Sozialismus von unten
Magazin für antikapitalistische
Debatte & Kritik

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Nr. 6, Frühjahr 2001

[Inhaltsverzeichnis SVU Nr.6]


Eine neue Bewegung, eine neue Linke

Seattle ist weltweit für eine neue Generation von AntikapitalistInnen zu einem geflügelten Wort geworden. Seit Seattle sind AktivistInnen aus den verschiedensten Bewegungen immer wieder zu gemeinsamen Aktionen und Debatten zusammengekommen. Ahmed Shah argumentiert, daß diese Entwicklung auch in Deutschland spürbar ist und mit den letzten Anti-Castor-Protesten eine neue Qualität erreicht hat: Die Proteste richten sich gegen das kapitalistische System an sich und rücken den Aufbau einer neuen Linken in greifbare Nähe.

Von den Castorprotesten lernen heißt siegen lernen!

Bundesinnenminister Schily sprach von "schwersten Verbrechen", die Konservativen forderten, Greenpeace und Robin Wood die Gemeinnützigkeit abzusprechen, Baden-Württemberg führte eine "Wegtragegebühr" für Blockierer ein. Diese hysterischen Reaktionen sprechen eine deutliche Sprache: Die Proteste gegen den Castor haben die Atomlobby und die Atomkonsens-Befürworter in die Defensive gebracht und die Castor-Gegner gestärkt.
Für den Staat und die Atomkonzerne waren die Castortransporte "ein operativer Erfolg, aber eine strategische Niederlage.", schrieb die konservative FAZ. "Solche Großaufgebote, mit am Ende mehr als 18.000 Beamten allein in Wendland, kann man schon wegen der Personallage nicht so rasch wieder bewerkstelligen. Von den politischen Kosten ganz zu schweigen. Deshalb feiern die Bürgerinitiativen die zumindest zeitweise [...] erreichten Blockaden auch als ihren Triumph".
Die Aktionen gegen den Castortransport haben drei Dinge deutlich gemacht:
Erstens, daß Widerstand sich lohnt, daß direkte Aktion und ziviler Ungehorsam funktionieren. Und daß diese Art Widerstand immer mehr Anhänger gewinnt. "Um von dem Debakel abzulenken, warnen die Politiker vor den angeblichen "Gewaltaktionen" oder gewalttätigen Demonstranten. Nichts wäre falscher [...] Was im Wendland geschah, war nicht Gewalt, sondern "ziviler Ungehorsam". Das Gerede von der angeblichen Gewalt, wenn es nicht nur Folge des Fortschreibens alter Feindbilder ist, täuscht über das eigentliche Desaster des Castor-Transports hinweg. Polizeichef Reime sagte, mit Chaoten könne man fertig werden, das habe man geübt. Probleme habe er bekommen, wenn sich die normale Bürger zu Sitzblockaden niedergelassen hatte". Zweitens hat diese Castorblockade gezeigt, daß die Anti-Atombewegung durch diesen zivilen Ungehorsam beginnt, sich von Rot-Grün zu emanzipieren:
"Das nach dem Atomkonsens und wegen des Spagates der Grünen erhoffte Abbröckeln des Widerstandes der Atomkraftgegner ist ausgeblieben [...]Wenn der Transport erfolgreich sei, so hofften wieder die Politiker, werde Resignation um sich greifen: Castor-Transporte als Normalität. Es kam anders. Das massive Engagement ganz normaler Bürger zerschlug die Illusionen. Und die spektakulären Erfolge der Blockierer, das Sich-unter-Brücken-Einklinken der Greenpeace-AktivistInnen ebenso wie das Sich-Einbetonieren in die Gleise der Robin-Wood-AktivistInnen, haben den Castor-Gegnern unerhörten Auftrieb gegeben".
Die tiefe Enttäuschung mit Rot-Grün und die politische Verwirrung die ihr Verrat verursacht hat, haben bisher eine paralysierende Wirkung auf die Linke gehabt. Die Proteste gegen den Kosovokrieg waren noch relativ isoliert in der Bevölkerung. Die Aktionen gegen den Castor aber haben gezeigt, daß eine außerparlamentarische Bewegung gegen Rot-Grün mit breiter Sympathie in der Bevölkerung erfolgreich sein kann. Die fünf Tage der Rebellion im Wendland haben möglicherweise eine langfristige Wirkung: Die Entstehung einer aufsteigenden außerparlamentarischen Bewegung. Das ist schlecht für Rot-Grün und die Konzernherrschaft, der sie sich sklavisch unterordnen. Es stärkt die Linke in den kommenden Auseinandersetzungen nicht nur gegen die Atomkonzerne.
Die dritte Auswirkung der erfolgreichen Blockaden ist eine neue Debatte über den Sinn und Zweck der Atomindustrie im Besonderen, aber auch über die Rolle von Wissenschaft und Technik in der Gesellschaft und das Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt im Allgemeinen. Tom Schimmeck brachte es in der "Woche" auf den Punkt: Die "Schnappsidee namens Atomkraft. Diese Energie, zuvor ein Symbol des Schreckens in heißen und kalten Kriegen, galt vor einem Vierteljahrhundert plötzlich als größter Fortschritt [...] Nur ein Paar Spielverderber erkannten gleich die Haken: 1. Man muß den Prozess hundertprozentig im Griff haben, sonst wird die Sache sehr hässlich. 2. Für die strikte Bewachung des Plutoniums braucht man eigentlich eine kleine Diktatur. 3. Man muß den strahlenden Müll für Jahrtausende sicher lagern. Bis Heute weiß keiner, wo". Weiter kritisiert er den Kniefall der SPD vor der Wirtschaft in den 70er Jahren: "Damals am Ruder, ließ sie flott und ohne Scheuklappen Atomkraftwerke bauen [...] Der führende Sozialdemokrat hat immer Angst, als industriefeindlich und unpatriotisch zu gelten und kompensiert deshalb über. Wenn Herren in sehr teuren Anzügen oder sehr weißen Kitteln ihm erklären, ihre neueste Idee sei der große Wurf für Menschheit, neigt er dazu, ihnen alle Steine aus dem Weg zu räumen."
Die Grünen sind letztendlich von der gleichen Krankheit befallen. Schimmek geht auch auf die Maul- und Klauenseuche in Großbritannien eine und zieht eine ähnlich Schlußfolgerung:
"Es ist das gleiche Muster: Ein Paar Mahner, dagegen der Markt: Kostengründe und Lobbyisten voller Vertrauen in ihre Systeme. Und wieder verneigt sich die Politik vor der Ökonomie. Ignoriert aus Angst, selbst zu denken, die Gefahren. Obwohl es Milliarden und Jahrzehnte kostet, diesen Irrsinn zu revidieren".

