Sozialismus von unten
Magazin für antikapitalistische
Debatte & Kritik

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Nr. 6, Frühjahr 2001

[Inhaltsverzeichnis SVU Nr.6]


Wie schafft die gewerkschaftliche Linke den Anschluss an die antikapitalistische Bewegung?

Als 1999 in Seattle Zehntausende gegen die Welthandelsorganisation WTO demonstrierten, waren hierzulande viele überrascht über die militanten Straßenkämpfe, die sich entfesselten. Erstaunt waren nicht wenige über die neue Koalition zwischen UmweltaktivistInnen und Stahlarbeitern. Von der bislang totgeglaubten Arbeiterbewegung in Amerika wird mittlerweile von einem Neuanfang gesprochen und von Seattle bis Nizza, weht ein neuer Geist von AktivistInnen und GlobalisierungsgegnerInnen um die ganze Welt. Arndt Beck geht der Frage nach, ob auch in Deutschland ein Hauch von Seattle in den Betrieben weht und ob die gewerkschaftliche Linke von dem kleinen aber quirligen Virus "antikapitalistische Bewegung" schon befallen ist.

" Die Auswirkungen neoliberaler Politik sind heute wesentlich härter zu spüren, als es noch vor zwanzig Jahren der Fall war. Der Preis des Neoliberalismus in Deutschland ist der Abbau von Sozialleistungen, der zunehmende Wegfall gesicherter Arbeitsverhältnisse oder der Ausverkauf des Flächentarifvertrages, um nur einige Punkte zu nennen. Alles auf Kosten der Mehrheit der abhängig Beschäftigten.
Uns wird erzählt, daß das Volkseinkommen in der Zeit von 1980 bis 1999 um real 44 Prozent gewachsen sei. Aber, im gleichen Zeitraum haben sich die Vermögenseinkommen und die Privatentnahmen der Selbständigen mit einem Zuwachs von 116 Prozent mehr als verdoppelt. Der steigende Anteil des Kapitals am Volkseinkommen führt nicht, wie man annehmen könnte, zu einem Anstieg der Beiträge zum Steuereinkommen, sondern zu weiterer steuerlicher Entlastung. Konsequent erfolgte unter Bundeskanzler Schröder eine noch nie dagewesene Gewinnsteuersenkung. Vom Zuwachs der Bruttolöhne 1991 bis 1997 wurden 70 Prozent durch Steuern und Zwangsabgaben abgeschöpft. Bei den privaten Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen dagegen steht 1991 bis 1997 einem Zuwachs vor Steuern von 271 Milliarden DM oder 41 Prozent ein Zuwachs nach Steuern von 295 Milliarden Mark oder 52 Prozent gegenüber.
Wir erleben heute die Fortsetzung einer Politik, die vor 25 Jahren ihren Anfang nahm. Die Ökonomen und bürgerlichen Politiker verabschiedeten sich damals von einer staatsinterventionistischen Lenkungs- und Regulierungspolitik, dem sogenannten Keynesianismus (benannt nach dem bürgerlichen Ökonom J.M. Keynes). Geschockt von der wirtschaftlichen Krise von 1974 bis 1976 setzten Politiker wieder auf den "freien" Markt und dessen "selbstreinigenden" Kräfte. Dies war das Wiederaufleben einer alten Orthodoxie, eines Kapitalismus ohne Handelsschranken und gesetzlicher "Hemmnisse".

