Sozialismus von unten - Zeitschrift für sozialistische Theorie und Praxis

Nr.5, Winter 2000/2001

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Zeitschrift für sozialistische Theorie und Praxis   

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An der Basis brodelt es

Während in Ländern wie Frankreich, den USA oder Serbien eine kämpferische Arbeiterbewegung ihr Comeback feiert, scheint in der Bundesrepublik alles beim Alten zu bleiben. Regina Sternal beschreibt, wie es unter der scheinbar ruhigen Oberfläche zu brodeln beginnt und welche Chancen bestehen, für „französische Verhältnisse“ in Deutschland zu sorgen.

 

Was nach dem Regierungswechsel kam, haben sich viele Gewerkschafter nicht träumen lassen:

Verzicht auf die Wiedereinführung der Vermögenssteuer sowie Senkung der Spitzensteuersätze.

Auch im „Bündnis für Arbeit und Wettbewerbsfähigkeit“ hat sich die Regierung lediglich an den Produktivitätsinteressen der Unternehmer orientiert und von der Gewerkschaft moderate Lohnpolitik gefordert. So reichte z.B. die magere Lohnerhöhung beim diesjährigen Tarifabschluß der ÖTV noch nicht einmal aus, um den Inflationsausgleich abzudecken.

Auch bei der geplanten Rentenreform will die Regierung drastische Einschnitte auf der Arbeitnehmerseite durchsetzen. Das Niveau der Rente soll von derzeit 70% des Nettolohns auf 61% sinken. Durch den Bruch mit der paritätischen Finanzierung müssten zukünftig die Arbeitnehmer inklusive der privaten Vorsorge bis zu 15% Beitrag bezahlen, während die Arbeitgeber bei 11% stehen blieben. Und für die Arbeitgeber ist jetzt schon klar: „Nach der Reform ist vor der Reform“.

Arbeitgeberpräsident Hundt hat bereits im Vorfeld angedroht, nach der Rentenversicherung als nächstes die Krankenversicherung angreifen zu wollen. Die enorme Instabilität und Verlangsamung der internationalen Wirtschaftskonjunktur wird den Druck der Unternehmer auf die Regierung zukünftig noch erhöhen.

Ende der Bescheidenheit

Ein Betriebsrat der Firma Eku-Stahl  macht seiner Empörung Luft: „Ich habe große Hoffnungen in den Politikwechsel gehabt. Und gerade wir Gewerkschafter haben 1998 mächtig Gas gegeben, um die CDU mit ihrem dicken Kohl aus dem Sattel zu kippen. Und dann haben wir unsere Hände quasi als Steigbügelhalter für die SPD-Regierung hingehalten. Mittlerweile klebt uns jedoch soviel Dreck und Scheiße an den Händen, daß sich viele Arbeiter nicht mehr getrauen uns die Hand zu geben. Und da müssen wir raus!“ . Immer mehr Gewerkschaftsaktivisten sind ebenso verärgert über den ausgebliebenen Politikwechsel. Sie fühlen sich von Schröder verraten, weil er  sich - genau wie sein konservativer Vorgänger Helmut Kohl -  mit seiner „ wettbewerbsorientierten Modernisierungspolitik" immer wieder schützend vor die wirtschaftlichen Interessen der Unternehmer stellt. An der Gewerkschaftsbasis werden mehr und mehr Stimmen laut, die Schröders Frieden mit dem Kapital scharf kritisieren.

In dem Aufruf „Auf die Straße gegen Renten-Demontage" verurteilen z.B. die Teilnehmer der gemeinsamen Mitgliederversammlung der HBV und IG-Metall im Bezirk Stuttgart, dass die Arbeitgeberverbände und die Bundesregierung an einem Strang ziehen, um einen Systembruch beim Sozialversicherungssystem einzuleiten. „Rot-Grün erfüllt damit die Forderungen, die die Arbeitgeberverbände 1994 an die damalige CDU/FDP-Regierung gestellt hatten - die diese aber wegen des Widerstandes von Gewerkschaften und Opposition nicht durchsetzen konnte." Mittlerweile unterstützen auch bundesweit etliche Betriebsräte sowie Vertrauensleute den Protestaufruf. Sie alle sind bereit, „die Wende im "politischen Klima 2000" durch betriebliche und überbetriebliche Aktionen, durch Demonstrationen" zu erzwingen.  

