Sozialismus von unten - Zeitschrift für sozialistische Theorie und Praxis

Nr.5, Winter 2000/2001

zurück zu SVU Nr.5e-mail 

Sozialismus von unten
Zeitschrift für sozialistische Theorie und Praxis
  
Hrsg.: Linksruck Netzwerk

Telefon:040-31792303
E-Mail:svu@linksruck.de
www.sozialismus-von-unten.de

Wer Straßen sät, wird Autoverkehr ernten

Es gäbe eine Alternative zu Waldsterben, Abgas, Lärm und Stau: Ein gutausgebauter, billiger Öffentlicher Verkehr. Doch daran haben weder die Autolobby noch die mit ihr zusammenarbeitenden Politiker ein Interesse.

Frank Eßers untersucht die Verkehrspolitik in Deutschland und kommt zu dem Ergebnis: Rot-Grün hat vor den Automobilkonzernen kapituliert.

Der PKW/LKW-Verkehr verursacht jedes Jahr 8.000 Tote und eine halbe Million Verletzte, von denen 50.000 bleibende Schäden davontragen. Die Opfer sind vor allem Kinder 1. Unerträglicher Lärm, Stress und Waldsterben sind weitere Folgen. Fünfzig Prozent aller Treibhausgase, die globale Erwärmung und damit Klimakatastrophen verursachen, stammen aus Kraftwerken und Auspuffen 2. Während der Schienenverkehr in Westeuropa 1995 Kosten in Höhe von 20,2 Milliarden DM verursachte, betrugen die Kosten des Autoverkehrs 949 Milliarden DM3.

Seit den 50er Jahren baute der Staat 94.000 Kilometer Landes- und Bundesstraßen. Im gleichen Zeitraum wurden 12.000 Kilometer Schiene stillgelegt und 6.000 Bahnhöfe geschlossen4. Bis zum Jahr 2020 sollen weitere 11.500 Kilometer Straße gebaut werden, die Kosten betragen knapp 540 Milliarden DM. Für den Ausbau des Schienensystems fehlt hingegen angeblich das Geld. Zur Zeit sind sogar 10.000 Kilometer Schiene von Stilllegung bedroht5. Insgesamt wird vom deutschen Staat jedes Jahr zwei- bis dreimal so viel für den Straßenverkehr ausgegeben wie für die Schiene6.

Während die Deutsche Bahn ihr Schienensystem selbst finanzieren muss, werden Straßen auf Kosten der Steuerzahler gebaut und instandgehalten - das ist in keinem anderen europäischen Land der Fall. Ganz gleich, welche Partei regiert, das Bild ist stets dasselbe: Die Auto- und Ölindustrie wird auf Kosten von Bus und Bahn subventioniert.

Autolobby zerschlägt Bundesbahn

Nachdem die Deutsche Bundesbahn von der Kohl-Regierung 16 Jahre lang kaputtgespart wurde, machte sich 1989 die Regierungskommission Bahn daran, die Bundesbahn zu privatisieren: „Der Kommission gehörte nicht ein einziges Mitglied aus dem Bereich der Bahn an. Allerdings waren in ihr führende Vertreter der Autoindustrie und der Ölbranche vertreten7.

Nachfolger der Regierungskommission Bahn wurde das Verkehrsforum Bahn, in dem rund 240 Unternehmen aus den Bereichen Automobilbau, Spedition, Mineralöl und Straßenbau vertreten sind. Eine Arbeitsgruppe Unternehmensstruktur der Deutschen Bahn arbeitete ein Konzept für die Privatisierung der Bahn aus. Mitglieder dieser Arbeitsgruppe waren z.B. Wilhelm Bender, Vorstandschef der Spedition Schenker-Rhenus , und Klaus Liesen, Aufsichtsratsvorsitzender bei VW 8. Dieses Konzept wurde von der damaligen konservativen Regierung übernommen und wird seit Ende 1998 von Rot-Grün durchgesetzt.

1994 fiel dann der Startschuss für die Privatisierung der Bahn. Von einem Staatsunternehmen, dass dem öffentlichen Wohl dienen sollte, wurde die Bundesbahn in eine Aktiengesellschaft verwandelt, die nicht den Reisenden, sondern der Gewinnmaximierung verpflichtet ist.

Unternehmer, die mit der Bahn konkurrieren, entwerfen also die Konzepte für die Verkehrspolitik in Deutschland - und füllen ihre Kassen.