Bei Strafe des Untergangs

Nur die Konzerne profitieren vom Neoliberalismus. Am Beispiel von Deutschlands gewinnträchtigstem Unternehmen BMW wird deutlich, was das heißt: BMW hat 1988 noch 545 Millionen Mark an den Fiskus überwiesen und vier Jahre später nur noch 31 Millionen Mark. Trotz insgesamt steigender Gewinne und unveränderter Dividende wiesen sie Verluste aus und erhielten aus der Staatskasse 32 Millionen Mark erstattet. Siemens zahlt seit 1996 angeblich keine müde Mark mehr an das Finanzamt, obwohl die Gewinne exorbitant in die Höhe gegangen sind.
Auch die Rentenreform ist das Ergebnis neoliberaler Politik. Der Druck der Konzernbosse auf die Regierung, nicht nur steuerliche Erleichterung bei den Gewinnen zu erwirken, sondern obendrein die Lohnnebenkosten zu senken, ist das Ergebnis der frei wirkenden Kräfte des Marktes. Das Kapital ist bei Strafe seines Untergangs gezwungen, sich der sinkenden Profitrate entgegen zu stemmen. Die Unternehmer sollen freilich durch die Rentenreform der Bundesregierung entlastet werden, in dem eine private Altersvorsorge eingeführt wird, die allein von den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten finanziert wird. Besser kann die herrschende Klasse von Rot-Grün nicht bedient werden.
Diese Entwicklung geht zu Lasten des Sozialstaates und die Schere zwischen arm und reich klafft immer weiter auseinander. Beispielsweise veranschlagt die Deutsche Bundesbank das Gesamtvermögen der deutschen Haushalte auf 9,5 Billionen Mark. Davon verfügen zehn Prozent der reichsten Haushalte über fast die Hälfte dieser Vermögenswerte. International schätzt die UN-Organisation für industrielle Entwicklung, daß die Kluft zwischen den reichsten und ärmsten 20 Prozent der Weltbevölkerung zwischen 1960 und 1989 um über 50 Prozent gewachsen ist, während der Globalisierungsprozess diese Ungleichheit noch verschärfen wird. Wenn Bill Gates aufgrund kräftiger Kursverluste im vergangenen Jahr an der New Yorker Börse die Hälfte seines Vermögens einbüßen mußte, so besitzt er heute immer noch über 50 Milliarden Dollar, mehr als genug, die halbe Welt mit Nahrungsmitteln zu versorgen.

Kommunistisches Manifest

Schon im Kommunistischen Manifest von 1847 haben Marx und Engels davon gesprochen, daß sich die Armut schneller ausbreitet als die Bevölkerung und der Reichtum. Sie schrieben, die Kapitalistenklasse "ist unfähig zu herrschen, weil sie unfähig ist, ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb seiner Sklaverei zu sichern, weil sie gezwungen ist, ihn in eine Lage herabsinken zu lassen, wo sie ihn ernähren muß, statt von ihm ernährt zu werden. Die Gesellschaft kann nicht mehr unter ihr leben, d.h., ihr Leben ist nicht mehr verträglich mit der Gesellschaft". Marx und Engels hätten sich nicht vorstellen können, wie groß heute der Reichtum auf der Welt ist und in welchem Ausmaß Armut, nicht nur in den ärmsten Ländern der Welt, um sich greift. Allein in Mexiko sind 50 Prozent der Bevölkerung nicht in der Lage, sich mit den notwendigsten Lebensmitteln zu versorgen. Doch "keine Industriegesellschaft hat so viele in Armut lebende Kinder wie im reichsten Land der Erde, die USA, gefolgt von der übrigen englischsprachigen Welt" (Noam Chomsky).

Welche Konsequenzen ziehen linke Gewerkschafter?

Reicher Mann und armer Mann
standen da und sahn sich an.
Und der Arme sagte bleich:
Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.
(Bert Brecht)

