Die aktuelle Gewalteskalation in Palästina
wird in den Medien oft als Resultat beiderseitiger
Unvernunft bezeichnet. Sowohl in Israel als
auch bei den Palästinensern hätten die Hardliner
die Kontrolle übernommen. Was sind Deiner
Meinung nach die Ursachen für den Ausbruch
der Gewalt? Wer trägt die Verantwortung?
Das „Friedensabkommen“ von Oslo zwischen Israelis
und Palästinensern stieß bereits auf heftigen
Widerstand. Jassir Arafat, dem „Spitzenmann“ der
Palästinensischen Befreiungsfront (PLO) wurde vorgeworfen,
er habe einerseits Zugeständnisse gemacht,
die die Selbständigkeit eines zukünftigen Palästina-Staates
behindern mußten. Andererseits seien wichtige
Fragen offen geblieben. So etwa das Problem der
Millionen von Flüchtlingen und der durch den Krieg
1948 durch die israelische Armee vertriebenen Palästinensern.
Diesem Krieg ging der Beschluß der Vereinten Nationen
voraus, Palästina in einen israelischen und einen
palästinensischen Staat zu teilen. Diese Flüchtlinge
leben bis heute zusammengepfercht in Lagern.
Würden sie in ihre Heimat zurückkehren dürfen? Würden
sie eine Wiedergutmachung für ihren enteigneten
Besitz erhalten? Oder was geschieht mit Ost-Jerusalem,
wo die Mehrheit der Bevölkerung palästinensisch
ist und das gegen die Beschlüsse der Vereinten
Nationen von der israelischen Regierung zur Hauptstadt
Israels erklärt wurde?
Aber nichtmal das Wenige, was den Palästinen-sern
im Osloer Friedensabkommen zugestanden wurde,
hat der „linke“ Führer der Arbeiterpartei, Ehud
Barak, der viele Hoffnungen geweckt hatte, verwirklicht,
als er an die Regierung kam. Der bedeutende
Vordenker der israelischen Friedensbewegung, Ury
Avnery, beschreibt das so: „Seit seinem ersten Tag an
der Macht hat Barak zwar endlos über den Frieden
geredet, aber das Gegenteil getan. Mehr als Netanyahu
(sein rechter Vorgänger, J.M.) hat Barak palästinensischen
Boden enteignet, Häuser demoliert, israelische
Siedlungen erweitert, „Umgehungsstraßen“ gebaut,
um in den besetzten Gebieten (israelische)
Siedlungsblocks zu bilden, die an Israel angeschlossen
werden. Er hat nicht einen einzigen Quadratmeter
der besetzten Gebiete zurückgegeben, nicht ein
einziges neues Abkommen unterzeichnet.
Seine drastische Weigerung, den Palästinensern
im zukünftigen Frieden die Souveränität über ihre
heiligen Stätten in Jerusalem wiederzugeben, war der
Strohhalm, der den Rücken des Kamels brach“. Das
hat den heftigen Widerstand der Palästinenser ausgelöst.
Vor allem aber weil Ehud Barak es Scharon, dem
extrem rechten General, der im Libanon-Krieg für das
Gemetzel an 600 Palästinensern verantwortlich war,
einen Besuch von heiligen Moscheen Jerusalems gestattete
und Scharon von 1.200 Polizisten begleiten
ließ. Am nächsten Tag erschoß die Polizei am selben
Ort sieben islamische Demonstranten. Im ganzen Land
– auch in Israel selbst (wo fast eine Million Palästinenser
leben, die israelische Staatsbürger sind) – brachen
daraufhin gewalttätige Unruhen aus.
Danach wurden über Hundert Menschen getötet,
darunter das palästinensische Kind, das in den Armen
seines Vaters erschossen wurde, und die zwei
israelischen Reservesoldaten, die in Ramallah gelyncht
wurden. All das wäre nicht passiert, „wenn die Palästinenser
nicht mitgespielt hätten“ meint Ury Avnery,
fügt aber sogleich hinzu, die Palästinenser seien „so
wütend, daß auch eine kleinere Provokation als die
von Scharon genügt hätte, eine Explosion zu erzeugen.“
Du hast als deutscher Jude und Sozialist in
Palästina Schutz vor den Nazis gesucht und lange
Zeit im Kibbuz gelebt. Was hat Dich 1947 dazu
bewogen, Palästina zu verlassen? Wieso hast Du
mit dem Zionismus gebrochen?
Ich gehörte 1933 sowohl dem „Sozialistischen Jugendverband“
der kleinen Sozialistischen Arbeiter-partei
an, die für ihre ständige Forderung einer Einheitsfront
gegen die Nazis kein Gehör gefunden hatte.
Ich war zugleich Mitglied des „Haschomer Hazair“
(„Der jungen Wächter“), einer zionistisch-sozialistsichen
Jugendorganisation, die in der Aus-wanderung
nach Palästina den einzigen Weg sah, um
den Folgen des von den Nazis gepredigten Antisemitismus
und Rassenhasses zu entgehen. Als ich im November
33 nach Palästina kam, schloß ich mich einem
Kibbuz an, in dem 10 Mädchen und 30 Jungen, die
aus Deutschland kamen, versuchten, das sozialistische
Ideal von Gleichheit und Selbstverwaltung zu
verwirklichen. Das war eine begeisternde Erfahrung,
obwohl wir damals in Zelten wohnten, schwer arbeiteten,
uns nicht eben üppig ernähren konnten und
von Malaria gepeinigt wurden.