Soziale Folgen

Dieser Wahnsinn hat auch soziale Folgen. Erstens werden Menschen, die auf Bus und Bahn angewiesen sind, systematisch von der Fortbewegung ausgeschlossen. Das gilt vor allem für ältere Menschen und all jene, die sich kein Auto leisten können oder wollen. Mittlerweile sind ganze Regionen vom Öffentlichen Verkehr abgeschnitten, weil vor allem Nahverkehrs- und Regionalstrecken der Bahn stillgelegt wurden. Berufspendler und Menschen, die in ländlichen Gebieten leben, werden dadurch zum Autofahren gezwungen.

Zweitens: Die in eine Aktiengesellschaft umgewandelte Bahn orientiert sich nicht länger an den Bedürfnissen der Mehrheit der Bahnkunden, sondern an einer Minderheit zahlungskräftiger Geschäfts- und Luxusreisender. Dementsprechend wird vor allem in Prestigeprojekte wie den ICE investiert. Für die Mehrheit der Reisenden hingegen steigen die Fahrpreise bei gleichzeitiger Verschlechterung des Service.

Drittens: Genau jene, die die Bedürfnisse der Mehrheit der Bevölkerung nach einem gutausgebauten und billigen Öffentlichen Verkehr befriedigen könnten, werden entlassen: die Beschäftigten von Bus und Bahn. In den letzten fünf Jahren hat der Bahnvorstand 120.000 Arbeitsplätze wegrationalisiert9. Bis zum Jahr 2005 sollen weitere 60.000 Jobs abgebaut werden10.

Todesfalle Bahn

Zugunglücke wie die in Eschede oder Brühl sind Folgen der Einsparungen bei Personal und  Bahnsicherheit. Investitionen in neue Weichen, Gleise und Sicherheitstechnik würden solche Unfälle verhindern helfen. „Seit 1994 investierte die Bahn 90 Milliarden Mark, ein großer Teil floss in Luxus- und Prestigeobjekte. Gleichzeitig verlotterten wichtige Gleisanlagen und Bahnhöfe“, schrieb der Spiegel in einer eigens der Bahnprivatisierung gewidmeten Ausgabe11.

Walter Kripgans arbeitet im Eisenbahn-Bundesamt, das die Bahnsicherheit überwacht. Aus seinen Vorträgen über den maroden Zustand der Bahn berichtete die Hamburger Morgenpost: „’Ein Lokführer ruft mich anonym an und beklagt sich, dass er schon mehrfach seine Vorgesetzten auf Gleismängel hingewiesen habe’, so Kripgans. Der Zustand sei jetzt so schlimm, dass er sich nicht mehr traue, die zulässigen 100 Kilometer pro Stunde zu fahren, weil die Lok so stark hin und her springt, dass er befürchtet, es könne zur Entgleisung kommen. Kripgans schaut sich das Gleis an und ist erschrocken: ‘Über mehrere hundert Meter sind die Schienenbefestigungen so lose, dass wir die Schwellenschrauben mit bloßer Hand herausziehen können’12. Wegen seiner Enthüllungen ist Walter Kripgans inzwischen strafversetzt worden. Ein anderer Bahner berichtet: „Während wir früher (...) selbst kleinste Mängel sofort beseitigten, ist das seit der Bahnreform ganz anders13.

An der Ausbildung der Lokführer wurde ebenfalls gespart: Früher war es Vorschrift, dass zwei Lokführer gemeinsam auf einer Lok arbeiteten. Außerdem wurden junge Lokführer sechs Monate lang von einem erfahrenen Kollegen angeleitet. Heute ist dem nicht mehr so. Während früher eine Lokführerausbildung 18 Monate dauerte, kann sie mittlerweile in sieben Monaten abgeschlossen werden. Einzige Voraussetzung ist ein bereits erlernter technischer Beruf 14.

Automann und  Sportwagenfan

Die Verkehrspolitik in Deutschland ist ein Paradebeispiel dafür, wie Marktwirtschaft funktioniert: Halten die Bosse die Hände auf, dann zücken die Politiker reflexartig das Portemonnaie. Die rot-grüne Regierung ist da keine Ausnahme. Sie setzt die Politik Helmut Kohls nahtlos fort, statt die Privatisierung der Bundesbahn rückgängig zu machen und den Öffentlichen Verkehr auszubauen.