An der Gewerkschaftsbasis fängt das Blatt an, sich zu wenden: Nach mehr als zwei Jahren Stillhalten und Hinhaltepolitik sind immer mehr Kollegen und Kolleginnen bereit, sich zu wehren.

Und dass es möglich ist, zeigt Gerhard Kupfer, Betriebsrat bei Daimler-Chrysler in Bremen: „Am 12. Oktober haben wir eine betriebliche Aktion gegen die Rentenreform gemacht. 400 Kollegen sind in der Mittagspause vors Werktor gegangen."

Angesichts der Angriffe stellt sich jedoch die Frage, warum die Gewerkschaftsführung zögert, solche Aktionen flächendeckend zu organisieren? Bei der diesjährigen Tarifrunde hatten sich die ÖTV-Mitglieder mit 76%, die GEW mit 91% und die GDP mit 91% für Streik ausgesprochen. Dennoch hat die Gewerkschaftsführung diese Mobilisierungsfähigkeit nicht genutzt. Warum verhält sich die Gewerkschaftsführung gegenüber der Sozialdemokratie so handzahm und ruft nicht endlich zum Kampf für das „Ende der Bescheidenheit" auf?

Gewerkschaft & Sozialdemokratie

Das Verhältnis von der Gewerkschaftsführung und der Führung der Sozialdemokratie lässt sich am besten als Dualunion beschreiben. Beide haben die Aufgabe, innerhalb der Logik des kapitalistischen Systems - im Normalfall durch Verhandlungen und Konsenspolitik - die Interessen der Arbeitnehmer zu vertreten. In strikter Arbeitsteilung ist die Gewerkschaft die ökonomische Interessensvertretung der Arbeitnehmer, während traditionell die Sozialdemokratie das politische Standbein im Parlament verkörpert. Dadurch ist die Gewerkschaftsführung jedoch politisch an die SPD gebunden, die heute ganz konkret Schröders Politik der Neuen Mitte betreibt.

Die Konsenspolitik der Gewerkschaftsführung mit einer Sozialdemokratie, die die Interessen der Wirtschaft schützt, verursacht enorme Spannungen und kann nicht ewig halten.

Sowohl die Praxis als auch die Ideologie der Politik der Neuen Mitte steht im Widerspruch zu den Interessen der Gewerkschaft. Gleichzeitig verursacht der Druck der Gewerkschaftsbasis, einen politischen Kurswechsel aktiv erkämpfen zu wollen, Reibungen zwischen Basis und Führung. Eingekeilt zwischen Gewerkschaftsbasis und Sozialdemokratie entfacht sich auch innerhalb der linken und rechten Gewerkschaftsführung ein ideologischer Richtungsstreit.

Das schleichende Gift der Modernisierer

Ziel der rechten Gewerkschaftsbürokratie ist es, den neolilberalen Modernisierungsansatz auch innerhalb der Gewerkschaft ideologisch zu etablieren. Dem gewerkschaftlichen Widerstand gegen die rot-grüne Politik für die Unternehmer wollen sie die Hände binden. Unter dem Stichwort „Zukunftsdebatte" fordert der Modernisierer und Chefideologie des IG-Metallvorstands, Klaus Lang, ein Politikkonzept, das „der Selbständigkeit und Eigenverantwortung von Individuen stärker Rechnung tragen" müsse. Wohin die Reise gehen soll, macht Harald Schartau, ehemaliger IGM-Bezirksleiters und jetziger Arbeits- und Sozialminister von NRW deutlich: „Der Tarifvertrag werde künftig nur noch Grundentgelt festlegen und einen Rahmen für den erfolgsabhängigen Verdienstbestandteil vorgeben."

Die Ideologie der Neuen Mitte ist schleichendes Gift für eine kämpferische Klassenposition der Gewerkschaft. Und die gelähmte Wut der Gewerkschaftsbasis nutzt die rechte Gewerkschaftsführung wiederum als Rechtfertigung für ihre Politik des gesellschaftlichen Konsens. Ihre Konzessionspolitik führt unausweichlich zur Schwächung der Gewerkschaft: Anpassung an die neoliberale Ideologie der rechten Sozialdemokratie, Verzicht auf die Durchsetzung eigenständiger Interessen der Arbeitnehmer sowie Mitgliederverluste.