Rebellion im Wendland: Zusammenkunft von "Seattle-Menschen"

Die Proteste im Wendland haben aber Grundsätzlicheres bewirkt: Die Radikalisierung und Politisierung einer neuen Generation. Das Programm für das Sommercamp von X-tausendmalquer bietet unter anderem Debatten über Formen von zivilem Ungehorsam, über visionäre Utopien und über Formen gesellschaftlicher Alternativen. Dieses Angebot fällt auf fruchtbaren Boden. Das Interesse an diesen Diskussionen war in den Camps im Wendland deutlich zu spüren.
Diese neue Generation von jungen Leuten, die zum ersten Mal an den Aktionen teilnahmen, ist geprägt von tiefgreifenden Veränderungen der politischen Lage. Die Erfahrungen mit Rot-Grün an der Macht auf der einen Seite und die Entstehung einer globalen antikapitalistischen Bewegung seit Seattle andererseits haben einen qualitativen Unterschied gemacht.
Es gab früher schon größere Aktionen der Anti-Atombewegung. In den 70ern richteten sie sich auch gegen eine SPD-Regierung. Das war aber zu einer Zeit, als die Atomwirtschaft noch gesellschaftlich akzeptiert war. 1980 waren 56% der Bevölkerung für den Bau von weiteren Atomkraftwerken.
Seit Tschernobyl hat sich das grundlegend verändert. Seitdem sind 69% für den Ausstieg aus der Kernenergie. Das Problem der Bewegung in den 80ern lag woanders. Im Laufe des Jahrzehnts stieg der Neoliberalismus zum alles beherrschenden ökonomischen und politischen Dogma auf. Die Linke befand sich im Niedergang und zersplitterte sich immer mehr. Die Grünen nahmen die Linke mit auf ihre Reise nach rechts in die Parlamente - weg von Antikapitalismus und außerparlamentarischer Opposition. Die Übriggebliebenen sahen sich isoliert und ihr Linksradikalismus verfestigte sich in dieser Isolation. Die aktive Opposition verallgemeinerte nicht, sondern zersplitterte sich in Ein-Punkt-Bewegungen. Die Aktionen mögen größer gewesen sein - in Wackersdorf demonstrierten 1986 40.000 - aber sie vertraten keine verallgemeinerte antikapitalistische Stimmung. Es blieben vereinzelte Abwehrkämpfe in einem zunehmend kalten gesellschaftlichen Klima.
Die Anti-Atom-Bewegung zeigte aber ein beeindruckendes Durchhaltevermögen. In den letzten Jahren der Kohlregierung gab es große Anti-Castor-Proteste. Viele hofften, daß die Ablösung Kohls den Atomausstieg und echte Veränderungen näher bringen würde. Es kam ganz anders: Weiterhin Politik für die Konzerne, der erste Angriffskrieg seit 1945, das Scheitern der grünen Umweltpolitik, die nicht mal eine Alt-Autoverordnung der EU gegen den Auto-Kanzler Schröder durchsetzen konnte und der Atomkonsens, der die Atomlobby beschenkt. All das waren tiefe Enttäuschungen, die zu einer Demoralisierung hätten führen können.
Seattle und die Entstehung einen globalen antikapitalistischen Bewegung machten jedoch den qualitativen Unterschied. Dort kamen Ein-Punkt-Bewegungen zusammen, um eine gemeinsame Anklage gegen den Kapitalismus politisch und aktiv zu formulieren. Die Kluft zwischen gewerkschaftlichen AktivistInnen und der Mehrheit der Bevölkerung auf der einen Seite und den Umwelt- und "Dritte-Welt"-Bewegungen auf der anderen schien überwindbar.
Seattle war ein Fanal. Die neuen AktivistInnen der Anti-Atom-Bewegung sind Teil der Seattle-Generation, die nicht nur den Atomausstieg will. Ihr Widerstand richtet sich auch gegen das System an sich. Menschen, die den Grünen vertraut haben und sich jetzt enttäuscht von ihnen abwenden, kommen zusammen mit denen, die sich nie auf sie verlassen haben. Enttäuschte LinksreformistInnen, die sich radikalisieren, kommen zusammen mit Linksradikalen, die Wege aus ihrer gesellschaftlichen Isolation suchen. Darin liegt die Basis für ein Seattle auch in Deutschland.
Wie in Seattle kamen im Wendland AktivistInnen von mehreren Ein-Punkt-Bewegungen zusammen. Natürlich waren AktivistInnen aus der Umweltbewegung da, z.B. "Rising Tide", die Aktionen für die Weltklimakonferenz vom 16.-20. Juli in Bonn mit vorbereiten oder von "Regenbogen", einer Abspaltung der Hamburger Grünen, die gute Chancen hat, bei den Bürgerschaftswahlen im September die 5%-Hürde zu nehmen. Flüchtlingsorganisationen waren da. "The Voice", eine neue Organisation von hauptsächlich afrikanischen Flüchtlingen, plant vom 17.-19. Mai Aktionstage und eine abschließende bundesweite Demonstration in Berlin gegen das rassistische Residenzpflicht-Gesetz. Ein Redner von "The Voice" erklärte auf der Kundgebung bei der Auftaktdemonstration in Lüneburg, warum sie sich den Castor-Blockaden angeschlossen haben: "Der Castor hat Bewegungsfreiheit. Die Flüchtlinge nicht." Die Verbindung mit dem Kampf gegen Rechts wurde auch deutlich, als ein Nazi mit seinem Auto in die Menge fuhr und eine Frau mit Kind verletzte. Sie mußten ins Krankenhaus gebracht werden. Eine spontane Gegendemonstration fand unmittelbar am gleichen Tag in Lüneburg statt.

