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Sozialismus von unten - Nr.4, 5/2000
Ahmed Shah, Stefan Bornost


Halb-Zeit Rot-Grün

"Der Wahlsonntag zeigt freilich: es braut sich etwas zusammen. Es bilden sich mächtige Quellwolken über Rot-Grün." (Heribert Prantl, Süddeutsche Zeitung).

Das war die Botschaft der Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen. Die Wahl war eine doppelte Abrechnung: Zum einen mit dem "Kinder statt Inder"-Rassismus von Jürgen Rüttgers. Die CDU sackte um 0,7% auf 37% ab – der Durchbruch ist kräftig mißlungen.

Doch auch Rot-Grün blieb nicht ungeschoren: Das schlechte Abschneiden der SPD bei den NRW Wahlen und das Desaster für die Grünen waren ein Abfuhr für diese Regierung der neue Mitte. Die SPD holte sich bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen mit 42,8% das schlechteste Ergebnis seit 1962 ab. 640.000 ihrer Stammwähler blieben zu Hause.

. Kein Wunder angesichts der Aussagen ihres Spitzenkandidaten Wolfgang Clement, der seine Liebe für "begrenzte Ungleichheit" als "Katalysator" der Wirtschaft und der Gesellschaft entdeckt hat. Dementsprechend reagierten die ungleich behandelten Menschen. Die SPD verlor am meisten bei Arbeitslosen (minus 15%) und bei Arbeitern in Niedriglohngruppen (minus 10%).

Die NRW-Wahl machte eines deutlich: Mehr und mehr Menschen fühlen sich von dieser Regierung im Stich gelassen. Die Wahlbeteiligung betrug nur 56,7 % und sank damit auf einen bei Landtagswahlen noch nie dagewesenen Tiefstand. 1980 betrug die Wahlbeteiligung in NRW noch 80%, davor sogar 86%.

Die Beteiligung in einigen Wahlkreisen des Reviers lag teilweise bei weit unter 50%, so im gesamten Duisburger und Essener Norden, wo die Wahlbeteiligung 45,4 und 48,5% lag. Im nördlichen Duisburger Wahlbezirk Marxlohe, einen modernen Armutsghetto, ging gar nur jeder Dritte Wähler zur Urne.

Die Grünen, die Anfang der 90’er ein Dauerabo auf die Stimmen der Jungwähler hatte, lief die Jugend in Scharen davon – sie verloren bei den Jungwählern 10%, ein Teil davon an die FDP. Die FDP konnte von der Spendenaffäre und Rüttgers-Kampagne frustrierte CDU-Wähler aufsammeln und gleichzeitig mit dem Thema Bildung und rot-grün-Wählern punkten.

Die FDP profitierte, weil die SPD ihrem Wahlkampfslogan "Bildung, Bildung, Bildung" nichts als Bildungsabbau folgen ließ. Dazu war die FDP die einzige Partei, die die SPD offensiv auf einen sozialen Ticket angriff (Plakat "Wir brauchen dringend mehr Geld für Bildung") – die Grünen waren durch ihre Koalitionsfesseln gehemmt, außerdem haben sie Clements Politik vier Jahre gestützt.

Entwicklung

Die NRW-Wahl ist die eine weitere Station der Achterbahnfahrt, die die rot-grüne Regierung seit dem Kosovo-Krieg vollführt hat.

Der Kosovo-Krieg vom März bis Juni letztes Jahres brachte die rot-grüne Koalition an den Rand des Zusammenbruchs. Obwohl die Anti-Kriegs-Bewegung durch die demobilisierende Wirkung Kriegsteilnahme "ihrer" Parteien (außer der PDS) eine geschlossene, harte aber kleine Minderheit blieb, drohten die Widersprüche zwischen jahrelang propagierten Pazifismus und Kriegsteilnahme einen harten Keil zwischen Führung und Basis der SPD und insbesondere der Grünen zu treiben.

Gegen Kriegsende mehrten sich die kritischen Stimmen, Heribert Prantl schrieb in der Süddeutschen Zeitung "Der Druck im Kessel wächst, es ist nur eine Frage der Zeit, bis er platzt". Das Kriegsende kam keinen Tag zu früh.

Auf der Basis der militärischen Niederlage der serbischen Regierung und bestärkt durch den Propagandaerfolg des "Kriegs für Menschenrechte" versuchte die sich stark fühlende SPD-Rechte nach der außenpolitischen die innenpolitischen Offensive. Oskar Lafontaine war drei Wochen vor dem Krieg durch eine Hetzkampagne der Bosse aus dem Amt gedrückt worden – jetzt sollten auch die ideologischen Reste des "Lafontainismus", des Linksreformismus aus der SPD getilgt werden.

Praktischer Ausdruck dieser Rechtswende war Eichels Sparpaket, das ideologische Fundament dafür war das sogenannte Schröder-Blair-Papier. Die Hauptposten neoliberaler Politik – das Bekenntnis zum Wettbewerb, zum Markt, zum wirtschaftlichen Erfolg – waren die Kernthesen des Papiers. Es war der neoliberale Wolf im sozialdemokratischen Schafspelz.

Auch bei den Grünen gingen die Rechten auf die Offensive. Cem Özdemir, Oswald Metzger und andere machten die "Alt-68’er" als Problem der Partei aus und forderten sie auf, sich anzupassen oder aus den Grünen auszutreten. An der Basis machten Tausende von der letzteren Möglichkeit Gebrauch.

