Sozialismus von unten - Zeitschrift für sozialistische Theorie und Praxis

Nr.5, Winter 2000/2001

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Sozialismus von unten - Zeitschrift für sozialistische Theorie und Praxis   

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Neue Wirtschaft? – neue Streiks!

Die New Economy hat die deutschen und internationalen Wirtschaftsgazetten zu einer lange nicht gekannten Euphorie gebracht. Nicht nur die Kurse sollten ewig steigen – was sich mittlerweile schon als Seifenblase herausgestellt hat - , sondern es sollte auch diese lästige Arbeiterklasse mit all ihren Streiks nun endgültig verschwinden. Christine Buchholz nimmt den zweiten Mythos der New Economy  aufs Korn.

 

„Der Ausgang des Streiks gilt als entscheidend für die Zukunft der Gewerkschaften in der New Economy.“ schrieb das Handelsblatt am 9. September 2000 mit Blick auf den Streik bei dem amerikanischen Telekommunikationsriesen Verizon, der gerade durch eine Fusion der Telefongesellschaften Bell Atlantic und GTE entstanden war und fast alle Telefonanschlüsse an der amerikanischen Ostküste betreibt.

Der erfolgreiche Streik der 86.000 Verizonarbeiter hat Schockwellen durch die schöne neue Welt der „New Ecomomy“ gesandt. Sie erkämpften im August 2000 neben einer 12 prozentigen Lohnerhöhung und einer Beschränkung der Überstunden auf 7,5 Stunden pro Woche das Recht, offensiv die Gewerkschaft im Betrieb aufzubauen. Und sie zeigten, dass es gar nicht so schwer ist mit einer ausreichende Menge organisierter Arbeiter die von der reibungslosen Datenübertragung abhängige New Economy auszubremsen. Dass „die Gewerkschaft der Telekommunikationsarbeiter die New Economy mit archaischen Klassenkampfmethoden in die Knie zwingt“, musste auch die Süddeutsche Zeitung feststellen. Ist das Zufall? Denn während sich in den USA die Arbeiterklasse in neuer Kampfbereitschaft und Entschlossenheit zeigt, beschwören sogenannte Experten, dass mit dem Eintritt in die „Wissensgesellschaft“ das Ende der Arbeiterklasse nahe.

Meinhard Miegel, Leiter des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft in Bonn und Berater von Kurt Biedenkopf orakelt: „Wenn nicht alles trügt, ist dies der dritte gewaltige Paradigmenwechsel der Geschichte der Menschhei“.

Nach dem Übergang von der Jäger- und Sammlergesellschaft zur Sesshaftwerdung und dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft sei nun die dritte gesellschaftliche Revolution im Gange:

Während in der Industriegesellschaft die Arbeit in einer Symbiose mit dem Kapital zu den enormen Produktivitätssteierungen geführt habe, trete jetzt das Wissen an die Stelle der Arbeit. „Erst das auf dem Rücken des Kapitals transportierte Wissen“ kann heutzutage den Fortschritt bewirken, die Arbeit und damit die Arbeiterklasse habe keinerlei Auswirken mehr auf das gesellschaftliche Vorankommen. In dasselbe Horn tuten die Modernisierer in den Reihen der Sozialdemokratie, die sich von der Arbeiterklasse ab und der Neuen Mitte zugewandt haben.

Seit den 80er Jahren hat sich die These vom Verschwinden der Arbeiterklasse in der Soziologie breitgemacht. Dankbar wird dieser Trend von den wirtschaftlichen Eliten und den Modernisierern in der SPD aufgenommen.

Wo der Klassenwiderspruch schwindet, gewinnen Wissen, Innovation, Schnelligkeit und die Leistung des Einzelnen an Bedeutung, der alte Klassenkampf und seine Organisation, die Gewerkschaft, ist in dieser neuen Welt zum Hemmnis geworden.

Tal der Tränen

Die Arbeiter sehen das anders. Ausgerechnet im Herzen des Neoliberalismus, den USA, ist ein rapider Anstieg erfolgreicher Klassenkämpfe zu beobachten. Die Gewerkschaften erleben, nachdem sie zwei Jahrzehnte durchs Tal der Tränen gegangen sind, ein Revival: 1999 konnten die US-Gewerkschaften 265.000 neue Mitglieder gewinnen.