Von Zivilcourage zu zivilem Ungehorsam

Zivilcourage zeigen heißt es immer, wenn die Politik auf das Entsetzen über rassistische und faschistische Angriffe eingehen muß. BürgerInnen sollen Zivilcourage zeigen, statt tatenlos danebenzustehen. Zivilcourage ist die Notwendigkeit, zu handeln, wenn Unrecht geschieht. Die Erfahrung derjenigen, die in diesem Sinne aktiv werden - ob gegen die Atomgefahr, gegen Nazis oder gegen diskriminierende Gesetze, ist, daß der Staat gegen sie vorgeht und die Regierung gegen sie hetzt. Zivilcourage zu zeigen, heißt für viele deshalb, zivilen Ungehorsam gegen den Staat, gegen die Gesetze und gegen die Politiker zu zeigen. Während Gerhard Schröder von einem "Aufstand der Anständigen" sprach, war die Erfahrung der Anti-Nazi-AktivistInnen: Nazis werden geschützt und AntifaschistInnen von der Polizei geprügelt. Das ist die Erfahrung von AntirassistInnen und politisch aktiven Flüchtlingen, wenn sie gegen rassistische Gesetze und Abschiebepolitik kämpfen. Und das ist die Erfahrung von Umwelt-AktivistInnen, die die Mehrheitsmeinung gegen die Castortransporte und die Atomkonzerne nicht nur teilen, sondern gegen Atomkraft selber aktiv werden. Gegen sie wurde eine nahezu militärische Besetzung des Wendlandes organisiert, Demonstrations- und Versammlungsverbote verhängt und ihre Zeltlager geräumt.
Deshalb erlebt massenhafter ziviler Ungehorsam ein spektakuläres Comeback in Deutschland. Der Sprecher einer Bürgerrechtsinitiative gegen die Castortransporte drückte diese neue Einstellung treffend aus: "Wenn etwas verboten wird, dann muß man eben etwas Verbotenes tun".
Die AktivistInnen in den Camps von X-tausendmalquer waren von diesem Geist geprägt. Viele trugen eine Zahnbürste bei sich als sie von den Schienen geräumt wurden. Diese Geste geht zurück auf den schwarzen Bürgerrechtler Martin Luther King, der in den 60er Jahren massenhaften zivilen Ungehorsam gegen die rassistischen Apartheidsgesetze in den Südstaaten der USA organisierte. Er wurde in einer Broschüre von X-tausendmalquer zitiert:
"'Hört mal gut zu', sagte Martin Luther King zu den farbigen Kindern, die gegen das Unrecht protestieren wollten. ‚Wenn ihr ins Gefängnis kommt, und damit müßt ihr rechnen, dann müßt ihr alles abgeben, was ihr in der Hosentasche habt. Doch wenn ihr eure Zahnbürste dabeihabt, die könnt ihr behalten. Und zum Zeichen, daß ihr bereit seid, ins Gefängnis zu gehen, habt immer eure Zahnbürste dabei".
In der Broschüre gibt es ein Lied, das auf diese Geschichte zurückgreift:

Dann kamen viele grüne Männer
mit ihren Wasserwerfern an.
Die Kinder gingen dem entgegen.
Johnny sang und ging voran.
Wir haben unsre Zahnbürste dabei,
was kann uns schon passieren.
Eines Tages sind wir frei.
King hat es gesagt.



Mit Martin Luther King begann eine Bewegung , die sich um so mehr radikalisierte, je stärker die Repression gegen sie war. Ende der 60er entstanden dann die Bewegungen um Malcolm X und die Black Panther, die von einer radikaleren, revolutionären Politik gegenüber dem Staat geprägt waren. Wir stehen heute am Anfang einer solchen Entwicklungen.

