giganten pleite, droht er die ganze Wirtschaft mitzureißen. Der Staat muß dann dem Konzern helfen. In den USA heißt das: "too big to fail" (zu groß zum scheitern). Motto: die Gewinne bleiben privat, wenn die Geschäfte klappen, die Verluste werden sozialisiert, der Steuerzahler springt ein, wenn der Konzern in eine "Schieflage" gerät. Das Problem dieser staatlichen Eingriffe ist, daß die Kapitalisten sich immer mehr auf solche Rettungsaktionen verlassen und bei ihren Investitionen immer waghalsiger werden, was die Stabilität des Gesamtsystems nicht gerade fördert. Dieses Spekulieren der Konzerne auf Rettung durch den Staat wird als "moral hazard" (die Konzerne sind "moralisch gefährdet") bezeichnet, ein unlösbares Problem, weil der Staat ja im Krisenfalle helfen muß, um das System zu retten.

4. Konnte der Staat helfen?

Das Moral-Hazard-Problem veranschaulicht, daß die Hilfe des Staates die grundsätzlichen Widersprüche nicht lösen kann. Und die Erfahrung zeigt, daß Krisen durch staatliche Eingriffe bestenfalls aufgeschoben werden können. Staat? Muß der Staat im Neoliberalismus überhaupt noch eingreifen? Und wie! Schon unter dem neoliberalen Reagan in den 80er Jahren wurde über gewaltige Rüstungsprogramme die Nachfrage gestützt, inzwischen senkt die staatliche Zentralbank die Zinsen, was eine größere Verschuldung der Unternehmen und Haushalte erlaubt, so daß die Nachfrage kreditfinanziert weiter ausgeweitet werden kann. So betrug die Verschuldung der nichtfinanziellen Unternehmen in den USA 4,5 Bio. US-$, was drei Viertel ihres Umsatzes oder beinahe die Hälfte des BIP entspreicht, Konsumkredite haben einen Umfang von 6,5 Bio. US-$ erreicht!
Auch Japan ist ein Paradebeispiel für das Eingreifen des Staates als Konjunkturmotor, um zu verhindern, daß die Wirtschaft kollabiert. Seit 1995 wurde die unglaubliche Summe von 2,1 Bio. DM in die Ökonomie gepumpt. Wirklich gelöst ist dort aber nichts - die Stagnation hält an, und Japan steht einem Staatsbankrott nahe.