Aufschrei

Die Offensive der Rechten führte die SPD nicht in die gelobte "Neue Mitte", sondern direkt in eine tiefe Krise. "Dafür haben wir nicht gewählt", dachten Millionen von SPD- und Grünen-Wählern – und blieben bei den folgenden Landtagswahlen zu Hause. Tiefstpunkte waren 10% für die SPD bei der Sachsen-Wahl und der absolute Hammer die desaströs verlorene Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen – der Herzkammer der Sozialdemokratie.

Der Aufschrei über das Schröder-Blair-Papier war allgemein. SPD-Linke, Gewerkschaften, PDS, linke Grüne – sie alle sahen sich zu Recht massiv angriffen und wehrten sich mit lautstarken Wortmeldungen. Statt einer Debatte über die von Schröder gewollte "Modernisierung Deutschlands" entspann sich eine Debatte über "soziale Gerechtigkeit". Oskar Lafontaine goß mit seiner Abrechnung in Buchform weiter Öl ins Feuer.

Die Gewerkschaften kündigten einen heißen Herbst an, die Fieberkurve der ideologischen Debatte stieg an in Deutschland.

Ausgerechnet der saarländische Ministerpräsident Klimmt (jetzt als Verkehrsminister nur auffällig durch die gebetsmühlenartige Wiederholung von "Keinen Pfennig für die Bahn") knüpfte an die Stimmung an und wurde kurzzeitig zur Galeonsfigur des Lagers, das die Regierung von links kritisierte.

Im Oktober 1999 standen die SPD-Modernisierer vor einem Scherbenhaufen. Die Umfragewerte lagen bei miesen 33%, die Streit am Panzerlieferungen an die Türkei spaltete die Koalition, und selbst der Propagandasieg im Kosovo-Krieg zerrann der Regierung unter den Fingern, als langsam offensichtlich wurde, daß auf dem Balkan kein Problem gelöst, aber viele verschärft wurden.

Der Schuß der Rechten in SPD und Grünen war mit voller Wucht nach hinten losgegangen. Schröder distanzierte sich kleinlaut vom Schröder-Blair-Papier, es sei nur ein "Diskussionsvorschlag" gewesen.

Holzmann

Dann kam Holzmann. Der Beinahe-Bankrott des zweitgrößten deutschen Baukonzerns, beleuchtete schlaglichtartig alles, was verrottet ist in Deutschland. Großbanken spielten ein zynisches Spiel mit der Existenz von 60.000 Arbeitern, die ihnen keinen "Peanut" wert waren.

Die Wut explodierte – auf der Straße durch die Proteste der Holzmann-Arbeiter, die ihren Ausdruck fanden in den Kommentarspalten der Zeitungen. "Raubtierkapitalismus, Casinokapitalismus, Bankenmacht" - diese Begriffe hatten Hochkonjunktur.

Die Holzmann-Debatte legte Zeugnis ab von der Stimmung, die sich in Deutschland gebildet hatte – eine antikapitalistische Stimmung, die die Konzerne als Problem identifizierte und von Rot-Grün erwartete, den kaltschnäuzigen Konzernchefs das Handwerk zu legen.

Schröder selbst war es, der dann gegen die Prinzipien der eigene Politik der Neue Mitte und der Schröder-Blair-Papier handelte. Getrieben von dem massiven Aufschrei in der Gesellschaft und dem Aufstand der Holzmann-Arbeiter griff Schröder zu der Maßnahme die er ein halbes Jahr zuvor nach als Teufelswerk verpönt hatte: Staatsintervention. Eine staatliche Finanzspritze rettet den Holzmann-Konzern.

Die Reaktionen könnten unterschiedlicher nicht sein: Die Arbeiter, nicht nur von Holzmann sind hocherfreut – genau das hatten sie von einer SPD-Regierung erwartet. Tage nach der Holzmann-Rettung prasselten Anfragen von Betrieben ein, die auch staatlich Hilfe erhalten wollten.

Die "Gerhard, Gerhard"-Rufe der Holzmann-Arbeiter waren im Kern "Zugabe, Zugabe"-Rufe. Wenn die Regierung im Falle von Holzmann gegen die Konzerne Politik machen kann, dann soll sie das bitteschön auch woanders tun – das war die Erwartung von Arbeitern, eine Erwartung, die die SPD enorm unter Druck setzt.

Ganz anders die Reaktion der Bosse. Von der Wirtschaftswoche bis zum Handelsblatt, vom BDI bis zum DIHT – Empörung allerorten. "Holzmann muß ein Einzelfall bleiben" – so beschworen die Bosse die Regierung. Das englische Wirtschaftsmagazin Economist schrieb über einen "wirren Schröder", der vom richtigen Pfad der "Neuen Mitte" abweicht.

Der im Schatten von Holzmann stattfindende Parteitag der SPD, der zum Showdown mit der SPD-Linken werden sollte, mutierte zur einer Veranstaltung, bei der es an verbalen Zugeständnissen an "soziale Gerechtigkeit" nur so strotzte. "Wenig Blair, viel Lafontaine" – das war das Fazit der Süddeutschen Zeitung über den Parteitag.

Die Regierung hatte sich stabilisiert – aber nicht, wie erhofft, mit einem Rechtskurs, sondern mit Zugeständnissen an das überwältigende Bedürfnis nach sozialer Gerechtigkeit.

CDU-Krise

Die CDU-Spendenaffäre stellte die politischen Verhältnisse in Deutschland wiederum auf den Kopf. Je tiefer die CDU im Spendensumpf versank, desto mehr konnte sich Rot-Grün aus der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit stehlen.