Von der Perspektivlosigkeit zur visionärer Utopie

Auf dem Camp von X-tausendmalquer: Bezugsgruppen bilden sich. Eine SprecherInnenrat von Delegierten aus den Gruppen wird gebildet. Es wird gemeinsam gegessen, für die Blockade trainiert und ständig diskutiert: Über die Aktionen, aber am meisten über Politik, Politik, Politik. Die Mitglieder einer Bezugsgruppe, gerade zusammengekommen, stellen sich einander vor. "Hallo ich heiße so und so. Ich bin hier weil ich gegen den Castor bin und für das Solidaritätsprinzip". Solidarität wird gelebt. Und es wird hauptsächlich darüber geredet wie diese Solidarität auch zum Gesellschaftsprinzip außerhalb der Camps gemacht werden kann. Eine Frau sagte in einer hitzigen Diskussion über andere Gesellschaftsformen: "Utopischer Kommunismus? Das ist ja was für uns!"
Der Castor war also nur der Anlaß, für das Zusammenkommen der AktivistInnen - fast alle wünschen sich eine andere Gesellschaft. Und durch die Art, wie sie reden, ist man schnell überzeugt, daß dies keine akademische Diskussion ist, kein netter Zeitvertreib bis der Castor kommt, sondern es ist ernstgemeint. Sie wollen eine andere Gesellschaft, sie wollen sie lieber heute als morgen. Aber wie kriegen wir sie? Indem wir Kommunen bilden und unseren Lebenstil ändern? Oder müssen wir das jetzige System stürzen, um ein anderes aufbauen zu können? Sind wir genug? Was ist mit den ArbeiterInnenn? Wie wichtig sind sie für eine Umwälzung der Gesellschaft? Können sie dafür gewonnen werden? Keine von diesen Fragen ist tabu. Alles wird kontrovers diskutiert.
Die Castor-AktivistInnen wie die Seattle-Menschen haben nicht nur eine Massenbewegung aufgebaut. Sie wollen weg von der Perspektivlosigkeitlosigkeit, die viele Linke in den 80er Jahren in die grüne bzw. sozialdemokratische parlamentarische Sackgasse oder in die politische Passivität geführt hat. Eine Alternative zu solcher Politik fällt nicht einfach vom Himmel, aber sie wird gewollt und wird gesucht. Die kommenden Kämpfe, in denen die Richtung entschieden wird, in die sich die Gesellschaft entwickelt, wird diese Debatten noch stärker hervorbringen. Es ist der Geist von '68, der in den Diskussionen durchschimmert.

Antikapitalismus und die Arbeiterklasse

Die antikapitalistische Minderheit von heute hat eine große Zukunft vor sich, wenn sie es schafft, an der Mehrheit der Gesellschaft anzuknüpfen und sie zu beeinflussen. Die große Mehrheit, das sind die Malocher in den Betrieben und Büros, die nicht bei der Blockade waren - jedenfalls nicht in großer oder organisierter Zahl.
Die letzte aufsteigende antikapitalistische Bewegung in Deutschland und in der ganzen Welt gab es in den 60er Jahren. Die Menschen damals haben ähnliche Erfahrungen gemacht und haben ähnlichen Fragen debattiert wie die Generation der Castorblockierer von heute. Für sie wurde der Anschluß an die große Mehrheit der arbeitenden Menschen letztendlich zur entscheidenen Frage. Aber das Deutschland der 60er war eine Wohlstandsgesellschaft. Der Nachkriegswirtschaft boomte und die meisten Arbeiter sahen die Möglichkeit, innerhalb des Systems Verbesserungen zu erlangen. Das war ihre tatsächliche Erfahrung in den Kämpfen um mehr Lohn und kürzere Arbeitszeiten. Es gab also eine Kluft zwischen einer subjektiv bedeutenden, meist studentischen revolutionären Jugend und großen Teilen der in den Gewerkschaften organisierten Beschäftigten.
Heute leben die Menschen in einer anderen Situation. In den letzten 30 Jahren haben wir die Rückkehr der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus, die neoliberale Offensive gegen den Sozialstaat und den Anstieg zur Massenarbeitslosigkeit erlebt. Die rot-grüne Regierung hat hier keine Veränderung gebracht. Sie hat nicht nur die Umweltbewegung enttäuscht. Sie hat nicht nur die rassistische Abschiebepolitik fortgesetzt. Sie hat ihre WählerInnen und ihre Mitgliederbasis unter den ArbeitnehmerInnen verraten.
Die Arbeiter erleben die neoliberale Politik am eigenen Leib. Flexibilisierung, Privatisierung und schlanker Staat für die Armen, Steuergeschenke für die Reichen - so lautet heute die Devise.
Diese Politik hat die GewerkschafterInnen in den USA nach Seattle gebracht. Sie hat sie zum ferner Zusammenschluß mit den antikapitalistischen Jugendlichen gegen die WTO gebracht. Dieses Potential haben wir heute auch in Deutschland. Ein solches Zusammenkommen ist auch in Deutschland notwendig und es ist auch möglich. Die nächste große Gelegenheit sind die Anti-G8-Gipfel-Proteste in Genua.

