Sozialismus von unten - Zeitschrift für sozialistische Theorie und Praxis

Nr.5, Winter 2000/2001

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Sozialismus von unten
Zeitschrift für sozialistische Theorie und Praxis
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Die neue Intifada

Die Unterdrückung durch Israel hat eine neue Intifada in Palästina hervorgerufen. Um erfolgreich zu sein, dürfen sich die Palästinenser jedoch nicht auf Arafat oder die arabischen Herrscher verlassen, argumentiert John Rose. Henry Maitles analysiert den geschichtlichen Zusammenhang von Öl, Zionismus und Imperialismus

„Dies ist eine Geschichte von Lügen, Vorurteile, Hass und Tod. Es geht um unser Unvermögen – nach mehr als einem halben Jahrhundert – die Ungerechtigkeit im Mittleren Osten zu verstehen. Es geht um eine Region dieser Welt, in der es einem ganz natürlich vorkommt, daß Menschen gemeinsam zwei israelische Undercover-Agenten tottreten, nachdem sie im Fernsehen ein paarmal hintereinander die Beerdigung des 11jährigen Sami Abu Jezar gesehen haben, der nach zwei Tagen den Verletzungen erlegen war, die ihm ein israelischer Soldat durch Schüsse durch in die Stirn zugefügt hatte (es war das 24. palästinensische Kind, das durch einen israelischen Soldaten getötet wurde)... Es geht um ein Volk, das über die Tötung von 100 Palästinensern (durch Israelis mit amerikanischen Waffen) derart aufgebracht ist, daß die Menschen versuchen, ein amerikanisches Kriegsschiff in die Luft zu jagen.“ So schrieb Robert Fisk am 13. Oktober im Independent.

Die Ereignisse im Mittleren Osten haben nicht nur den Bankrott des so genannten ‘Friedensprozesses’ vor Augen geführt, sondern sie enthüllen auch deutlich wie nie zuvor die rassistische Natur des Zionismus und das katastrophale Versagen der palästinensischen Führung. Die einzigen, die gut wegkommen, sind die Palästinenser, die schon so lange leiden müssen: Sie versuchen verzweifelt, eine Revolution zu machen, aber sie können es alleine nicht schaffen.

Daß der ‘Friedensprozeß’ eine einziger Betrug war, ist ausreichend dokumentiert worden. Aber diesmal nahm der Betrug eine wirklich bemerkenswerte Form an, wie der palästinensische Schriftsteller Edward Said feststellte ( Guardian vom 12. Oktober). Nicht genug, daß Israels notorischer Kriegsverbrecher, Ariel Sharon, der für den Tod von 2.000 palästinensischen Zivilisten in den Flüchtlingslagern Sabra und Shatilla 1982 in Beirut verantwortlich ist, die israelische Vorherrschaft demonstrieren mußte durch einen Rundgang auf dem Haram al-Sharif, der heiligsten islamischen Stätte Jerusalems, er erhielt sogar die volle Unterstützung des israelischen Regierungschefs Ehud Barak, der ihm eine 1.000 Mann starken Ehrengarde an die Seite stellte.

Die Bedeutung dieses Vorfalles ist nicht zu unterschätzen. Er demonstrierte abschließend und endgültig, daß Israel Jerusalem niemals mit den Palästinensern teilen wird. Der Vorfall zeigte auch, daß es hierbei nicht um Religion geht, sondern um Politik, ausgedrückt durch religiöse Symbolik. Es geht auch darum, daß Israel palästinensische Politik unmöglich macht. Die nationale Befreiung von Palästina ist unmöglich ohne Jerusalem als Hauptstadt.