Die Umfragewerte für die SPD stiegen – nicht etwa weil die SPD ihre Wähler auf breiter Front zurückgewinnen konnte, sondern weil CDU-Wähler durch die Spendenaffäre zutiefst verunsichert waren. Bei einer Spiegel-Umfrage sagten 73%, die neue SPD-Popularität beruhe nicht "auf eigenen Verdiensten"

Tatächlich gab die Politik, die die SPD im Windschatten der CDU-Krise machte, keinen Anlaß für Zufriedenheit. Die SPD-Rechte bereitete, diesmal unter der Federführung von Hans Eichel, ohne große ideologische Begleitmusik in der Praxis eine Weiterführung der durch das Sparpaket begonnenen Politik vor.

Eichels Finanzministerium produzierte eine Steuerreform, die in den Wirtschaftsmagazinen als "die neoliberale Revolution" gefeiert wurde. Drastische Senkung der Unternehmenssteuern, Steuerbefreiung für den Verkauf von Aktienpaketen – die Liste der Geschenke an die Bosse ist lang. Gleichzeitig wurden die Privatisierung- und Börsengangspläne von ehemaligen Staatsbetrieben wie der Bahn, der Telekom und der Post vorangetrieben.

Diese Maßnahmen waren maßgeschneidert für die Bedürfnisse des deutschen Kapitals, daß sich auf dem Weltmarkt einem heftigen Konkurrenzdruck von seiten ausländischer, vor allem amerikanischer Konzerne ausgesetzt sieht. Die Übernahme von Mannesmann durch den britischen Vodaphone-Konzern hatte die deutschen Chefetagen aufgewühlt – sie verlangten von der Regierung mehr Entlastung.

Disziplinierung

Schröder benutzte seine durch Holzmann neugewonnene Autorität (er hatte mit dem Parteitag den SPD-Vorsitz übernommen) und das Schreckgespenst eines erneuten Umfrageabsturzes der SPD, um unter der Parole "Einheit" erst die SPD, und dann über das Bündnis für Arbeit die Gewerkschaften zu disziplinieren.

Das hatte tiefgreifende Konsequenzen für die Tarifrunde 2000. Erst nahm die IG BCE der IG Metall die Tarifführerschaft ab, indem sie abweichend von der Norm den ersten Abschluß der neuen Tarifrunde zustandebrachte.

Der Abschluß führte zu Freude bei den Bossen: Obwohl alle Prognosen deutliche Gewinnsteigerungen vorhersagen, werden die Arbeiter nicht an den Früchten des Aufschwungs beteiligt. Die Lohnerhöhung war mager, gestreckt auf zwei Jahre. Der Tarifabschluß kam, ohne daß es Warnstreiks gegeben hat, "des Kanzlers liebster Gewerkschafter" (Financial Times Deutschland über den IG BCE-Chef Hubertus Schmoldt) hatte seine Arbeit getan.

Noch größer war die Freude bei den Bossen, als die IG Metall trotz heftigen Säbelrasseln überraschend einen Abschluß fand, bevor ein einziger Warnstreik stattfand. Der IG Metall-Abschluß hat eine Laufzeit von zwei Jahren und liegt im Gesamtpaket noch unter dem IG BCE-Abschluß.

Vorausgegangen waren mehrere Vier-Augen-Gespräche von Klaus Zwickel und Gerhard Schröder. Der IG Metall-Abschluß wurde zu recht von der Wirtschaftspresse als "selbstorganisierte Niederlage Zwickels" abgefeiert.

Die gefürchtete Tarifrunde 2000 in Kernsektionen der Industrie durch Schröders persönliche Intervention abgewendet (bei Drucklegung dieses Magazins waren die Verhandlungen im Öffentlichen Dienst noch nicht beendet), ein Sack voll Steuergeschenke bekommen – die Bosse zeigten sich vorerst zufrieden. Das Editorial des Wirtschaftsmagazins Impulse zieht Bilanz

"Wer erinnert sich nicht an die ersten Monate nach dem Wahlerfolg, als die Kamarilla der roten Kapitalismus-Kritiker von Lafontaine bis Dressler am Kanzler vorbeidrängte und de facto die Regierungsgeschäfte in die Hand nahm. Sie wollten 2,4 Millionen Unternehmer zu Scheinselbständigen abstempeln. Sie wollten … den Arbeitgebern das Geschäft kaputt machen. Und sie wollten eine Steuerreform, die den Mittelstand weiter unter dem Joch der weltweit höchsten Steuerlast hätte schwitzen lassen. Höhepunkt der Tragödie: Zum Jahreswechsel 1999 rafften sich in Impulse 17 Wirtschaftsverbände, hinter denen 1,5 Millionen Unternehmer standen, zum Protest gegen die rot-grünen Horrorgesetze auf - der größte Unternehmeraufstand, den es je gab. Jetzt, anderthalb Jahre später mag die Steuerreform noch immer verbesserungsdürftig sein. Dennoch ist sie die größte Steuerentlastung, die je eine Bundesregierung zustande gebracht hat. Vor allem schaffte es Schröder, Schwung in jede öffentliche Diskussion zu bringen, wie die längst überfällige Modernisierung der bräsigen deutschen Bedenkenträgergesellschaft gelingen kann."

Widersprüche

Die SPD im Umfragehoch, die CDU desorientiert – an der Oberfläche hat es den Anschein, daß die stürmischen Zeiten für der Regierung beendet sind. Die SPD nutzte die anfangende Erholung der Wirtschaft, um mit aggressiver "Der Aufschwung ist da"-Rhetorik die öffentliche Meinung auf ihre Seite zu ziehen und sich an den Mainstream der allgemeinen Interneteuphorie ranzuhängen.