Kräfte bündeln: Von Gorleben nach Genua

In Genua findet vom 20.-22. Juli der G8-Gipfel statt. Alles deutet daraufhin, daß Genua das nächste große antikapitalistische Ereignis sein wird. Vorher finden antikapitalistische Proteste in Göteborg gegen den EU-Gipfel und in Salzburg gegen das Weltökonomische Forum statt. Dies können Stationen auf dem Weg der Mobilisierung nach Genua werden.
Weltweit mobilisieren viele Menschen nach Genua, denn Gründe gibt es genug: Dort treffen sich die Klimakiller dieser Welt, allen voran der amerikanischen Präsident, George W. Bush. Dort treffen sich diejenigen, die die Ausbeutung der "Dritten Welt" verschärfen wollen. Dort treffen sich die imperialistischen Weltmächte, die überall in Kriege verwickelt sind.
Mitglieder der MigrantInnen- und Flüchtlingsorganisationen werden an diesen Protesten teilnehmen, um sich lautstark über eine Weltordnung zu beschweren, in der es nur Bewegungsfreiheit von Kapital und Waren, aber nicht von Menschen gibt. Dort werden italienische und europäische AntifaschistInnen vereint gegen Berlusoni und seine Nazi-Koalitionspartner stellen. Berlusconi wird wahrscheinlich die Wahlen in Italien im Mai gewinnen. In Genua will die Friedensbewegung gegen die amerikanischen Star-Wars-Pläne, die Installierung der Nuklear Missile Defense, protestieren. Auch UmweltaktivistInnen werden da sein, um Bushs Klima-Killer-Politik anzuprangern. Die Liste der Organisationen, die einen Grund haben, nach Genua zu mobilisieren, ist endlos.
Genua könnte der bisher größte antikapitalistische Protest in Europa werden. Schon in Neapel sind Anfang März 50.000 zusammengekommen, um gegen den weltweiten IT-Gipfel zu protestieren. Die Dachorganisation, die dorthin mobilsierte, Das Volk von Seattle, rechnet mit 100.000 in Genua.
Es wird sich zeigen, ob die antikapitalistische Bewegung und die Gewerkschaften in Genua zusammenkommen werden. Das Treffen von IWF und Weltbank in Prag blockierten hauptsächlich junge AntikapitalistInnen aus ganz Europa. Die Proteste gegen den EU-Gipfel in Nizza waren hauptsächlich eine riesige Gewerkschaftsdemonstration. Schon jetzt gibt es AktivistInnen in den Gewerkschaften und in der antikapitalistischen Bewegung, die in Genua beide Kräfte zusammenbringen wollen. Genua könnte ein qualitativen Sprung nach vorne für die antikapitalistische Bewegung sein.
Eineinhalb Jahren nach Seattle gibt es endlich Anzeichen in Deutschland, daß die Linke die Bedeutung der neuen antikapitalistischen Bewegung versteht. Eine Reihe von Organisationen haben sich Genua schon als Ziel gesetzt. Die Castorproteste haben dazu beigetragen. Seattle ist ein Wort, das von einer zunehmenden Zahl von jungen AktivistInnen verstanden wird. Daraus könnte eine neue Linke entstehen. Wir erleben den Formierungsprozess dieser Linken schon heute. Es gibt eine Sehnsucht nach linker Einheit unter den AktivistInnen, die anfängt, die alten Strukturen von linken Organisationen und Zusammenhängen zu beeinflussen. Sektierertum muß der Vergangenheit angehören. Von den Autonomen bis zu Attac - wir müssen alle Kräfte bündeln.