Nach außen hin drückt sich der Konflikt auf beiden Seiten teilweise über die Religion aus, wobei diese Entwicklung mit dem Zionismus begann und nicht mit „militanten“ Islamismus, wie uns die westliche Presse glauben machen will. Der weltliche Zionismus hat die religiöse Karte immer wie eine rassistische Karte ausgespielt. Sein berühmtester politischer Vertreter, Ben Gurion, war der größte Meister und Lehrer in diesem Spiel. In der berühmten Schlacht um die Wüste Sinai gegen die ägyptische Armee während der Suez-Krise von 1959, sagte der atheistische Führer des linken Flügels Ben Gurion den israelischen Soldaten, daß der Heiligenschein von Sinai über ihren Köpfen leuchten würde, als wären sie in Gegenwart ihrer Vorfahren zur Zeit Moses. Folglich würde eine Schrift des alten Testamentes ihr Handeln legitimieren. Dieses üble Gebräu aus Religion und moderner nationalistischer Politik wird leicht zu einer Form von religiösem Rassismus.

Dies zeigt sich in der aktuellen Krise in bezug auf die ‘israelischen Araber’, die in Wirklichkeit Palästinenser sind, die seit 1948 innerhalb der Grenzen von Israel eingesperrt sind. Zum ersten Mal hat eine bedeutende Anzahl von ihnen den Mut gefunden, ihre Brüder und Schwestern in der West Bank und im Gaza-Streifen zu unterstützen. Einige Israelis veranstalteten daraufhin Pogrome (diese Formulierung stammt von dem liberaleren Teil der israelischen Presse) gegen sie, die solche Ausmaße annahmen, daß Barak sich genötigt sah, sie zur Zurückhaltung aufrufen und an das Leid einiger ihrer Vorfahren zu erinnern, die im 19. Jahrhundert in Osteuropa Opfer von Pogromen geworden sind. Sowohl palästinensische als auch israelische Menschenrechtsorganisationen haben schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen zionistischer Siedler in der West Bank an Palästinensern dokumentiert, darunter mehrfach Vorwürfe von Entführung und anschließender Folter.

Zionismus und Sozialismus

Einige der liberaleren Teile der westlichen Medien sind erschüttert über diese Entwicklung. Aber dieser Haß hat tiefe Wurzeln sowohl in der israelischen Geschichte, als auch in der Zeit vor Israel. Tony Cliff, Gründungsmitglied der Socialist Workers Party in Großbritannien, wuchs in einem zionistischen Haushalt auf, als Palästina noch britische Kolonie war. Er lernte schnell, daß Zionismus und Sozialismus nicht miteinander in Einklang zu bringen waren. Als Teenager sah er, wie zionistische Aktivisten arabische Obst - und Gemüsestände mit der Parole „Nur jüdische Produkte!“ zerstörten. Er grübelte über die zionistische Gewerkschaftsbewegung, die Arbeiterrechte ebenfalls „Nur für Juden“ forderte. Er wunderte sich über das „sozialistische“ Kibbuz-System, das Araber ausschloß, obwohl diese rein jüdischen kollektivistischen Bauernhöfe immer auf, oft geraubtem, arabischem Boden errichtet wurden.

Man muß es dem israelischen Schriftsteller David Grossman hoch anrechnen, daß er für die „israelischen Araber“ Position bezog. Er hat beschrieben, wie sie heute systematisch diskriminiert werden. „Das Abwasser in vielen Dörfern der israelischen Araber fließt die Straßen in offenen Rinnsteinen herunter. ... Der Lehrplan ist voll mit Vorurteilen und verletzend, wenn die arabische Identität und ihre nationale Geschichte thematisiert werden. ... Der palästinensische Bürger finanziert durch seine Steuern ein Einwanderungsministerium, das im letzten Jahrzehnt fast eine Million Juden aus der ehemaligen Sowjetunion und Äthiopien mit dem erklärten Ziel, die jüdische Mehrheit auszubauen, nach Israel geholt hat. Diese neuen Einwanderer haben Arbeitsplätze von israelischen Arabern übernommen und der Staat hat, um für sie Platz zu schaffen, mehr als einmal Land enteignet, das den Arabern für Generationen gehört hatte.“ (Independent on Sunday, 8. Oktober)

Eine weiteres Problem für die Palästinenser in ganz Israel, dem Westjordanland, dem Gazastreifen und in den Flüchtlingslagern im Libanon und dem Rest der arabischen Welt, war die Führung von Jassir Arafat. Edward Said hat zurecht festgestellt, daß die neue Intifada teilweise direkt gegen Arafat gerichtet ist.

