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Die neoliberale Weltordnung erfährt eine wachsende Instabilität. Ahmed Shah argumentiert, dass die Möglichkeiten für den Aufbau einer neuen Linken günstig sind.
"In Seattle brach über den Kapitalismus des 21. Jahrhunderts das erste große Gewitter herein." So schrieb der Spiegel unmittelbar nach den Protesten in Seattle vor einem Jahr. Seitdem ist eine neue globale Bewegung gegen den Kapitalismus entstanden."Finanzminister, Chefökonomen, Notenbanker - wo immer sie sich treffen, sind ihre heftigsten Gegner schon da. So war es bei der spektakulären WTO-Konferenz in Seattle, beim Weltwirtschaftsforum in Davos, bei der Unctad-Tagung in Bangkok, der Frühjahrstagung von IWF und Weltbank in Washington oder zuletzt beim Weltwirtschaftsforum in Melbourne. Wie Kletten heften sich die Demonstranten an die Herren des Kapitals. Auch in Prag. Der Protest gegen die ungleiche Verteilung der Reichtümer, gegen Ungerechtigkeit und Chancenlosigkeit hat sich globalisiert wie die Wirtschaft." (Financial Times Deutschland vom 29.09.00)
Diese neue antikapitalistische Bewegung hat den erstarrten Strukturen der Linken nach Jahrzehnten des Niedergangs neue Impulse gegeben. Eine Neuformierung findet statt. Nader
in den USA, Attac in Frankreich oder Otpor in Jugoslawien: Sie alle sind geprägt vom Geist der Seattle-Generation. Auch in anderen Ländern wird die traditionelle Linke unter Druck geraten, sich entweder zu ändern oder auszusterben.
Auch in Deutschland scheint der Botschaft endlich anzukommen. IG
Metall Chef Klaus Zwickel meinte, daß in Seattle und Prag "ein wichtiges Zeichen" auch für die Gewerkschaften gesetzt worden sei. Er unterstützt die Beteiligung der deutschen Gewerkschaften an den Protesten gegen den
EU-Gipfel in Nizza: "Soziale Schieflagen beanstanden Interessenvertreter der Arbeitnehmer nicht nur in der Dritten Welt."
Die anhaltenden Proteste finden vor dem Hintergrund einer verschärften Instabilität des Weltkapitalismus statt. Hoher Ölpreis, schwächelnder Euro, steigende Inflation, Verlangsamung des amerikanischen Booms und der kürzliche Absturz am Neuen Markt – die
Jubelrufe vom März, auf dem Höhepunkt des Börsenbooms, sind besorgten Stimmen und teilweise blanker Panik gewichen. "In Prag, wo sich die Mächtigen der sieben führenden Industrienationen (G7) am Wochenende versammelten, war die
Angst zu spüren." (SZ) Der IWF hat seinen militärischen Zwilling, die NATO. Beide amerikanisch dominierten Institutionen arbeiten Hand in Hand.
"Die verborgene Hand des Marktes wird niemals ohne die verborgene Faust arbeiten. McDonalds kann nicht aufblühen ohne McDowell-Douglas (amerikanische Rüstungsfirma, Red.). Die verborgene Faust, die die Welt offen hält für
die Produkte aus dem Silicon Valley, wird US Army, Air Force, Navy und Marine Corps genannt.." (Thomas Friedman, ein dem US State Department nahe stehender Journalist) Die Aufholjagd mit den USA hat uns in Deutschland eine massive Demontage des
Sozialstaates beschert. Jedes siebte Kind lebt in Armut, jetzt sind die Alten dran. Rentenreform. Bildung, Gesundheit und Verkehrssystem sollen auf der Schlachtbank des Marktes geopfert werden. Die Reichen aber können sich über
weitere Steuergeschenke freuen. Deshalb ist eine deutliche Enttäuschung über die Halbzeit-Bilanz der rotgrünen Regierung zu spüren. DGB-Chef Dieter Schulte sagte: "Ich fürchte dass Rot-Grün die nächste Bundestagswahl verliert.
... Diese Regierung steht der Großindustrie zu nahe .. Unter Rot-Grün sind die Armen ärmer und die Reichen reicher geworden."
Die Erfahrung von Jospin in Frankreich zeigt, dass auch Zugeständnisse nach Unten keine wirkliche
Erleichterung für die Regierung garantieren. Jospins Einknicken vor den Sprit-Protesten der Fischer hat die Arbeiter ermutigt, selbst für mehr zu kämpfen. „Schüttelt das Sparschwein“
heißt es in der Arbeiterbewegung. Die britische Sunday Telegraph schrieb: "Jospin hat seine Portemonnaies geleert, aber es ist für die Franzosen nicht genug. Jetzt will jede Gewerkschaft Zugeständnisse, sogar die der
Zirkusclowns." Über die Auswirkungen in ganz Europa schrieb der
‘Economist’: "Inspiriert durch den französischen Kniefall haben Protestierende über den
ganzen Kontinent angefangen, die Franzosen nachzumachen - es ist also möglich,
durch direkte Aktion von Bürgern die Politiker zu schlagen." Die Unzufriedenheit auf der Straße hat auch in Jospins Sozialistischer Partei (SP) zu einem Aufwind für die Linke geführt.