5. Konnten die Finanzmärkte helfen?

Angesichts niedriger Profitraten und sinkender Kapitaleffizienz sucht das Kapital verzweifelt nach Anlagemöglichkeiten: "Anlagenotstand" herrscht. Der Versuch, Profite nicht in der Realwirtschaft zu investieren, endet damit, daß Aktien zu immer höheren Preisen gekauft werden, weil nichts Besseres zu haben ist.9 Anlagesuchendes Geld wird angeboten wie Sauerbier, d. h. der Preis von Geld, der Zinssatz, sinkt.10 Seit Anfang der 80er Jahre sind deshalb die Zinssätze gesunken11 und andererseits - damit verbunden - wurde immer mehr für Aktien bezahlt. Wie man an Japan sehen kann, sind aber niedrige Zinsen keine Garantie für steigende Aktienkurse. Es müssen schon auch noch Profite gemacht werden. Eine derzeit in den USA drohende harte Landung der Konjunktur könnte die Profite so schmälern, daß, wie jetzt schon in Japan, eine staatlich verordnete Nullzinspolitik die Aktien nicht mehr retten kann; mit vermutlich starken Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft. Schön, daß in der BRD die Vertreter des Finanzkapitals auf die "kapitalgedeckte Rentenversicherung" hoffen. Die Einzahlungen der Arbeitnehmer sollen die Börsen retten, besser gesagt, es erlauben, wackelige Aktien schnell noch los zu werden, bevor es kracht.
Das Ausweichen auf die Finanzmärkte kann lediglich einzelnen Kapitalisten helfen, nicht aber den Kapitalisten als Gruppe. Für auf den Finanzmärkten angelegtes Geld gibt es drei Möglichkeiten:
(1) Horten: Das Geld bleibt im Finanzmarkt. Die Profite werden wie eine heiße Kartoffel von einer Hand zur anderen weitergereicht. Das so "beschäftigte" Geld ist dem produktiven Bereich entzogen. Es wirkt, wie wenn es in Tresoren oder in Omas Sparstrumpf still gelegt worden wäre. Es fördert somit die Stagnation.
(2) Eigentlich sollen die Finanzmärkte aber nur zwischen Geldgeber (z. B. Käufer einer Aktie) und -nehmer (z. B. Verkäufer einer Aktie) vermitteln. Die Geldnehmer können das Geld im realen Bereich investieren. Dann fließt das Geld in den produktiven Bereich, nur um von den dortigen Problemen wieder eingeholt zu werden, was die zahlreichen Bauruinen in Südostasien und anderswo bezeugen.
(3) Das durch Verkauf eines Finanzpapiers erhaltene Geld wird konsumiert. Die einen, die Käufer von Finanzpapieren, "investieren" auf dem Finanzmarkt, die anderen, die Verkäufer, konsumieren das Geld aber. So ist die inländische Sparquote in den USA nahe null. Hier bauen sich neue Widersprüche auf. Insgesamt wird an der Börse kein Wert geschaffen, sondern Wert, der in anderen Wirtschaftszweigen geschaffen worden ist, umverteilt.
Auch die Internationalisierung der Finanzmärkte hat die Stabilität des Kapitalismus nicht erhöht - im Gegenteil: die einzelnen Volkswirtschaften sind aufgrund höherer Verflechtungen auf den Finanzmärkten abhängiger von der Entwicklung anderer Wirtschaften, was es den Staaten und ihren internationalen Organisationen (v. a. dem IWF) schwieriger macht, notfalls helfend einzugreifen. Die Asienkrise ab 1997 z. B. entwickelte sich rasend schnell von einem Land zum nächsten. Hier zeigt sich schlagend der Widerspruch, daß im Kapitalismus zwar gesellschaftlich produziert wird - dies kommt z. B. in der Kapitalverflechtung zum Ausdruck - aber privat über die Produktion verfügt wird - jeder sucht seine Haut einzeln zu retten und reißt die anderen mit.

Wie wird es weiter gehen?