Im August 1997 zwangen 185.000 Arbeiter United Parcel Service (UPS) in einem zweiwöchigen Streik in die Knie. Sie erkämpften unter anderem 10.000 neue Vollzeitstellen und die Anhebung der Löhne der Teilzeitkräfte um 4 Dollar pro Stunde. Der Historiker Nelson Lichtenstein  stellte fest: „Eine 16 Jahre lange Periode, in der Streik gleichbedeutend war mit Niederlage und Demoralisierung, ist vorbei“. 1981 hatte US-Präsident Ronald Reagan einen Streik der Fluglotsen und deren Gewerkschaft der  Professional Air Traffic Controllers Organisation (PATCO) zerschlagen, indem er einfach 11.000 streikende Fluglotsen feuerte. 14 Jahre lang fand in den USA kein Streik mehr auf nationaler Ebene statt.

Die Niederlagen der Arbeiterklasse in den USA und vielen anderen westlichen Industrienationen in den 80ern wurden als das Ende ihrer politischen und sozialen Macht gewertet. Da die Arbeiterklasse nicht als selbstbewusster Akteur für ihre kollektiven Interessen sichtbar war, wurde ihre objektive Existenz verneint.

Oberfläche

Die oberflächliche Betrachtung der Gesellschaft schien dieser Entwicklung recht zu geben, die Zahl der Industriearbeiter ging zurück und der Lebensstandard der Arbeiter stieg.

Ein Arbeiter war nach der Definition von Soziologen ein Industriearbeiter. Die zahlreichen Angestellten, Scheinselbständigen und Beschäftigten des Dienstleistungsgewerbes wurden ebenso wie lohnabhängige Ingenieure, Techniker und Computerexperten anderen Milieus zugeordnet. Peter Glotz, SPD-Politiker und Professor für Medien- und Kommunikationsmanagement drückt es so aus: „Kollektive Lebensmuster verlieren ihre Verbindlichkeit, plötzlich entsteht eine Gesellschaft nicht mehr aus drei oder fünf Gesellschaften, die man früher Schichten nannte, sondern aus 15 oder 20, die man jetzt Milieus nennt“.

Klassenspaltung wurde per Schubladenmethode an der Höhe des Einkommens oder dem Beruf festgemacht und damit als erledigt angesehen.

Klassenanalyse

Die Ereignisse der letzten Jahre strafen den soziologischen Mainstream Lügen. Sie bestätigen die marxistische Methode, die Klasse nicht anhand äußerlicher Kriterien beschreibt, sondern als ein Verhältnis, das aus dem Produktionsprozess entsteht.

Der Marxist Geoffrey de Ste. Croix schreibt: „Klasse (...) ist der kollektive Ausdruck der Tatsache der Ausbeutung, die Art und Weise, in der Ausbeutung in einer Gesellschaftsstruktur verkörpert ist. Unter Ausbeutung verstehe ich die Aneignung eines Teil des Produktes der Arbeit anderer (...)“.

Eine Klasse (...) ist eine Gruppe von Personen in einer Gemeinschaft, die durch ihre Position im gesamten System der gesellschaftlichen Produktion bestimmt ist; diese ist vor allem definiert durch ihr Verhältnis (primär in Bezug auf Besitz oder Kontrolle) zu den Produktionsbedingungen (d.h. den Produktionsmitteln und der Arbeitskraft) sowie zu anderen Klassen“.

Die äußere Erscheinungsform der Arbeiterklasse ist, wie die Produktion einer Gesellschaft, einem steten Wandel unterworfen. Auch ist sich die Arbeiterklasse dieses Verhältnisses nicht immer bewusst oder ist subjektiv nicht immer in der Lage, die Konsequenzen daraus zu ziehen. Der Klassenkampf ist im Kapitalismus aber immer existent, auch wenn er, wie es Marx ausdrückte, mal offen und mal versteckt stattfindet. Das gilt auch für die 80er und frühen 90er Jahre.

Durchbruch

Der Geschichte der Klassenauseinandersetzungen bei UPS ist ein Paradebeispiel dafür, wie Klassenkampf von unten aufbrechen kann. Das Riesenunternehmen, das 1996 1,1 Mrd. Dollar Profit erwirtschaftete, auf Rang 37 der größten Konzerne noch vor Coca Cola rangierte und täglich Waren im Wert von 6% des Bruttoinlandsproduktes transportierte, hatte 1982 die Löhne für Teilzeitkräfte eingefroren. 60% der Beschäftigten arbeiteten in Teilzeit, nach zweijähriger Anstellung verdienten sie 50% weniger als Vollzeitkräfte. Dabei waren die Arbeitsbedingungen mörderisch, die Verletzungsrate lag zweieinhalb mal höher als im landesweiten Durchschnitt. Ein Fahrer erzählt: „Wahrscheinlich hast du noch nie einen UPS-Fahrer gehen gesehen - sie rennen ständig hin und her. Wenn wir mal viel Geld verdienen, dann haben wir jeden Pfennig hart erarbeitet."