Damals wurden Araber nicht in die Histadruth,
die von Juden gegründeten Gewerkschaft, die sogleich
aber auch die Krankenkasse bildete, aufgenommen.
Die „Haschomer Hazair“ setzte sich für ihre Aufnahme
ein. Als Ziel der Zionistischen Bewegung galt die
Schaffung eines Judenstaates in Palästina. Der rechte
Flügel der zionistischen Bewegung forderte gar einen
jüdischen Staat an beiden Seiten des Jordan-Flusses.
Der „Haschomer Hazair“ war für einen binationalen
Staat, in dem Juden und Araber zusammenleben sollten.
Aber warum waren Araber nicht auch im Kibbuz
Mitglieder?
Der Haschomer Hazair gehörte der zionistsichen
Bewegung an, die in Wirklichkeit bereits in der Zeit,
als Palästina von Großbritannien verwaltet wurde,
das hierfür von den Vereinten Nationen ein Mandat
hatte, für drei Grundsätze eintrat, die im Kern die
Errichtung eines eigenen jüdischen Staates vorweg-nahmen.
Das war erstens: „Eroberung des Bodens“.
Wenn reichen arabischen Grundbesitzern ein Teil ihres
Bodens abgekauft wurde, um jüdische Siedlungen
zu schaffen, verloren die arabischen Fellachen als Pächter
ihre Existenz. Ging der Boden in den Besitz des
„Jüdischen Nationalfonds“ über, so durfte er nicht
verkauft, sondern nur an Juden verpachtet werden.
Der zweite Grundsatz war „Eroberung der Arbeit“.
Das bedeutete, daß jüdische Arbeitgeber nur Juden
beschäftigen sollten.
Darin unterschied sich die zionistische Kolonisation
von der „imperialistischen“ durch fremde Kolonisatoren,
die die einheimische Bevölkerung ausbeu-teten.
Es sollte eine jüdische Arbeiterklasse geschaf-fen
werden, die zionistisch ist. Der dritte Grundsatz
lautete: “Nur Waren des Landes“ zu kaufen. Juden
sollten nur von Juden produzierte Waren kaufen, auch
wenn sie teurer waren als arabische Produkte.
Als Internationalisten begannen kleine Gruppen
auch in dem Kibbuzim sich gegen die Grundsätze des
Zionismus zu wehren. Der Kommunistischen Partei
gehörten schon sowohl Araber als auch Juden an. Es
gab aber auch damals schon kleine „trotzkistische“
Gruppen, die den Stalinismus der KP ablehnten und
Verständnis für den ersten Massenaufstand der Araber
hatten, die sich der zionistsichen Politik und der
britischen Mandatsmacht widersetzten.
Wir traten auch dafür ein, daß die demokratischen
Staaten ihre Grenzen für die von Nazis bedrohten
rassisch Verfolgten öffnen sollten. Diese aber hatten
auf einer gemeinsamen Konferenz beschlossen, die
Einwanderungsbestimmungen zu verschärfen. Wahrscheinlich
hätten Millionen, die später in den Gaskammern
und Vernichtungslagern umgebracht wurden,
gerettet werden können, wenn ihnen rechtzeitig
eine Zuflucht geboten worden wäre.
Palästina hat in der Zeit von 1933 bis Kriegsende
kaum mehr als etwa 150.000 Juden aufgenommen.
Ich wurde zusammen mit einigen Genossen kurz vor
Ausbruch des Zweiten Weltkrieges von den Briten
interniert. Ein Kolonialgesetz erlaubte es, Menschen
ohne Gerichtsverfahren, sechs oder zwölf Monate zu
internieren. Dies konnte jedoch beliebig lange wiederholt
werden. Ich blieb 27 Monate interniert, stand
nach meiner Freilassung ständig unter Polizeiaufsicht,
was mich nicht davon abhielt, am Aufbau einer sozialistischen
Organisation von Juden und Arabern mit-zuwirken.
Aber nachdem sich der Beschluß der Teilung abzeichnete,
war mir und den anderen Genossen klar,
daß dies zu erheblichen Konflikten führen müßte, in
denen wir kaum eine Rolle spielen konnten. Wir beschlossen
nach Europa zurückzukehren, wo wir die
Chancen für eine sozialistische Entwicklung sahen,
die leider auch nicht wahrgenommen wurden. Aber
das ist ein anderes Kapitel...
Was siehst Du – ganz kurz – als Perspektive
für die Palästinenser?
Es gibt Anzeichen dafür, daß die jetzige zweite
Intifada letzten Endes doch zur Geburt eines palästinensischen
Staates führen wird, der auch das Problem
der in Lagern lebenden Flüchtlinge unablässig aufgreifen
und einer Lösung zuführen wird.