Wenn weder die "Old Economy" noch die "New Economy" den Kapitalismus auf Dauer stabilisieren, was bleibt dann noch als Ausweg für diejenigen, die ein materielles Interesse am Bestehen der Marktwirtschaft haben?
Nur noch, die Angriffe auf die Dritte Welt, auf Konkurrenten und auf die Arbeiterklasse zu verstärken. So schrieb schon kurz vor der Weltwirtschaftskrise 1929 Henryk Grossmann: "[Aus der Krisentendenz] erklärt sich die aggressive Politik im Innern: die Verschärfung des Druckes gegen die Arbeiterklasse, um durch die Lohnsenkung die Verwertung zu heben; [aus der Krisentendenz] ergibt sich die aggressive Politik nach außen, um sich fremde Nationen zu demselben Zweck tributpflichtig zu machen."12 Genau dies ist auch heute zu beobachten, und diese Entwicklung wird sich in Zukunft fortsetzen, wenn die Kapitalisten freie Bahn erhalten.
Aggressive Politik nach außen: Der Druck auf die Dritte Welt wird anhalten, allenfalls gemildert durch die Angst vor einer weltweiten Finanzkrise.
Nichtprofitable Gebiete werden immer tiefer im Elend und in der Barbarei versinken (z. B. Afrika, Südamerika, Teile Asiens, des Nahen Ostens, auch die Zukunft des Kosovos sieht trübe aus). Zwischen den mächtigen Ländern findet zudem ein zäher Konkurrenzkampf statt. So verhinderte z. B. die USA "japanfreundliche" Lösungen der Asienkrise 1997/98. Die EU befindet sich immer wieder in Handelskonflikten mit den USA. Winfried
Wolf schreibt: "Trotz des länderübergreifenden Fusionsfiebers und trotz der weltweit operierenden Konzerne verläuft die gegenwärtige Bildung von immer größeren Konzernen, Banken und Versicherungen fast ausschließlich im nationalstaatlichen Rahmen. Dieser Prozeß ist verbunden mit einer Zunahme der Konkurrenz zwischen den Nationalstaaten, zwischen Blöcken von Nationalstaaten [z. B. der EU und der NAFTA, dem US-Block], und mit einer neu beginnenden Aufrüstung und Militarisierung mit wachsenden Kriegsgefahren."13
Allerdings scheint die Angst der herrschenden Klasse vor der kritischen Öffentlichkeit noch größer zu sein als vor der Konkurrenz. Deshalb wird über solche Konkurrenzkämpfe nicht oder nur spärlich berichtet.
Aggressive Politik nach innen: Während der interimperialistische Konkurrenzkampf derzeit noch eher unter dem Tisch stattfindet, sind die Angriffe auf die moderne Arbeiterklasse um so offener. Das schon von Altbundeskanzler Helmut Schmidt vorgebrachte Argument, daß Opfer bei den Löhnen über höhere Gewinne und Investitionen zu mehr Arbeitsplätzen führen, stimmt gerade in den letzten Jahrzehnten nicht. Niedrige Löhne führen zu höheren Profiten, aber wegen des Anlagenotstands zu höherem Konsum der Kapitalisten, nicht zu höheren Investitionen. Das Handelsblatt schreibt: "Während Luxusmarken neue Ertragsrekorde melden, stagniert der Verkauf bei Massenherstellern wie Opel, Ford oder Volkswagen."14 Neben den Angriffen auf Einkommen und Sozialstaat der Arbeiter und Angestellten gibt es die Angriffe auf den Konsum. Haushalte in Kalifornien sitzen abends bei Kerzenlicht, weil die deregulierten Stromkonzerne keinen Strom liefern. In Europa machen BSE und die mittelalterliche Maul- und Klauenseuche den Menschen zu schaffen. Die Verschlechterung des Weltklimas wird nicht alle gleich treffen, es wird eine Frage des Geldbeutels sein, wer hauptsächlich die Folgen zu tragen hat. Nicht zuletzt sollten Maßnahmen zur "inneren Sicherheit" erwähnt werden. So manches, was heute gegen das "organisierte Verbrechen", gegen Rechtsextremismus und Kinderpornografie vom Staat unternommen wird, läßt sich auch gegen andere mißliebige Bürger einsetzen.

Fazit

Ob sinkende Profitraten oder Konzentrationstendenz, schon lange nicht mehr hatten die Marx'schen Thesen so recht wie heute: Die von ihm kritisierte Produktion für Profit, nicht für Bedürfnisse, die aus der Situation einer privaten Verfügungsgewalt des Kapitals über die Mittel der Produktion herrührt, führt zu regelmäßigen Krisen. Darüber hinaus führt der schon damals beschriebene tendenzielle Fall der Profitrate zur Verschärfung der Probleme der kapitalistischen Entwicklung. Aufgrund dieser Widersprüche hat es das Kapital nicht geschafft, sich wieder zu stabilisieren. Es wird daher noch verstärkt die Mehrheit der Menschen angreifen müssen, um überleben zu können.
All das wird die soziale und politische Polarisierung der Welt tendenziell verschärfen, auch die der einstmals "sozialpartnerschaftlichen" BRD. Vieles erinnert an die 20er Jahre vor der Weltwirtschaftskrise. Aber ein wirtschaftlich angeschlagener Kapitalismus wird nicht einfach freiwillig abtreten, wie die 30er Jahre gezeigt haben. Es bedarf der organisierten Gegenwehr. "Heute sollte es mehr als je offenkundig sein, wie es für Marx und Engels war, daß eine von den Geboten der Kapitalakkumulation getriebene Gesellschaft einer humanen und demokratischeren Gesellschaftsordnung weichen muß."15 Ist die Erreichung einer solchen alternativen, sozialistischen Gesellschaft utopisch? Noam Chomsky zufolge, einem prominenten Vertreter der neuen antikapitalistischen Bewegung, muß man die Frage verneinen. "Angesichts der technischen Möglichkeiten zur Verbesserung der Lage der Menschheit muß die Behauptung, es gebe keine überzeugende Alternative zum Status Quo, besonders befremdlich erscheinen. [...] Aber jeder Fortschritt in der Geschichte, von der Abschaffung der Sklaverei und der Errichtung der Demokratie bis zur offiziellen Beendigung der Kolonialherrschaft, wurde irgendwann einmal für unmöglich gehalten, weil es für ihn keine Vorbilder gab."16 Es hängt an uns, ob sich diesmal eine andere Entwicklung durchsetzt als in den gesellschaftlichen Krisen des 20. Jahrhunderts.