Dass die UPS-Arbeiter im August 1997 zur kollektiven Aktion kamen und so den Klassenkampf sichtbar machten, lag an mehreren Faktoren. Vor allem reflektierte der UPS-Streik eine tiefsitzende Unzufriedenheit in der gesamten amerikanischen Arbeiterklasse. Der Kolumnist der New York Times, Bob Herbert, nannte den Streik treffend „Arbeiterrebellion“, eine „wütende, fäusteschüttelnde Antwort des frustrierten amerikanischen Arbeiters, eine Revolte gegen den rücksichtslosen Umgang mit den Arbeitern durch so viele mächtige Konzerne“ Während 1980 die Bosse der großen Firmen 42 mal so viel verdienten wie der durchschnittliche Fabrikarbeiter, verdienten sie laut Business Week 1998 419 mal so viel.

In den letzten Jahren hat die durchschnittliche Arbeitszeit der US-Arbeiter um 10% zugenommen, während das Einkommen im selben  Zeitraum nur um 9,2% gestiegen ist. So sprach auch die Telekommunikationsarbeiterin Viola Figuera Millionen aus der Seele, als sie im Verizonstreik „ein Ende der erzwungenen Überstunden“ verlangte, damit „wir Zeit mit unseren Familien verbringen können.

Selbstbewusstsein

Dass die Einstellung der Arbeiter zur New Economy sich nicht grundlegend von denen der Old Economy unterscheidet, zeigen die Arbeitskämpfe in den USA. Es sind gerade die empfindlichen Punkte der New Economy, die betroffen sind, so der Kurierdienst UPS, das Telekommunikationsunternehmen Verizon und die Werbebranche. Gleichzeitig braucht die New Economy das produzierende Gewerbe, Maschinen und Transportmittel. Auch dort zeigten bei Boeing und General Motors die Beschäftigten, dass Profitsteigerungen auf ihrem Rücken nicht widerspruchslos zu machen sind. Die Ingenieure und Techniker von Boeing hatten den Konzern mit einem sechswöchigen Streik dazu gezwungen, bereits verkündete Pläne zu Einsparungen bei den Löhnen und Einschnitten in die Sozialleistungen auf Eis zu legen.

Erfolge wie die bei UPS und Boeing steigerten das Selbstbewusstsein von Arbeiterinnen und Arbeitern in allen Sektionen. Im Frühjahr 2000 erkämpften Putzkräfte in Chicago und LA Lohnerhöhungen von 25%, in Los Angeles streikten Bus- und Zugfahrer, sogar 260 Mitarbeiter des Museum of Modern Art streikten im Frühsommer für höhere Löhne, eine bessere Gesundheitsabsicherung und für Gewerkschaftsrechte.

Solidarität und Linksschwenk

Die Wissenschaftler, die den Abschied von der Klassengesellschaft beschreiben, gehen davon aus, dass sich alte Bindungen und Solidarität auflösen. Der Münchner Soziologe Ulrich Beck spricht in dem Zusammenhang von Individualisierung. Das ist einerseits richtig, da der verschärfte Konkurrenzkampf Rücksichtslosigkeit und Einzelkämpfertum fördert. Wo sich aber Menschen gegen die Brutalität des Kapitalismus wehren, brauchen und erleben sie neue Formen der Solidarität. „Ich habe festgestellt, dass ich den Sinn dieses Begriffes (Solidarität, d.V.) nicht kannte. Das ist vielleicht das Wertvollste, was ich in dieser Bewegung entdeckt habe“, resumiert ein Ingenieur des Boeingwerkes von Everett im Norden von Seattle.

Die Tatsache, dass sich wichtige Teile der Arbeiterklasse der eigenen Position in der Gesellschaft bewusst wurden und Selbstvertrauen schöpften, sich gegen die bestehende Verhältnisse zu wehren, hat auch zu einer politischen Linksverschiebung in der Arbeiterklasse geführt. Kritik richtet sich gegen die verantwortlichen Konzerne und Politiker und sucht sich nicht in erster Linie Sündenböcke. So forderte der Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO in einer Resolution im Februar 2000 die Anerkennung von illegalen Einwanderern.

Die erfolgreiche Blockade der WTO in Seattle und die Beliebtheit des grünen Kapitalismuskritikers und Präsidentschaftskandidaten Ralph Nader in den fortschrittlichsten Teilen der Arbeiterklasse, der sich sowohl als Fürsprecher für die Arbeiter als auch als Kritiker der Menschen- und Umweltfeindlichkeit der Konzerne profiliert hat, sind nur so zu verstehen.

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