Doch der oberflächliche Eindruck täuscht – alle Faktoren, die zur Achterbahnfahrt der SPD im vergangenen Jahr führten, sind noch vorhanden und teilweise verstärkt. Diese Regierung ist eingeklemmt zwischen Bossen, die getrieben von der starken US-Konkurrenz zur "Aufholjagd auf die US-Wirtschaft" blasen und einer Stimmung für Umverteilung und sozialer Gerechtigkeit in breiten Teilen der Bevölkerung. Diese Druck von oben und von unten führt unweigerlich zu enormen Reibungen im linken Lager.

Druck von oben: Die Zufriedenheit der Bosse mit der Regierung war nur von kurzer Dauer. In den deutschen Chefetagen hat sich, ermuntert von Schröders und Eichels Politik, daß Gefühl breitgemacht: Diese Regierung kann man bewegen. Wo Eichels den kleinen Finger gegeben hat fordern sie die ganze Hand.

Der BDI und der DIHT fordern lautstark eine weitere Absenkung des Spitzensteuersatzes, die Institutionalisierung von Ostdeutschland als Billigstandort und ein radikalen Umbau des Bildungs- und Sozialsystems.

Einige Kostproben: Auf einer Tagung zu Ostdeutschland sprachen führende Ökonomen das aus, was die Bosse seit Jahren fordern. Ostdeutschland brauche "eine neue Schocktherapie". Notwendig seien Löhne, die unter den Tarifvereinbarungen bleiben. Die Gehälter im öffentlichen dienst müßten ebenfalls entsprechend gekürzt werden.

Aufgrund des "hohen, durch Subventionen finanzierten Anspruchniveaus" hätten sich die Ostdeutschen "aus dem Markt katapultiert".

Beispiel Bildung: Die Herren aus den Chefetagen mischen sich wie seit langem nicht mehr in die Bildungspolitik ein. Studiengebühren, Drittmittelfinanzierung, kürzere Studienzeiten und leistungsbezogene Bezahlung der Professoren sind die Stichworte unter denen "mehr Wettbewerb im Bildungssystem" gefordert wird.

Sie wollen einmal mehr die katastrophale Situation an den Hochschulen durch Markt, Wettbewerb und Konkurrenz lösen werden. Doch hinter den verschiedenen neoliberalen Maßnahmen geht es einzig und allein darum, die Hochschulen noch mehr als bisher zu einem reinen "Zulieferbetrieb" für die Wirtschaft zu machen.

Ludwig Kronthaler, Uni-Kanzler der Münchner TU, spricht aus wo die Reise hingehen soll: "Wie Bereichsleiter in der Industrie" müssen die Dekane künftig konkurrieren. Seine Hochschule will Kronthaler "nach Art eines Konzernes" führen. Der Spiegel beschreibt, wie sich dieses Konzept auf die Hochschulen in Holland auswirkte: "Die Dozenten haben ihre akademische Freiheit verloren, die in ein straffes Pensum eingebundenen Studierenden haben kaum mehr Spielraum zur persönlichen Entfaltung." Leistungsdruck, Konkurrenz, Selektion, Egoismus und Entqualifizierung sind die Merkmale der "modernen" Uni nach dem Geschmack der Wirtschaftsbosse.

Worum es den Bossen geht, erklärt Stefan Baron, Chefredakteur der Wirtschaftswoche: "Die Berufsbildung steht an der Pforte zur Menschwerdung. Der Weg zum idealen Menschen führt über den brauchbaren Menschen."

Der Druck der Bosse auf die Regierung wird im Zuge der Verschärfung des weltweiten Wettbewerbs eher zunehmen.

Druck von unten: Die Stimmung, die im Sommer 1999 die Debatte um soziale Gerechtigkeit bestimmt hat und direkt zu Schröders Eingreifen bei der Holzmannn-Krise geführt hat, ist ungebrochen. Die Skrupellosigkeit der Konzerne zusammen mit der Praxis der Regierung hat zu etwas geführt, was eine Umfrage des rechten Allensbach Instituts als "weitverbreitete antikapitalistische Ressentiments" bezeichnete.

Hier einige der Umfrage-Ergebnisse:

Leistet der vermögende Teil der Bevölkerung einen ausreichenden Beitrag für das Gemeinwohl?

Nein: 70% (Unter SPD-Anhängern: 76%)

Sind die Löhne in Deutschland generell zu hoch?

Nein: 66%

Ist die Sozialhilfe zu hoch?

Nein: 45%

Finden Sie, es sollte bei uns möglich sein, daß einer zehn Millionen Mark im Jahr verdient...

...als Aktonär...?

Das ist zu viel: 56%

...als Industrieunternehmer/Fabrikant?..

Das ist zu viel: 58%

Elisabeth Noelle-Neumann, Chefin des konservativen Instituts für Demoskopie Allensbach, die die Umfrage durchführte, zieht das Fazit: "So deutlich habe ich noch nie gesehen, wie groß der Meinungsunterschied zwischen Elite und Bevölkerung ist. Daß die Leute so stark das Gefühl artikulieren, sie würden ausgenommen und die Grenze sei erreicht, das hätte ich unter gar keinen Umständen vermutet...Die Reichen geraten als Wutobjekt ins Visier, offensichtlich stellvertretend für das unheimliche Phantom der Globalisierung". Ob bei Steuern, Löhnen oder Renten - die Vorstellungen der Elite stoßen im Volk "auf eiserne Abwehr."