"Lafontaine läßt Jospin grüßen" schrieb die SZ über einen Versuch der SP-Linken, sich neu zu organisieren. Die Instabilität der Weltwirtschaft, der Druck der Aufholjagd und die Forderungen der unersättlichen
Arbeitgeber werden auch Schröder in Verlegenheit bringen. In dieser Situation können Politiker wie Lafontaine und Gysi Segmente der Sozialdemokratie vertreten, die eine Alternative zu Schröder suchen. Viele wünschen sich, dass die
Spekulation über eine neue Linkspartei von Lafontaine und Gysi sich bewahrheitet. Die Kursdebatte in der PDS ist noch offen. Bundesweite Partei der sozialen Gerechtigkeit oder Ost-CSU als SPD-Mehrheitsbeschaffer– vom Ausgang dieser
Debatte hängt ab, ob die PDS die Unzufriedenheit bündeln kann. Der Konflikt in der PDS über die Position zur Nation, losgetreten durch den Leitkultur-Vorstoß von Merz, wird die Kursdebatte noch anheizen.
Alternativen werden entstehen
Die Entstehung und der weitere Verlauf einer globalen antikapitalistischen Bewegung kann den Ausgang dieser Debatte beeinflussen. Diese Bewegung kann Intellektuellen, die Rotgrün
nahestehen, einen neuen Orientierungspunkt geben. Günther Grass, der Lafontaine für seine offene Kritik an der Regierung in seinem Buch "Das Herz schlägt Links" heftig kritisierte, ist ein Beispiel dafür. In seiner Festrede vor der
Europäischen Investitionsbank, verurteilte er "einen Kapitalismus, der sich offenbar aus der Requisitenkammer des Vatikans das Dogma der Unfehlbarkeit entliehen habe." Er forderte: "Dem sich selbst und das
gesellschaftliche Solidarverhalten zerstörenden Kapitalismus gilt es, in den Arm zu fallen, ihm Manieren beizubringen und - ja doch! - soziales Verhalten."
Das ist keine Revolution, aber immerhin die Zurückmeldung einer keynesianischen Regulierungslinken, die schon mundtot und ausgestorben zu sein schien.
Gewerkschaften in der Zerreißprobe
"Die Faust geballt zur Versöhnung bereit.", so titelte die FR die Einstellung der IG Metall-Führung zum Kampf gegen die Rentenreform:
"Würden die Auseinandersetzungen Rot gegen Rot auf dem Fußballfeld ausgetragen, müsste eine Mannschaft die Trikots wechseln, aber in Schwarz oder Gelb wollen die Metaller auf keinen Fall auflaufen: ‘Wir tun Stoiber, Merkel und Merz nicht den Gefallen, Arm in Arm gegen Schröder und Riester zu marschieren", sagt auch Hartmut Meine, Berzirksleiter der IG Metall Hannover. Also recken die Gewerkschafter eine Hand zur Faust geballt drohend in Richtung SPD-Führung, um zugleich schon die andere zur Versöhnung zu reichen".
Die Gewerkschaftsführung benutzt die Angst vor einem Comeback der CDU, um jeglichen Kampf zu verhindern. Auch IG Metall-Vize und linker Hoffnungsträger Jürgen Peters benutzt die gleichen Argumente. Mit heftigen
Worten kritisiert er die Rentenpläne seines Vorgängers und jetzigen Arbeitsministers Walter Riester, der "die Aufgabe des solidarischen Sozialsystems" einleite, aber er organisiert keine Gegenwehr. "Peters will zwar
Großdemonstrationen wie zu schwarz-gelben Zeiten nicht mehr ausschließen, hofft aber weiter, daß vor einer Eskalation ‘die Bundesregierung den Ernst der Lage erkennt’."
Hartmut Meine drückt es deutlich aus: Die Gewerkschaften unternehmen "keine Aktion gegen die Bundesregierung", denn: "Wir haben kein Interesse, daß die Schwarzen wieder drankommen." Der Frieden der Gewerkschaftsbürokratie mit der SPD-Regierung, dieser einseitige Waffenstillstand, von dem nur die Bosse profitieren, kann nicht ewig halten und steht unter enormer Spannung. Ihr Eiertanz
zwischen Drohungen und Versöhnung wird unter Druck kommen. Peters sagt selber: "Verzichten können die Arbeiternehmerinnen und Arbeitnehmer auch ohne uns. Dazu brauchen sie keine Gewerkschaft." Die FR schrieb
"Noch fragen wenige, wer denn andererseits eine Gewerkschaft braucht, die sich zwar von Verbündeten verraten fühlt, sich aber standhaft weigert, neue strategische Allianzen einzugehen. Noch immer setzt die Führung der IG Metall auf
die Genossen." Scharnier Dieses Magazin erscheint pünktlich zum Jahrestag von Seattle am 30. November und zur Mobilisierung nach Nizza, wo antikapitalistische
Aktivisten und Gewerkschafter aus ganz Europa erwartet werden. Die S26 Proteste in Prag haben die Flamme des antikapitalistischen Widerstandes nach Europa getragen. Angesichts des Horrors der neoliberalen Weltordnung war der S26
ein Tag der Hoffnung, für die Herrschenden schafft er Probleme, aber für uns eine neue Perspektive.
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