Das liegt nicht nur daran, wie er versucht hat, Illusionen in den Friedensprozeß zu schüren, obwohl das schlimm genug ist. Es liegt daran, daß man sehen konnte, daß er und seine Kumpanen finanziell direkt davon profitiert haben, während unter der Masse der Palästinenser die Anzahl der Arbeitslosen und Armen in den letzten fünf Jahren rasant gestiegen sind. Said schätzt, daß 60 Prozent von Arafats öffentlichem Haushalt an die Bürokratie und den sprießenden Sicherheitsapparat fließen, während nur 2 Prozent für den Öffentlichen Dienst ausgeben werden. Hundert Millionen Dollar sind einfach verschwunden. Wie Said feststellt, nehmen Arafats internationale Förderer das „im Namen des Friedensprozesses“ hin – das ist heute sicherlich die meistgehaßte Redewendung im palästinensischen Sprachschatz. Westliche Experten mögen sich fragen, warum Arafats plötzliche den Kampf wiederentdeckt hat. Aber die Antwort ist liegt auf der Hand. Er mußte auf den Zug aufspringen. Hätte er das nicht getan, wäre er am Ende gewesen.

Unterstützung für die Palästinenser

Aber die Führungskrise der Palästinenser geht, wie immer, noch tiefer. Selbst in der Zeit, als die PLO überall die Massenunterstützung der Palästinenser hatte, war sie unfähig, die Israelis zu besiegen. Die PLO war niemals der ANC. Schwarze Arbeiter in Südafrika konnten das Apartheid-System lahmlegen. Palästinensische Arbeiter können israelische Baustellen und Restaurants schließen, und mit Demonstrationen und Aufständen können sie bürgerkriegsähnliche Zustände herbeiführen, aber letztendlich basiert der Kern des zionistischen Systems auf privilegierter, fast ausschließlich jüdischer Arbeit. Leider haben die Privilegien und die Ideologie diese Arbeiter immer von der Tradition des Internationalismus und des Sozialismus abgeschirmt. Doch Palästina hat immer die Aufmerksamkeit des Restes der arabischen Welt auf sich gezogen. Seine Befreiung ist die ungelöste Aufgabe des arabischen Widerstands gegen britische, französische und jetzt US-amerikanische imperialistische Vorherrschaft im 20. Jahrhundert. Die Wellen der Solidarität mit den Palästinensern quer durch die arabische und moslemische Welt in den letzten paar Wochen hat das klar gemacht. Darin liegt auch die Antwort auf die Krise der palästinensischen Führung. Der Rest der arabischen Welt muß eine Unterstützung organisieren, die sich von Straßendemonstrationen zu aktivem revolutionären Widerstand weiterentwickelt. Es gibt keinen Zweifel, daß es dafür massenhaften Enthusiasmus in der arabischen Welt gibt, wie die nervösen westlichen Beobachter nur zu gut wissen. Wie die Financial Times am 14. Oktober berichtete, „stehen die Führer der Region, geschwächt durch ihren eigenen Mangel an Legitimität, einem nie dagewesenen Druck der öffentlichen Meinung gegenüber, den Palästinensern zu helfen und gegen Israel aufzustehen.“