In das selbe Horn stößt eine Spiegel-Umfrage von Ende April. Die Frage war "Hans Eichel erwartet in diesem Jahr zusätzliche Milliardenbeträge in zweistelliger Höhe durch die Versteigerung von Handy-Lizenzen. Wofür soll das Geld eingesetzt werden?"

Das Ergebnis: Eine glatte Mehrheit von 44% will, daß die Zusatzeinnahmen für "mehr Bildung und Soziales" ausgegeben werden.

Das ist ein Beleg dafür, daß der Aufschwung selber die Regierung weiter unter Druck setzt, weil das Totschlagargument "Die Kassen sind leer" an Schärfe verliert.

Wie sich diese Stimmung in Bewegung umsetzten kann, haben wir beim Lehrer-Streik in Berlin gesehen. Stinksauer auf die Kürzungspolitik des schwarz-roten Senats streikten 20.000 Lehrer und wurden dabei von 40.000 demonstrierenden Schülern und Eltern unterstützt. Der Streik war wegen dem Beamtenstatus vieler Lehrer illegal und die Medienhetze groß. Umso politischer war die Stimmung. Die Forderung nach mehr Geld für Bildung verband sich mit einer harten Kritik an der Bildungspolitik der SPD. Arbeiter und Schüler, alt und jung, mischten sich in einer gegenseitigen Befruchtung von Erfahrung und Enthusiasmus. Es war ein "französisches Gefühl" in Berlin.

Einige Stimmungsbilder: "Ihr denkt nur an Geld und nicht an Uns." (Auf einem Schülerplakat)

"Wir haben heute gezeigt, das mündige Staatsbürger auch das Recht auf Widerstand haben. Das war Sozialstunde Live." (Klaus, Berliner Lehrer auf der Demo)

Hier hatte sich eine tiefgreifende linke Stimmung in eine Perspektive des aktiven Widerstands umgesetzt. Der amerikanischen Zeitung Herald Tribune ist das nicht entgangen: Sie titelte mit Berlin: Geteilte Staat und zeigte ein Bild des Mauerfalls 1989 und ein Bild von der Lehrerdemo, als Zeichen einer zunehmenden sozialen Polarisierung in der Hauptstadt.

Das der Streik der Berliner Lehrer keine Eintagsfliege war, zeigt die Ankündigung der GEW Hamburg es dem Berliner Vorbild nachzumachen, und Anfang Juli zu streiken. Es bildet sich eine breite Opposition gegen die Bildungsoffensive der Bosse und der Regierung: Von den Lehrern über das studentische Aktionsbündnis gegen Studiengebühren bis zum Schülerdemos.

Der Druck von unten auf die Regierung ist Ergebnis einer tiefverwurzelten antikapitalistischen Stimmung. Diese Stimmung wird nicht morgen vorbei sein, denn sie ist eine Reaktion auf jahrelange neoliberale Politik. Die Probleme , die sich daraus für die Regierung ergeben, die gegen diese Stimmung Politik macht, sind vielfältig, und reichen von massenhaften Wahlabstentionismus vonbis zu Kämpfen gegen die Regierungspolitik.

Die Neue Mitte: Die SPD versucht, die Widersprüche, in denen sie gefangen ist, nach rechts aufzulösen. Der Erholung der Wirtschaft hat den Druck auf die Regierung nicht verringert. Die Bosse drängen heftig auf einen Generalangriff gegen Sozialstaat und Arbeiterrechte. Doch die antikapitalistische-Stimmung, die wir bei den Holzmann-Protesten gesehen haben, ist ungebrochen.

Was tun? Die Antwort von Rot-Grün: Den Bossen nachkommen und den Druck von unten mit einer ideologischen Offensive versuchen einzudämmen. Was wir momentan erleben ist die fröhliche Auferstehung des Schröder-Blair-Papiers – jetzt als Schröder-Blair.com.

Rot-Grün versucht den Neustart der Neuen Mitte ausgerechnet in einem Moment, in dem die Modernisierer der europäischen Sozialdemokratie herbe Niederlagen erleiden. Tony Blair, Mitnamensgeber des scxhröder-Blair-Paiers mußte eine vernichtende Niederlage bei der Bürgermeisterwahl in London hinnehmen. In Italien verlor die stetig nach rechts gehende Regeirung D’Alema die Mehrheit. In Frankreich zeigen sich die Grenzen des Jospin-Modells "Links reden - rechts handeln", die Regierung wird regelrecht von unten gejagt.

Doch davon lassen sich die SPD-Modernisierer nicht schrecken. Ausgerechnet unter dem Vorsitz von Rudolph Scharping beginnt in der SPD eine Debatte um ein neues Grundsatzprogramm.

Das Fazit des Wirtschaftswissenschaftlers Meinhard Miegel nach den ersten Äußerungen von Scharping und NRW-ministerpräsident Clement zum neuen Programm: "Der Vereinigungsparteitag von SPD und CDU ist offenbar nicht mehr fern".

Tatsächlich geht es beim neuen Programm darum, soziale Gerechtigkeit nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch über Bord zu werfen. "Gerechtigkeit ist kein Lazarettwagen für Schwache", so Scharping. Die "Teilhabegerechtigkeit" muß vor der "Verteilungsgerechtigkeit" stehen.