Von dem ehemaligen VW-Aufsichtsratsmitglied Gerhard Schröder, der sich gerne als „Automann“ bezeichnen lässt, war auch nichts anderes zu erwarten. Doch Schröder hat Gesellschaft aus den Reihen der Grünen erhalten: Im Juni 1999 hat Umweltminister Jürgen Trittin die Alt-Auto-Verordnung des EU-Umweltministerrates gestoppt. Ab dem Jahr 2003 sollten die Auto-Hersteller zur kostenlosen Rücknahme alter Wagen verpflichtet werden. Daraus wird nun nichts. Der österreichische Umweltminister Martin Bartenstein sagte damals in Richtung Trittin, es wäre ein schlimmer Präzedenzfall, wenn sich die europäischen Umweltminister von der Industrie unter Druck setzen ließen15.

Den Vogel abgeschossen hat aber Rezzo Schlauch, Fraktionschef Bündnis90/Die Grünen, und bekennender Sportwagenfan. Er bezeichnete das Auto als „ein Mittel der Emanzipation“ und als „Instrument der Freiheit16. Für „auto motor und sport tv “ testete Rezzo Schlauch den „umweltfreundlichen“ Sportwagen Zato L3 - „mit sichtlichem Vergnügen17.

Freie Fahrt für die Bosse

Mit der Ökosteuer und höheren Spritpreisen sollen die Auswüchse dieser Öl- und Autolobby-Politik eingedämmt werden. Das rot-grüne Motto lautet: Höhere Preise zwingen zu Umweltbewusstsein, der Markt regelt alles. Doch das einzige was der Markt regelt, ist die Umverteilung des Reichtums von unten nach oben.

Während Arbeitnehmer, Studenten, Rentner zur Kasse gebeten werden und vor allem sozial Schwache unter der Ökosteuer leiden, werden die Unternehmen steuerlich entlastet. Industriekonzerne zahlen 80 Prozent weniger Ökosteuer als Privatverbraucher18. Die Kosten der Umweltverschmutzung tragen wir - nicht die Konzerne.

Eine gerechte Ökosteuer würde zum Beispiel die Auto-, Öl- und Atomkonzerne kräftig zur Ader lassen. Die Einnahmen könnten zum Ausbau des Öffentlichen Verkehrs und für den Umweltschutz verwendet werden. In diesem Jahr verdienen die fünf größten Mineralölkonzerne rund 30 Milliarden US-Dollar19. Texaco erhöhte seine Profite in den ersten sechs Monaten dieses Jahres im Vergleich zum letzten Jahr um sage und schreibe 51 Prozent 20. In ihren Tresoren lagert das Geld, dass für den Öffentlichen Verkehr dringend benötigt wird.

Schamlos nutzen die Ölbosse die Ökosteuerdebatte aus, um sich zu bereichern und die volle Verantwortung für die Preissteigerungen der Regierung zuzuschieben. Von den 24 Pfennig, die der Liter Benzin im letzten Jahr teurer wurde, flossen 16 Pfennig in ihre Taschen. Die Ökosteuer hatte daran „nur“ einen Anteil von sechs Pfennig21.

Solchen Geldhaien müsste die Regierung eigentlich einen Strich durch die Rechnung machen. Doch das Ergebnis rot-grüner Politik ist, dass das Autofahren teurer wird - ohne dass sich am miserablen Zustand des öffentlichen Verkehrs etwas ändert, ohne dass die Bosse zur Kasse gebeten werden und ohne dass die Macht der Auto- und Ölkonzerne gebrochen wird.

Im Kapitalismus hat die Zerstörung der Natur Ausmaße angenommen, die in allen vorhergehenden Gesellschaftsformen unvorstellbar waren. Dem Interesse des Kapitals, seine Gewinne zu maximieren, wird alles andere untergeordnet: Mensch und Umwelt stehen an letzter Stelle. SPD und Grüne stellen dieses Ausbeutungssystem nicht grundsätzlich in Frage. Deshalb haben sie in der Umweltpolitik auch keine echte Alternative anzubieten. Sie kapitulieren vor den Bossen.

Gemeinsam kämpfen

Das Potential, die rot-grüne Marktideologie zu bekämpfen, ist vorhanden: Die Empörung über die Einsparungen bei der Bahnsicherheit, über die Unfälle in Eschede und Brühl, ist weit verbreitet. Die Eisenbahnbelegschaft selbst ist streikbereit. Zurückgehalten wird sie nur von der mit Gerhard Schröder verheirateten Gewerkschaftsführung.

Die Wut über die Abzockermentalität der Ölmultis bei den Spritpreisen und über die soziale Schieflage der Ökosteuer hat sich bereits in Protesten entladen. Die Weigerung der Gewerkschaftsbosse, gegen Rot-Grün auf die Straße zu gehen, hat dazu geführt, dass die Spritproteste von mittelständischen Unternehmern durchgeführt wurden. Denselben Unternehmern, die an der Umweltverschmutzung verdienen, Tarifverträge unterlaufen, Betriebsräte bekämpfen und von der Politik der Neuen Mitte profitieren.