Die kraftlose Wut der Traditionalisten

Zu Recht kritisieren die Traditionalisten lautstark Schröders Schmusekurs mit der Profitgier der Unternehmer. Genau richtig ist die Konsequenz der IG-Medien, dass sie als erste DGB-Gewerkschaft mit überwältigender Mehrheit ihrer Mitglieder die Mitarbeit im „Bündnis für Arbeit und Wettbewerbsfähigkeit" aufgekündigt hat. Die Erfahrungen der letzten Tarifrunde ließen für sie keine Zweifel mehr zu: "Das Bündnis ist Herzstück der Architektur von "New Labour" in Deutschland und der Sozialpolitik der Neuen Mitte"."

Auch wenn der Austritt erst einmal nur eine symbolische Handlung darstellt, so ist er jedoch Voraussetzung, um die lähmende Konsenspolitik durch eine selbständige kämpferische Handlungsperspektive ersetzen zu können. Die gewerkschaftlichen Interessen können nämlich nicht durch eine Stillhalte-Politik, sondern nur im Vorwärtsgehen, in der Bereitschaft zu einer kämpferischen Interessenvertretung, verteidigt werden. Die Stärke der Gewerkschaft liegt nicht in der Verhandlungskompetenz der Gewerkschaftsführung, sondern in der Möglichkeit der kollektiven Gegenwehr, mit der im Streik sowohl die Unternehmer als auch die rot-grüne Regierung unter Druck gesetzt werden kann.

Aber darin zeigt sich gerade die politische Kraftlosigkeit der linken Gewerkschaftsführung: Selbst linke Gewerkschaftsbürokraten wie der IG-Medienvorsitzende Detlef Hensche, schrecken vor der konsequenten Mobiliserung der Gewerkschaftsmitglieder zurück. Er hat Angst, die Regierung zu destabilisieren und den Konservativen zu einem Comeback zu verhelfen. „Wenn diese Schweinerein von einer konservativen Regierung gemacht würden, dann wäre der Teufel los!", beteuert Detlef Hensche. Aber jetzt sehe er keine Alternative zu dieser Regierung und folglich auch keinen Sinn darin, ihr mehr Knüppel zwischen die Beine zu werfen als unbedingt notwendig. Aus diesem Grund war er auch einer der wenigen, die gegen den Ausstieg aus dem Bündnis für Arbeit und Wettbewerbsfähigkeit" gestimmt haben.

Das politische Dilemma der linken Gewerkschaftsführung bringt Hans-Jürgen Urban von der IG-Metall Gewerkschaftsführung sehr treffend auf dem Punkt: „So hat die „neue Sozialdemokratie" auf ihrem "Dritten Weg" bekanntlich Abschied von der Arbeiterbewegung genommen. (...) Für ihn (Schröder, Anmerkung der Verfasserin) sind die Gewerkschaften eine Lobby wie viele andere. Damit ist uns aber der politische Arm abhanden gekommen (...)."

Wie kann Gewerkschaft zukünftig politisch eigenständig und somit wieder handlungsfähig werden?

Lieber Französische Verhältnisse als amerikanische Zustände

Im Gegensatz zu der Befürchtung der linken Gewerkschaftsführung zeigen jedoch die Erfahrungen der französischen Arbeiterbewegung seit dem heissen Herbst 1995, dass die Kampfbereitschaft der französischen Kollegen zu einer linken Dynamik in der Gesellschaftsentwicklung geführt hat: Der Massenstreik der französischen Arbeiter stürzte die konservative Regierung von Juppe. Die weiteren Streiks und Proteste haben geholfen, Zugeständnisse sowohl von den Arbeitgebern als auch von der darauffolgenden sozialdemokratischen Regierung zu erzwingen. Dadurch hat Frankreichs Rechte ein empfindliche Niederlage erlitten, von der sie sich bis heute nicht erholt hat. Auch die Nazis wurden immens geschwächt.

Kämpfen macht stark

In Deutschland zeigt der erfolgreiche Kampf um die Wiedereinführung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall 1996 unter der Kohl-Regierung glasklar, dass die Gewerkschaft durch die mobilisierte Gegenwehr gestärkt und die Unternehmer geschwächt worden sind. Erst in dem Moment als die Gewerkschaft kämpfte, konnte sie offensiv um politische Inhalte streiten und erfolgreich die eigenständigen Interessen der Arbeitnehmer durchsetzen. Weiterhin hatte der "Wutaufstand" bei Mercedes Signalwirkung für andere Belegschaften.