Soll heißen: Für soziale Gerechtigkeit ist nicht mehr der "verteilende" Staat zuständig, sondern die Aktienmärkte, an denen jeder "teilhaben" kann.

Noch weiter als Scharping geht NRW-Ministerpräsident Clement, "dessen Ausführungen über weite Strecken dem Schröder-Blair-Papier ähnelten", wie die Süddeutsche Zeitung schreibt. Eine "verordnete Gleichheit" lehnt Clement ab, eine "begrenzte Ungleichheit im Ergebnis" können individuelle und gesellschaftliche Kräfte freisetzen.

Noch weiter an der Schraube dreht Wirtschaftsminister Müller in einem Interview im Hamburger Abendblatt: "Wir haben in den vergangenen 20 Jahren viel zu bequem gelebt. Wir müssen dieses Land aufrütteln....Der Grundsatz heißt: Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied. Bislang heiß die Devise: Kümmere dich nicht, der Staat wird es schon richten".

Den Millionen von den Angriffen Betroffenen wird als Ausgleich die Vision des Internetzeitalters vor die Nase gehängt – sie können ja ein kleines Internetunternehmen gründen.

Gewerkschaften

Die Gewerkschaften sollen in das Projekt "Neue Mitte" eingebunden werden. Die Gewerkschaftsspitze und die SPD-Führung sind eng miteinander verzahnt. Die ideologische Vereinnahmung der Gewerkschaftsführung durch die SPD-Modernisierer soll gewährleisten, daß dem Widerstand gegen rot-grünem Politik für die Bosse die Hände gebunden bleiben.

Tatsächlich änderte die Gewerkschaftsführung nach der Tarifrunde 2000 drastisch ihre Tonlage. Klaus Zwickel redete von Aktienbeteiligungen statt Lohnkampf, sein Stellvertreter Peters, linker Hoffnungsträger der IG Metall, empfahl die Aufhebung des Flächentarifvertrages für den Internet-Bereich. Die Vorstöße der Gewerkschaftsgführung nach rechts gipfelte im Vorschlag von DGB-Chef Schulte, die Tarifverträge bis zur 50-Stunden-Woche hoch zu flexibilisieren. Seine Begründung: "Die new economy macht ein umdenken erforderlich"

Doch die "New Economy" löst die sozialen Widersprüche nicht im Ansatz – weder in den USA, noch in Europa. Für die überwältigende Mehrheit der Menschen bedeutet die momentane Umstrukturierung des Kapitalismus Angriffe auf die Tarifverträge, Entlassungen, Angriff auf den Sozialstaat, wie in Bildung. Was nützt es von 3% Wachstum in der Zeitung zu lesen, wenn effektiv 3% weniger in der Tüte sind? Was soll ein Pfleger im ostdeutschen öffentlichen Dienst, der auf 70% Westlohnniveau gedrückt werden soll, denken, wenn Rot-Grün ihm sagt, er könnte ja ein Internetunternehmen gründen (wo gerade die ersten IT-Unternehmen Pleite gehen)?.

Beispiel Bankensektor: In den nächsten 10 Jahren werden 140.000 Entlassungen (HBV-Info) durch neue Technik und Rationalisierung erwartet. Die Fusion von Deutscher und Dresdner Bank scheiterte, die Dresdner Bank machte 800 Mio. Miese und entläßt 5.000 Leute.

Ebensowenig bricht die "New economy" die Krisentendenz des Kapitalismus. Der international berüchtige Großspekulant George Soros zog sich kürzlich aus dem Handel mit Aktien zurück. Begründung: "Zu risikoreich".

Das sind die Konturen der wirtschaftlichen Erholung: Sie geht einher mit Entlassungen, Druck auf Löhnen und Betriebsschließungen. Ein Aufschwung, in dem "Jobwunder" so aussehen, daß breite Teile der Arbeiterklasse in schlecht bezahlte und schlecht abgesicherte Mc Jobs gedrängt werden. Gut für die Statistik – schlecht für die Menschen.

Ein Aufschwung, der nicht integriert (wie in 50’ern und 60’ern) sondern radikalisiert und "weitverbreitete antikapitalistische Ressentiments" hervorbringt und "Shareholder-Value-Mentalität" zum Schimpfwort macht.

Kurzum: Ein Aufschwung, der die Probleme von Rot-Grün nicht löst, weil er keine neuen Spielräume für Reformen eröffnet. Der Druck der Bosse auf rapiden Sozialabbau bleibt bestehen, schließlich befinden sie sich erst am Anfang der "Aufholjagd zur US-Wirtschaft". Gerne wird von Wirtschaftswissenschaftlern das Bild bemüht, Europa hänge 10 Jahre hinter USA hinbterher. Für die Bosse heißt das: 10 Jahre Sozialabbau im Zeitraffer durchziehen – und Rot-Grün soll es für sie machen

Ablösungstendenzen

Schon jetzt führt der rot-grüne Kursschwenk nach Rechts zu Brüchen und Ablösungstendenzen im reformistischen Lager. Unter der Oberfläche gärt es.

SPD: Schröder hat es geschickt geschafft, die linke Opposition in der Partei spätestens seit der Holzmann-Rettung ruhig zu halten. Aber wie lange wird es gut gehen? Mit der Offensive Clements und Scharpings wird der Burgfrieden in der SPD vom rechten Flügel aufgekündigt. Die Linke scheint momentan überrollt: "Ohnmacht und Unfähigkeit" registriert der Fraktionslinke Michael Müller. "Viele haben zwar ein schlechtes Gefühl, aber sie machen es mit"

Der Spiegel kommentiert treffend: "Noch befindet sich die notorisch unruhige SPD, die sich allenfalls periodisch in ihrer jüngeren Geschichte zu einem Kanzlerwahlverein machen ließ, in einer Art Schockstarre. Doch die könnte, wie Fraktionschef Struck schwant, schon in dieser Woche enden: "Nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen wird es wieder lebendig werden."

