Sozialismus von unten
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Debatte & Kritik

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Nr. 6, Frühjahr 2001

[Inhaltsverzeichnis SVU Nr.6]


Sebastian Haffner: Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914-1933, München, Deutsche Verlags-Anstalt, 39,80 DM

Das Haffner-Paradox

"Es fiel mir sogar schwer, zu entscheiden, ob ich, um nur die allerallgemeinste politische Grundtendenz festzulegen, ‚rechts’ oder ‚links’ sei. Als mir jemand 1932 diese Gewissensfrage stellte, antwortete ich, betroffen und sehr zögernd: ‚Eher rechts...’"

Das nun mag sich im Laufe seines Lebens geändert haben. Ein Linker aber war Sebastian Haffner – Jahrgang 1907 – nie, wie sein Buch "Überlegungen eines Wechselwählers" noch 1980 zeigte.

Fragt sich, wie es mit dieser politischen Haltung möglich war, die vernichtendste Kritik der Sozialdemokratie in der Revolution von 1918/19 ("Der Verrat"), des Deutschen Reiches zuvor ("Die Sieben Todsünden des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg") und Preußens ("Preußen ohne Legende"), eine hinreißende Liebeserklärung an die Pariser Kommune (den Essay "Über die Pariser Kommune") und einen der intelligentesten Hitler-Texte überhaupt ("Anmerkungen zu Hitler") zu verfassen?

Haffners kürzlich erschienenes Jugendwerk, "Geschichte eines Deutschen", gibt Aufschluß. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verfaßt, war das Manuskript erst nach Haffners Tod 1999 in dessen Schreibtischschublade aufgefunden worden.

Es glänzt mit allem, was Haffner auszeichnet: Vor allem mit der, für deutsche Historiker weitgehend unüblichen, Fähigkeit zu schreiben. Ich habe mir lange Passagen laut vorlesen lassen und kann das nur zur tunlichsten Nachahmung empfehlen: Haffners Sprache ist ein Ereignis, das man keinesfalls sich selbst überlassen sollte. Haffners Sprache will zelebriert sein, nicht geschmökert!

Die Schilderung eines Karnevalsfestes im Februar 1933, gestürmt durch SS und Polizei, ist nicht nur einer der zahlreichen sprachlichen Höhepunkte des Werks; sie erhellt auch, woher das oben beschriebene Haffner-Paradox rührt:

"‚Müssen wir wirklich nach Hause gehen?’ ‚Sie DÜRFEN nach Hause gehen.’ erwiderte er [...] und ich prallte fast zurück, so überaus drohend hatte er es gesagt. Ich sah ihn an – und prallte zum zweiten Mal zurück; denn was für ein Gesicht war das! [...] Es war ein Gesicht, das nur aus Zähnen zu bestehen schien. Der Mann hatte mir tatsächlich die Zähne entgegengefletscht, und zwar zeigte er unwahrscheinlicherweise beide Zahnreihen, ein seltener Anblick bei einem Menschen [...] Sehr ‚nordisch’, das mußte man zugeben, aber freilich durchaus kein Menschengesicht mehr, sondern etwa das Gesicht eines Krokodils. Ich schauderte. Ich hatte das SS-Gesicht gesehen."

An sich ist Sebastian Haffner ein höchst durchschnittlicher Bürgersohn, ein deutsches Beamtensöhnchen. Er hätte sich der für diese Schicht bei allem kulturfeindlichen Gestank durchaus süßlichen Versuchung des Faschismus sang- und klanglos ergeben können, wie so viele seiner Art. Es wäre noch nicht einmal aufgefallen.

Daß er es nicht tat, daß er "zurückprallte" und schließlich nach England emigrierte, hat tatsächlich weniger mit rechts oder links zu tun, als mit Rückgrat oder Sprungfeder, Menschenstolz oder Mitläuferei, Mitgefühl oder Raubtierinstinkt.