Sozialismus von Unten: Ideen für eine neue Linke

Eine Zusammenarbeit verschiedener Organisationen schließt aber nicht eine politische Debatte in dieser Zusammenarbeit aus. Sie macht diese Diskussionen sogar erst möglich. Der Charakter der antikapitalistischen Bewegung, deren Ausrichtung, wird dadurch bestimmt.
Diese Ausgabe von Sozialismus von Unten ist ein Beitrag zu der Debatte über diese Ausrichtung. Verschiedene Ideen kursieren. Viele Fragen müssen geklärt werden. In einer solchen Situation wird Theorie wichtig - Theorie als Analyse der Erfahrungen aus den antikapitalistischen Bewegungen der Vergangenheit. Wir sind nicht die ersten, die dem Kapitalismus den Garaus machen wollen. Eine Analyse der Erfahrungen und eine Beschäftigung mit den Ideen der Bewegungen der Vergangenheit kann die antikapitalistische Bewegung heute stärken. Hier kann der Marxismus einen wichtigen Beitrag leisten. Die antikapitalistische Bewegung heute teilt viele Ideen, die Marx formuliert hat, zu einer Zeit, als der Kapitalismus gerade entstand. Marx sah das System als eine Totalität. So denken immer mehr Menschen.
Aber die Ideen, die die Linke in den Jahren des Niedergangs prägte, sind auch noch da. Neue Ideen prallen gegen die alten. Die Linke muß sich nicht nur von Rot-Grün emanzipieren. Sie muß sich auch von diesen alten Ideen emanzipieren.
Tausende neue Bewegungen weltweit bringen tausende Fragen hoch, die beantwortet werden müssen. Wodurch wird unsere Umwelt zerstört? Durch das Profitsystem und den Markt oder durch die industrielle Produktion und den Mensch an sich? Was bestimmt die Geschlechterrollen in der Gesellschaft? Patriachralische Ideologie oder kapitalistische Produktionverhältnisse? Kann der Kapitalismus reformiert werden, indem wir die Finanzmärkte regulieren? Oder ist das Problem die kapitalistische Wirtschaft, die eine demokratische Kontrolle von unten über die Produktionsmittel unmöglich macht? Können die Gewerkschaften antikapitalistisch sein? Wie setzen wir uns gegen den Staat durch? Reicht ziviler Ungehorsam aus? Brauchen wir überhaupt einen Staat? Können die Nazis durch den Staat bekämpft werden? Wie kann eine Anti-Nazi-Bewegung von unten aussehen? Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Kapitalismus und Staat einerseits und den weltweiten stattfindenden Kriegen andererseits? Warum brennt es im Mittleren Osten? Was haben AntikapitalistInnen mit Antiimperialismus zu tun? Was können wir von den 68er lernen?
Der Sozialismus von Unten ist voll mit Diskussionsbeiträgen, die wichtig für den Aufbau einer neuen Linken sind. Auf den Rosa-Luxemburg-Tagen [www.rosa-luxemburg-tage.de], die über die Pfingsttage in Berlin stattfinden, werden diese und viele anderen Fragen debattiert. Baut die neue antikapitalistische Bewegung auf, kommt zusammen und baut die Linke auf.
Für eine sozialistische Alternative zu den bestehenden Verhältnissen!




Sozialismus von unten, Nr. 6, Frühjahr 2001