So meidet die SPD-Spitze bis jetzt daß von der CDU aufgebrachte Thema "Abschaffung des Asylrechts" wie der Teufel das Weihwasser. Nicht aus humanitären Gründen – Schily würde das Asylrecht lieber heute als morgen abschaffen. Den wahren Grund nennt Fraktionschef Struck: "Die Debatte würde die Partei zerreißen".

Auch beim Thema Spitzensteuersatz zeigt sich Drahtseilakt, den die SPD-Führung vollzieht.. Die Süddeutsche Zeitung schreibt: "Es gibt eine bessere Alternative als den Spitzensteuersatz zu senken, wovon hauptsächlich die Minderheit der Topverdiener profitiert.... Die Sozialdemokraten würden aus Spargründen eher die reichen als die eigene Klientel bedienen. Ärger bei den Genossen wäre programmiert".

Obwohl die SPD-Linke in den letzten Monaten vieles geschluckt hat, ist die momentane Parteieinheit brüchig. Je weiter sich die Modernisierer vorwagen, desto mehr steigt die Chance von Konflikten.

Vor allem, weil die "Neue Mitte" aufgrund der Stimmung in der Bevölkerung keine rauschenden Wahlsiege ermöglicht, wie die NRW-Wahl gezeigt hat. Das auftauchen der FDP als strategische Option gießt nochmals Öl ins Feuer der Strategiedebatte.

Gewerkschaften: Schon wenige Wochen nach dem Tarifabschluß der IG Metall war die von Zwickel propagierte Eintracht dahin. Mehrere Tarifbezirke kritisierten den Abschluß als zu niedrig. Das IG Metall-Vorstandsmitglied Horst Schmidthenner griff Zwickel persönlich an.

Diese Streit an der Spitze reflektiert die Stimmung an der Basis. Vor allen in Bereichen des öffentlichen Dienstes wie Gesundheit und Bildung, die auch unter Rot-Grün Sparmaßnahmen unterworfen sind, ist die Wut groß.

Ein Ausdruck dieser gegen rot-grün gerichteten Wut ist die "Her mit dem schönen Leben"-Kampagne der Gewerkschaftsjugenden. In ihrem Aufruf schreiben sie:

"Frankfurt/Main am 19. September 1998: 40.000 Jugendliche demonstrierten für einen Politikwechsel. Eine Woche später hatten wir eine neue Bundesregierung....Nach über einem Jahr Rot/Grün ziehen wir jetzt Bilanz: Trotz kleinerer und richtiger Reformen ist der von uns geforderte, grundsätzlichen Politikwechsel ausgeblieben. Auch unter dieser Regierung bestimmen die Interessen der Superreichen, Banken und Großkonzerne den Kurs...

Auch unter einer rot-grünen Regierung spielen die Interessen der Menschen gegenüber wirtschaftlichen Fragen bestenfalls eine Statistenrolle. Der Terror der Ökonomie diktiert alles. Wir werden "fit gemacht" für die Zukunft, in der eine Gesellschaft nur noch als Erfolgsfaktor im internationalen wirtschaftlichen Konkurrenzkampf gesehen wird. Wirtschaftspolitische Anforderungen regieren unser ganzes leben. Bildung und Ausbildung, Arbeits- und Lebensorganisation und gesellschaftliche Wertvorstellungen.

Wir wollen selbst bestimmen, wie wir leben und arbeiten. Unternehmensinteressen sollen nicht unsere Zukunft bestimmen. In einer breiten Zukunftsdebatte halten wir mit unseren Vorstellungen von einer gerechten und offenen Gesellschaft dagegen. Solidarität, soziale Gerechtigkeit und das Recht auf die Gestaltung des eigenen Lebens müssen die zukünftigen Richtlinien sein...

.Deshalb muß die Politik wieder vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Menschen sind wichtiger als Bilanzen und Aktienkurse. Für diese Wahrheit müssen wir Druck machen. Her mit dem schönen Leben!"

Was der Gewerkschaftsjugendaufruf ausdrückt ist eine tiefe Enttäuschung mit Rot-Grün gepaart mit antikapitalistischen Ressentiments.

Es bleibt nicht nur beim politischen Widerspruch sondern gibt eine konkrete Aktionsperspektive: Am 23.September wird die "Her mit dem schönen Leben"- mit einem Aktionstag in Berlin enden, zu dem auch die "Erfurter Erklärung" mobilisieren will. Die Erfurter Erklärung organisierte die "Aufstehen für eine andere Politik"-Demonstration am 20.Juni 1998, zu der 60.000 Teilnehmer kamen.

Der "Her mit dem schönen Leben"-Aufruf ist der schärfste Ausdruck eines Gärungsprozeßes innerhalb der Gewerkschaften, der auf hohen ideologischen Niveau verläuft. Kein Wunder: Das erste Mal seit Anfang der 80’er richtet sich die Wut der Arbeiter gegen die "eigene Bundesregierung". Die ideologischen Hürden, die für den Widerstand sind höher, da die Arbeiter organisatorisch und vor allem ideologisch von ihrer eigenen Führung zurückgehalten werden. 1996 standen die Gewerkschaften an der Spitze der Anti-Kohl-Bewegung, jetzt halten sie Schröder den rücken frei. Das heißt: Bis es zu verallgemeinerten Kämpfen kommt, kann es dauern, wenn es zu verallgemeinerten kämpfen kommt, kann es knallen. Die lokalen Auseinandersetzung, wie der Lehrerstreik in Berlin, weisen deshalb auch ein viel höheres Maß an Politisierung und ideologischer Verallgemeinerung auf als vergleichbare Kämpfe unter Kohl.