Aber auch hier gibt es eine Führungskrise von riesenhaften Ausmaßen. Die politische Kraft, die den arabischen Widerstand im 20. Jahrhundert unterstützte, ist schon vor einiger Zeit zerfallen. Der arabische Nationalismus, verkörpert durch Nasser, dem revolutionären, nationalistischen Anführer Ägyptens, der mit Geld, Waffen und Ideologie von der ehemaligen Sowjetunion unterstützt wurde, er ist nicht mehr. Und selbst Nasser mußte Kompromisse machen, gefangen sowohl in den Intrigen des Kalten Krieges zwischen Washington und Moskau als auch unter dem Druck, eine staatskapitalistische Wirtschaft aufzubauen. Gefangen war auch die große unabhängige Linke in der arabischen Welt, dominiert von den Kommunistischen Parteien, die der Moskauer Linie auf Schritt und Tritt folgten. An die Stelle des unabhängigen arabischen Nationalismus traten arabische Regierungen, die total von US-amerikanischer Unterstützung abhängig sind. Korrupt, extrem repressiv und gehaßt vom eigenen Volk, streben diese Regimes danach, den sogenannten Friedensprozeß wieder auf den Weg zu bringen. Ein halbherziger Schritt in die eine oder andere Richtung könnte die gleiche angestaute Wut zum Ausbruch bringen, die in Palästina explodiert ist. Natürlich bedeutet das, daß es ein massives politisches Vakuum in der gesamten arabischen Welt gibt. Verschiedene Versionen des militanten Islam wetteifern miteinander, es zu füllen. Es ist vollkommen verständlich, daß er einen Fokus für die Flutwelle von Gefühlen bietet, die auf den Einsatz aller nötigen Mittel drängen, um die Unterdrückung von Jahrhunderten abzuschütteln. Der militante Islam liegt richtig, wenn er den westliche Imperialismus und sein Werkzeug im Mittleren Osten, den Zionismus, als Feind benennt. Er liegt richtig, wenn er einen ausgeweiteten Kampf gegen diesen Feind fordert. Nichtsdestotrotz ist er nur ein Fokus für aggressive militante Rhetorik und gelegentliche Heldentaten, die zumeist tragisch enden und den Kampf nicht immer voran bringen. Zusätzlich demonstriert der Antisemitismus einiger seiner Teile die Rückständigkeit der Bewegung und ihre Unfähigkeit, über spontane Reaktionen hinauszugehen. Nirgends konnte er den Erwartungen gerecht werden, suchte Kompromisse mit den herrschenden Klassen und enttäuschte seine Anhänger. Der militante Islam ist unfähig, einen revolutionären Krieg zu organisieren, weil solch ein Krieg nach modernen Ideen ebenso verlangt wie nach modernen Waffen. Die Folge all dieser Fehlschläge ist, daß die massenhafte Opposition nicht in der Lage ist, die tiefe Hoffnung auf Veränderung in konzentrierte Aktion umzuwandeln. Bei Redaktionsschluß war es unmöglich, zu wissen, wohin die gegenwärtige Krise in Palästina führen wird. Auf alle Fälle könnte das politische Vakuum in der arabischen Welt bedeuten, daß die Achse USA/Zionismus/Arafat doch einige Kontrolle wiedergewinnt, wenn auch viel schwächer als zuvor, gleichzeitig ist mit vielen weiteren sporadischen Ausbrüchen des Widerstands zu rechnen. Mit anderen Worten: Die Gärung und die Erschütterung werden nicht verschwinden. Alle Oppositionsgruppen werden wahrscheinlich an Einfluß gewinnen – sicherlich die Islamisten und wahrscheinlich auch Varianten des wiedergeborenen arabischen Nationalismus. Aber auch Sozialisten sollten in Zukunft ein breiteres Publikum finden, wie bescheiden, in Zahlen gemessen, unser Anfang im heutigen Mittleren Osten auch sein mag. Sozialisten haben einen großen Vorteil – sie haben eine politische Strategie, die sowohl die arabischen Massen ins Zentrum der Kämpfe rückt, als auch den Punkt ortet, wo massenhafte arabische Macht am effektivsten sein kann. Das ist am Punkt der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion. Dort sind politische und ökonomische Macht letztendlich konzentriert. Eine revolutionäre Massenbewegung könnte gleichzeitig den Zionismus und alle arabischen Regime herausfordern.

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