Gerade daß Haffner aus einem eher allgemein menschlich als dezidiert politisch motivierten Antifaschismus heraus agiert, macht die Stärke dieses Buches aus. Das Jahr 1933, das er als den "kollektiven Nervenzusammenbruch des deutschen Volkes" beschreibt, nimmt ihn nicht aus. Schonungslos offenbart er seine eigene Schwäche, Überforderung, auch Feigheit in vielen Situationen. Die Massenpsychologie des deutschen Faschismus wird dabei so plastisch wie selten. Klug und mit viel Menschenverstand zeichnet der damals angehende Jurist die Verdrängungs- und Anpassungsmechanismen der NS-Alltagsdeutschen nach.

In der Tat: Haffner analysiert den Deutschen dieser Zeit – für Linke ein regelmäßig als heikel empfundenes Thema: Darf man überhaupt vom "Deutschen" als "Volk" schreiben, in diesen Kategorien analysieren, wo man die Volkskonstruktion doch eigentlich ablehnt? Gibt es so etwas wie ein kollektives Nervenzentrum dieser ideologisch konstruierten Gesamtkörperschaft, das dann zusammenbrechen könnte?

Ich glaube: ja und ja. Herrschaftsideologie dient dazu, ökonomische, politische und gesellschaftliche Zustände geistig zu verfestigen, dynamisiert diese aber auch im Faktischen. Ideologie ist eigenständiger Faktor, der auf seine Weise geschichtliche Tatsachen schafft und ausprägt. Diese wirken nach, leben weiter, formen neue Ideologie und neue Fakten, die wiederum verändern und verändert werden.

Historischer Materialismus wird genau dort zum toten Schema, wo das Geistige, das Atmosphärische und Emotionale ihr Recht auf Eigenständigkeit als analytische Größen verlieren.

Freilich sind die Reaktionen auf den Ersten Weltkrieg, den anschließenden Bürgerkrieg, die Stresemann-Jahre, Hitler höchst unterschiedlich. Der eine wird Kommunist, der andere bleibt Sozialdemokrat und/oder "unpolitisch", der dritte wird ein glühender Nazi. Aber zwischen all dem lebt eine kollektive Psyche aufgrund kollektiver Erlebnisse in einer Zeit – eingeprägt auch in die Erfahrung all derer, die als mehr oder weniger interessierte Zuschauer, Stimmvieh oder Kanonenfutter, nur dabei waren. Gerade deren Verhalten ist es, das letzten Endes über Sieg und Niederlage der einigen Hunderttausend oder wenigen Millionen entscheidet, die Politik aktiv gestalten und organisiert betreiben.

Insbesondere an den großen historischen Wendepunkten greifbar, erwachsen aus der Gemeinsamkeit der jeweiligen Menschheit einer Epoche emotionale Tatsachen, an denen keiner vorbeikommt: Die allgemeine Kriegshysterie 1914 war auch für die Ohnmacht der Kriegsgegner das beherrschende atmosphärische Faktum. Dito die Feigheit 1933, der wilde Übermut der 68er, ostdeutscher Mut und Frustration 1989 und in den Folgejahren.

Haffner vermittelt in diesem Sinne durchschnittsdeutsche Tatsachen und bricht sie herunter auf die ganze Bandbreite der Weimarer Beteiligten: Auf Ebert und Noske, "die offensichtlich Verräter ihrer eigenen Sache waren und übrigens auch genauso aussahen". Auf den Kapp-Generalstreik 1920: "...als man am nächsten Tag wieder hier und da Schießen hörte, da merkte man schon, die gute, alte Regierung war wieder da. [...] Kurz darauf war wieder Schule." Auf die Kommunisten, mit ihrem "Kometenschweif von Niederlage", die sich als "Schafe im Wolfspelz" entpuppten. Auf die mondänen Weimarer Jungintellektuellen, die "auf einmal vollkommen selbstverständlich und ohne den geringsten Verlust an Eleganz und Jahrtausendperspektive Nazi" wurden. Und auf das altehrwürdige Preußische Kammergericht, seinen diensteifrigen Zusammenbruch als unabhängige Institution ("Man hüstelte.").

Haffners Buch ist tatsächlich: die Geschichte irgendeines Deutschen. Erzählt aber nicht von irgendeinem, sondern vom scharfsinnigsten Publizisten, den diese Generation hervorgebracht hat.

Man sollte sich Haffner im Hardcover leisten.

Flori Kirner



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  • Sozialismus von unten, Nr. 6, Frühjahr 2001