Der Spiegel vom 7.10.1996 beschreibt die Dynamik folgendermaßen: „Kaum hatte die Bundesregierung den Tarifpartnern empfohlen, die Lohnfortzahlung zu kürzen, marschierte Daimler-Chef Jürgen Schrempp mutig voran (...) Die Hardliner im Arbeitgeberlager waren begeistert, und die konservative Presse war es auch (...) Am vergangenen Freitag hatte es sich ausgejubelt. Die Streiks bescherten dem Stuttgarter Konzern einen Umsatzverlust von 220 Millionen Mark (...) Für das Unternehmerlager ist das eine böse Schlappe. Seit Monaten fühlen sie sich in der Offensive (...) Der Gewerkschaftsprotest und fehlende Rückendeckung aus Bonn zwangen die Hardliner zum Rückzug (...) Die Gewerkschaft konnte ihre Mobiliserungserfolge gar nicht richtig fassen (...) Arnold Weber, Konzernbetriebsratchef der Hoechst AG, hält seine Kollegen bei der Chemiefirma für „eher konservative Leute". Doch beim Protest gegen den „Kahlschlag der Arbeitgeber" (Gewerkschaftsparole) machten Tausende mit: „Da waren Leute", so Weber, „die haben tatsächlich nach Generalstreik gerufen."

Lehren für uns heute

Allein symbolische Drohgebärden oder die Hoffnung,  „dass die Regierung den Ernst der Lage erkennt", wie sie IG-Metall Vize Peters hegt, werden weder bei der Regierung noch bei den Unternehmern ein Umdenken erzwingen. Angesichts der Aufholjagd zur US-Wirtschaft bleibt der internationale Druck auf die Unternehmer bestehen. Sie wollen, dass 10 Jahre Sozialabbau im Zeitraffer durchgepeitscht werden - und Rot-Grün soll es für sie machen.

In diesem Sinne wollen die Regierungen der EU-Staaten am 7./8. Dezember in Nizza eine Grundrechtscharta für alle EU-Bürger beschließen, in der u.a. kein garantiertes Mindesteinkommen, kein Recht auf Arbeit und kein Recht auf freien Zugang zu Gesundheitsversorgung sowie Bildung mehr enthalten sein soll. Gleichzeitig regt sich dagegen Widerstand: Der Europäische Gewerkschaftsbund und die französischen Einzelgewerkschaften wollen 60.000 Gewerkschafter mobilisieren.

Weltweiter antikapitalistischer Widerstand

Die Demonstrationen in Nizza sind Teil des Aufschwungs einer breiten weltweiten antikapitalistischen Bewegung, die sich gegen Marktwahnsinn und Profitlogik wehrt: Hunderttausende haben in den USA, Lateinamerika, Japan oder Prag gegen die neoliberale Politik von IWF und Weltbank gestreikt und protestiert. Es gab Generalstreiks in Nigeria und Equador gegen Privatisierungen. In Serbien wurde der Diktator Milosevic durch eine Revolution gestürzt, in der die Proteste und Streiks der Arbeiterklasse gegen die soziale Misere und die politische Unterdrückung eine zentrale Rolle spielten.

Die deutschen Gewerkschaften sind zahlenmäßig die stärksten in Europa. Ihre momentane Schwäche besteht weder in der fehlenden Streikbereitschaft der Kollegen noch in leeren Streikkassen. Schwach ist die Gewerkschaft vielmehr durch den bremsenden Einfluß ihrer Bürokratie.

Aus diesem Grund brauchen wir in den Betrieben ein Netzwerk linker Gewerkschafter, das eine politische Alternative zu Schröders Politik der Neuen Mitte anbieten kann. Die Kolleginnen und Kollegen benötigen eine politische Perspektive jenseits vom Marktwahnsinn, sowie konkrete Argumente, mit denen sie sich selbstbewusst aus dem ideologisch zurückhaltenden Einfluss der Gewerkschaftsbürokratie befreien können.

Die Linke hat heute die fantastische Möglichkeit, die ermutigende Inspirationen der antikapitalistischen Proteste in die Gewerkschaft zu tragen. Die Perspektive des Widerstandes gilt es zu verbinden mit der Unzufriedenheit der Gewerkschaftsbasis. Es liegt an uns, die Chance zu nutzen, gegenüber der passiven Gewerkschaftsführung ein Netzwerk aus aktiven Gewerkschaftern und Gewerkschafterinnen vor Ort aufzubauen. Wir können den Widerstand gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben initiieren. Jeder Linke kann heute mithelfen, diese Tradition der revolutionären Arbeiterbewegung in der Gewerkschaft neu zu beleben und zu verankern.

 

 

 

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