In der Atompolitik ist die ehemalige Umweltpartei der Grünen und die SPD bereits zum Feindbild geworden: Seit Jahren leisten Zehntausende einen erbitterten Widerstand gegen die Castor-Transporte.

Eine der wichtigsten Aufgaben der Linken ist es, alle diese Kämpfe zusammenzubringen. Wir dürfen es nicht zulassen, dass die berechtigte Wut über eine sozial ungerechte Ökosteuer von Unternehmern instrumentalisiert wird. Wir dürfen uns auch nicht damit abfinden, dass die Gewerkschaftsführung Proteste ausbremst. Wenn zum Beispiel die Bahnbelegschaft dafür gewonnen würde, die Castor-Transporte zu boykottieren und für den Ausbau des Öffentlichen Verkehrs zu streiken, dann hätte die Umweltbewegung einen starken Verbündeten gewonnen.

Wir dürfen nicht darauf warten, dass das automatisch passiert. Im Gegenteil: es ist unsere Aufgabe, den Kampf für die Umwelt mit den sozialen Kämpfen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu verbinden. Das wird nur gelingen, wenn wir Teil der sozialen Proteste sind.

EXZERPTE:

Ganz gleich, welche Partei regiert: Auto- und Ölkonzerne werden stets auf Kosten von Bus und Bahn subventioniert.

Halten die Bosse die Hände auf, dann zücken die Politiker reflexartig das Portemonnaie.

Unternehmer, die mit der Bahn konkurrieren, bestimmen die Verkehrspolitik

Im Kapitalismus hat die Zerstörung der Natur unvorstellbare Ausmaße angenommen

1 Gila Altmann: Wer Straßen sät, wird Verkehr ernten, in: Einmal Chaos und zurück - Wege aus der Verkehrsmisere, Neuer ISP Verlag 1988, S. 11

2 Paul McGarr: Why green is red: Marxism an the threat to the environment, in: International Socialism Journal Nr.88, London 2000, S. 67

3 Die Woche, 10.11.2000, S.11

4 Gila Altmann: Verkehrspolitik in schweren Zeiten - keine Konjunktur für Visionen?, in: Einmal Chaos und zurück - Wege aus der Verkehrsmisere, Neuer ISP Verlag 1988, S. 16

5 Gila Altmann: Wer Straßen sät, wird Verkehr ernten, in: Einmal Chaos und zurück - Wege aus der Verkehrsmisere, Neuer ISP Verlag 1988, S. 6f.

6 Albert Schmidt: Gleiche Chancen für die Schiene: Für einen fairen Wettbewerb der Verkehrsträger, in: Einmal Chaos und zurück - Wege aus der Verkehrsmisere, Neuer ISP Verlag 1988, S. 97 (Albert Schmidt, verkehrspolitischer Sprecher der Grünen, sitzt mitlerweile im Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG. Er hat gemeinsam mit dem Grünen-Fraktionschef Rezzo Schlauch und der energiepolitischen Sprecherin Michaele Hustedt ein Auto-Papier vorgelegt. Darin bekennen sich die drei zum Auto als Verkehrsmittel Nummer eins.)

7 Winfried Wolf: Die Privatisierung staatlicher Bahnen oder: Nostalgiereisen zurück ins 19. Jahrhundert, in: Einmal Chaos und zurück - Wege aus der Verkehrsmisere, Neuer ISP Verlag 1988, S. 34

8 Linksruck Nr. 85, 5. April 2000, S.5

9 Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands, http://www.gded.de/kampagne/index.shtml  (März 2000)

10 Hamburger Morgenpost, 07.11.2000

11 Der Spiegel Nr. 13, 27.03.2000, S. 122

12 Hamburger Morgenpost, 07.11.2000

13 ebenda

14 World Socialist Web Site, http://www.wsws.org.de/2000/feb2000/brue-f11_prn.html

15 Hamburger Morgenpost Online, 25.06.1999, http://database.mopo.de/bookmark/nachrichten/19990625/19990625113.html

16 Der Spiegel Online, 10.Juni 2000, www.spiegel.de/spiegel/nf/0,1518,80317,00.html

17 Yahoo! Schlagzeilen, http://de.sports.yahoo.com/000419/55/p5oj.html 

18 Linksruck Nr. 94, September 2000, S.3

19 ebenda

20 ebenda

21 ebenda

 

zurück zu SVU Nr.5e-mail 

www.linksruck.de