Etwas, was keine noch so theoretisch fundierte und intellektuell geführte Diskussion vermocht hätte, haben die Proteste in Seattle und alle weiteren globalen Aktionen bewirkt: Es bewegt sich etwas in den Köpfen. Auch wenn noch viele aus Beton zu sein scheinen, bröckelt es doch. Nach über 10 Jahren Zusammenbruch der DDR und des Ostblocks und gleichsam dem Niedergang der "eigenen" politischen Tradition, werden Fragen aufgeworfen, die eine Chance für eine Neuorientierung linker Gewerkschaftspolitik bietet.
Die Gewerkschaftslinke um die Zeitschrift Express, geht sehr unvoreingenommen mit der neuen "Anti-Globalisierungs-Bewegung" um. Auch wenn der Zusammenbruch des Ostblocks, immer noch wie eine tiefhängende Gewitterwand über den Köpfen der Linken hängt und anscheinend jede emanzipatorische Alternative zum kapitalistischen System abhanden gekommen ist, so machen die Autoren doch auch Mut und Zuversicht. Sie verweisen auf die neue Linke der 60er Jahre, die so verheißungsvoll begonnen hatte.
Rudi Dutschke sprach 1968 auf dem Anti-Vietnam Kongress von einer Bewegung, die Teil einer "Globalisierung der revolutionären Kräfte" sei. Und weiter:
"Jede radikale Opposition gegen das bestehende System, das uns mit allen Mitteln daran hindern will, Verhältnisse einzuführen, unter denen die Menschen ein schöpferisches Leben ohne Krieg, Hunger und repressiver Arbeit führen können, muß heute notwendigerweise global sein. Diese Globalisierung revolutionärer Kräfte ist die wichtigste Aufgabe der ganzen historischen Periode [...]".

Globaler Widerstand

Seit Seattle gibt es wieder diese globale Opposition gegen das kapitalistische System und macht Hoffnung auf eine andere Welt. Selbst alte Pessimisten sehen in Gestalt der "Anti-Globalisierungsbewegung" seit Seattle, sogar eine ‚Neue' Internationale, die den jetzigen Zustand aufheben könnte. Die Autoren der Zeitschrift Express sehen bei aller Brüchigkeit und Widersprüchlichkeit der neuen Bewegung nur eine Möglichkeit, sich "an dem zu beteiligen, was auf eine solche Bewegung hin drängt, uns selbst auf diese Bewegung einzulassen [...]"
Das Einlassen auf die neue Bewegung gelingt uns aber nur, wenn wir mit den eigenen Hemmnissen im Kopf brechen. Wir alle sollten uns deshalb an Marx erinnern, der über die französische Revolution von 1848 schrieb:
"Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirn der Lebenden".
Er meinte damit, daß es darum ginge, den Geist der Revolution des 19. Jahrhunderts wiederzufinden, nicht ihr Gespenst.
"Die soziale Revolution [...] kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat [...] Die Revolution des 19. Jahrhunderts muß die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eigenen Inhalt anzukommen."
Die Generation von Naomi Klein und die AktivistInnen von Seattle sind die neue frische Prise im Kampf gegen Konzernherrschaft und Kapital. Hier müssen wir anknüpfen und uns verbrüdern.

Neuanfang

Das heißt, die gewerkschaftliche Linke kann aus ihrer Orientierung auf betriebliche und gewerkschaftspolitische Fragen herauskommen und eine neue Perspektive entwickeln, wenn sie sich der globalen Bewegung anschließt. Wie das geschehen könnte zeigt ansatzweise die Abschlußerklärung der 3.Konferenz der Gewerkschaftslinken vom 27./28.10.2000 in Frankfurt. Hier wurde neben anderen Fragen, die Abwehr des Systemsbruchs in der Rentenversicherung, Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes und die "Repolitisierung der gewerkschaftlichen Tarifpolitik" mit dem erfolgreichen Abwehrkampf der Opelbelegschaft gegen Fusion und Ausgliederung verbunden. Die Erklärung stellt weiter fest "daß wir uns den Entscheidungen der Konzernlenker nicht ohnmächtig ausliefern müssen". Das ist zumindest ein Anfang.
Was aber von den AutorInnen noch vernachlässigt wird, ist die besondere Qualität der Streiks und Proteste bei General Motors, (einem großen us-amerikanischen Automobilkonzern) in diesem Jahr. Die Besonderheit besteht darin, daß Aktionen europaweit durchgeführt wurden und internationale Solidarität hervorriefen. ArbeiterInnen haben längst erkannt, daß in einer globalisierten Welt, international gegen Konzernherrschaft gekämpft werden muß. Hierin liegt die große Chance für eine Verbindung zu den AktivistInnen von Seattle, Prag und Nizza.
Wie das aussehen könnte zeigt beispielsweise die Gruppe ATTAC , die ihre Kampagne gegen die globalen Finanzströme mit dem Kampf gegen die Rentenpläne der Bundesregierung verbanden. Der Einfluß globaler Entwicklungen und die Auswirkungen neoliberaler Politik auf die Rentenfrage in Deutschland hätte besser nicht geknüpft werden können. Es fehlte nur die Verbindung in die Betriebe. Denn die Beschäftigten waren wütend und bereit, gegen die Rentenpläne der Bundesregierung zu protestieren. Durch die Betonung von ATTAC der gemeinsamen Interessen von AktivistInnen für eine Tobin-Steuer und den ArbeiterInnen in der Rentenfrage ist ein zarter Hauch von Seattle durch die Fabriktore geweht. Es liegt nun an den gewerkschaftlichen Linken, die Tore offen zu halten.