1 RWI-Mitteilungen 2000, Jg. 51, Heft 1
2 US Department of Justice, zitiert nach: Lance Selfa: "The Price of Lesser Evilism - Eight Years of Clinton-Gore", in: International Socialist Review, August-September 2000, S. 7ff.
3 Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 4.2, 1998
4 H. Grossmann: Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems, Frankfurt/M. 1970 (Leipzig 1929), S. 557f.
5 Chris Harman: Der Irrsinn der Marktwirtschaft, Frankfurt/M. 2000, S. 35
6 Mit letzterem haben v. a. die Gewerkschaftsführungen Schwierigkeiten, weil gegen einen "schwachen" Kapitalismus ihrer Meinung nach nichts durchgesetzt werden kann bzw. mehr gekämpft werden müßte.
7 In Wirklichkeit handelt es sich in der Mehrheit um Firmenübernahmen.
8 S. A. Jansen/G. Müller-Stewens: "Endet die fünfte Welle auf dem Markt für Unternehmensübernahmen in einer neuen Rezession?", in: FAZ, 4. 10. 2000, S. 49
9 Der starke Anstieg der Aktienkurse seit 1982 ist nicht einfach nur irrational, oder "überschwenglich" (so vor ein paar Jahren US-Notenbankchef Greenspan, inzwischen hat der "unfehlbare Papst der Finanzmärkte" seine Meinung den Gegebenheiten angepaßt), sondern hat seine eigene "Logik". Zum einen sind die Gewinnsummen (das ist die Profitmasse, nicht die Profitrate) ja gestiegen, und außerdem wird z. B. der DAX von Großunternehmen mit eher überdurchschnittlicher Gewinnentwicklung bestimmt, zum anderen aber hat die Stagnation zu einem Rückgang der langfristigen Zinssätze seit 1982 geführt, was sich unmittelbar günstig auf die Aktienkurse auswirkt. Ein bestimmtes jährliches Einkommen aus Aktiendividenden, Grundstücksmieten oder ähnlichem ist umso mehr wert, je niedriger der Zinssatz (siehe z. B.: H.-J. Jarchow, Theorie und Politik des Geldes, Bd. I: Geldtheorie, Göttingen 1974, S. 81).
10 Wer ein Sparbuch hat, bekommt z. B. 2 % (= Zinssatz) Zins, jährlich also 2 DM Zinsen, wenn er 100 DM angelegt hat. Für langfristig geliehenes Geld zahlte der Staat 1981 (Zinsgipfel) 11 %, heute etwa 5 %.
11 Die Zinssätze sanken wegen des Anlagenotstands und weil in Krisenzeiten wie z. B. beim weltweiten Börsenkrach 1987 oder bei den Finanzkrisen in der zweiten Hälfte der 90er Jahre (Mexiko, Russland, Japan, Tigerstaaten, Südamerika usw.) die US-Zentralbank als Weltleitbank die Leitzinsen senken und Geld drucken mußte, um Schlimmeres zu verhindern. Die rückläufigen Inflationsraten, die zum Zinsrückgang beigetragen haben, hängen wohl auch mit der Stagnation zusammen.
12 H. Grossmann, a. a. O. (Fn. 4), S. 269
13 W. Wolf: Fusionsfieber, Köln 2000, S. 247
14 Handelsblatt, 2. 10. 2000, S. 1
15 E. Meiksins-Wood: "Die Geschichte ist nicht zu Ende", in: E. Hobsbawm u. a.: Das Manifest - heute, Hamburg 1998, S. 110
16 Noam Chomsky: Profit over People. Neoliberalismus und globale Weltordnung, Hamburg/Wien 2000, S. 18


Sozialismus von unten, Nr. 6, Frühjahr 2001