Come together

Dies trifft auch auf die Anti-AKW und Anti-Castor-Bewegung zu. Abgeschreckt von der atomfreundlichen Gewerkschaftspolitik, wird heute seitens der Anti-Castor AktivistInnen kein Versuch unternommen, mit Vertrauensleuten, Personal- oder Betriebsräten in Kontakt zu treten, um gemeinsame Aktionen gegen die Castortransporte zu organisieren. Dabei haben wir heute, mehr als vor 25 Jahren, überzeugende Argumente, daß Atomkraftwerke Arbeitsplätze vernichten und nur die Energiekonzerne von der Atompolitik profitieren. Außerdem ist die Katastrophe von Tschernobyl immer noch nicht vergessen.
Bedingt durch den neoliberalen Umbau im Energiesektor verschlechtern sich die Arbeitsbedingungen. Der enorme Druck der Konzernbosse auf die Zerschlagung des Tarifsystems und die beschleunigte Abnahme sozial gesicherter Arbeitsverhältnisse machen heute den Schulterschluß mit gewerkschaftlichen Funktionsträgern und den Beschäftigten eher möglich als zur Zeit der Anti-AKW-Bewegung in den 70er. Damals sahen die Bürgerinitiativen in den ArbeiterInnen und Angestellten nur BefürworterInnen der Atompolitik. Das sieht heute ganz anders aus. Durch den neoliberalen Umbau in allen gesellschaftlichen Bereichen, ist die Zahl der Verlierer nur größer geworden und die der Gewinner auf eine Handvoll geschrumpft. Dadurch hat sich die Wut auf die Profitgier der Share-holder erhöht. Es fehlen "nur" gemeinsame Aktivitäten und ein gemeinsames Ziel, damit sich die Wut auch entladen kann.
Ein weiter Punkt hat sich verändert. Die Anti-Castor-Bewegung überschreitet die Grenzen nach Frankreich und wird dadurch international und global. Der Schritt hin zur Bewegung gegen Konzernherrschaft und Globalisierung durch das Kapital rückt dadurch immer näher.
Die neuen Aktivisten gegen Neoliberalismus und Konzernherrschaft, haben glücklicherweise keinerlei Berührungsängste mit dem "gemeinen Volk" in der Welt. Es sind ja die "Habenichtse", die den globalen Kapitalismus zu erleiden haben. In diesem Kontext ist es die Aufgabe der gewerkschaftlichen Linken, die Türen in die Betriebe zu öffnen. Dazu gehört die Bereitschaft, von der antikapitalistischen oder Anti-Castor-Bewegung zu lernen. Dies gilt auch für die neuen AktivistInnenen oder "Kletten", die schon zu einer Demo aufrufen, wenn sich zwei Vertreter der Weltbank auf einer Toilette treffen. AktivistInnen im Betrieb und auf der Straße, können sich wunderbar ergänzen im Kampf gegen den Irrsinn der Marktwirtschaft.
Dies ist aber nur vorstellbar, wenn die verschiedenen Bewegungen zusammenkommen.
Wo? Auf gemeinsamen Demonstrationen, Aktionen und Kongressen. Dadurch würden sich neue Perspektiven für beide Seiten eröffnen, die vorher nicht möglich schienen. So kann die Welt unsere werden.




Sozialismus von unten, Nr. 6, Frühjahr 2001