Auch die Gewerkschaftsführung wird es angesichts der massiven Erwartungen ihrer Basis schwer finden, den ganzen Weg der Modernisiereroffensive mitzugehen. An verschiedenen Punkt werden sie gezwungen sein, zumindest verbal gegen die Regierung zu opponieren, um nicht das Vertrauen ihrer Basis zu verlieren. Das gilt insbesondere, wenn wie in den USA, Kernerrungenschaften der Arbeiterbewegung angegriffen werden.

Konflikte können auch oben, in der Gewerkschaftsführung und zwischen Gewerkschaftsführung und SPD entstehen. Diese Konflikte können Öffnungen für den Widerstand von unten bieten.

Jugendliche und die Grünen: Die Grünen sind mit Abstand am härtesten vom Vertrauensverlust in die Bundesregierung betroffen. Hatten die Grünen Anfang der 90’er noch ein Dauerabo auf die Stimmen der Jungwähler lief die Jugend in den letzten Wahlen in Scharen davon – allein in NRW verloren sie bei den Jungwählern 10%.

War vor zwei Jahren noch die FDP das Synonym für eine opportunistische, machtgeile Umfallerpartei, so haben die Grünen jetzt diesen Titel inne. Wie Siegmund Gottlieb vom Bayrischen Rundfunk kommentierte: "Diese Partei nimmt dankbar jede Demütigung entgegen, um an die Fleischtöpfe der Macht zu kommen".

Der Untergang der Grünen wird oft erklärt durch eine fortschreitende Entpolitisierung der Jugend, die der Grünen ihre Wählerbasis entziehen würde. Doch die zuletzt veröffentlichten Jugendstudien sprechen eine ganz andere Sprache.

Rot-grün war für Jugendliche eine große Enttäuschung und hat nur kosmetische Änderungen hervorgebracht. Deshalb verbinden viele Jugendliche "mit dem Begriff die Landschaft von Parteien, Gremien, parlamentarischen Ritualen, politisch-administrativen Apparaten, den sie wenig vertrauen."

Das heißt nicht, das die Jugend heute unpolitisch sei, meint der Verfasser der Studie, Arthur Fischer: "Sie engagieren sich auf eine ganz andere Art und Weise - auch politisch, wobei sie das Wort Politik meiden, wie der Teufel das Weihwasser...Die Rebellion findet doch statt. Es ist eine Form von Rebellion, wenn ich sage, diese Leute, die regieren, kümmern mich nicht mehr, ich mache meine eigenen Geschichten... es bilden sich neue Formen von Teilnahme an gesellschaftlichen Leben und an Politik".

Zum selben Schluß kommt eine in der FAZ veröffentlichte Studie: "Im Gegensatz zu den Institutionen der "etablieren Politik" genießen Organisationen "alternativer Politik" unter der Mehrheit der Befragten großes Vertrauen. Umwelt-, Friedens-, oder Entwicklungsinitiativen, vor allem solche auf lokaler Ebene, hätten von fast allen jugendlichen hohe Sympathiewerte erhalten. Entgegen der weitverbreiteten Vorurteile über die konsum- und Spaßgeneration zeigt die Jugend ein starkes Bewußtsein für gesellschaftliche Verantwortung".

Hier findet sich die Begründung, der scharenweisen Flucht der Jungwähler von den Parteien, insbesondere den Grünen. Es gibt eine tiefe Ablehnung des herrschenden Politikapparates.

Die Grünen sind ein Teil dieses Apparates geworden – obwohl sie institutionalisierte Protestpartei und Fundamentalopposition angefangen haben.

Vor dem gleichen Problem steht die PDS. In dem Maße wie sie eine "Normalisierung" anstrebt, nämlich die Integration in den herrschenden Parteiapparat, in dem Maße stößt sie jugendliche von sich ab. Dazu kommt, das die PDS von einer antikapitalistischen Position zu einer Umarmung der Marktwirtschaft umschwenkt, und somit noch nicht einmal die antikapitalistische Proteststimmung unter Jugendlichen kanalisieren kann. In den Thesen der PDS-Programmkommision steht, daß "der Markt, der trotz seiner sozialen Kälte, ökologischen Blindheit und zerstörerischen Wirkung zugleich ein unverzichtbarer dezentraler Selektionsmechanismus ist."

Ein möglicher Profiteur der Ablösung der Jugend vom politischen System sind die Nazis. Deswegen versuchen die Nazis auch, auf dem Ticket "Systemopposition" aufzubauen. Die Wahl von Haider, der als "Systemkritiker" auftrat, hat das Potential aufgezeigt, was die Sitaution den Nazis bietet. Momentan sieht es nicht so aus, als wären die Nazis in deutschland in der Lage, dieses Potential zu nutzen. Die Gefahr ist aber nicht gebannt.

Der Gärungsprozeß unter Rot.Grün findet in der Jugend starken Ausdruck. Die Bilanz der Regierung, und ínsbesondere das erbärmliche Abschneiden der Grünen darin, hat noch einmal die teifgreifende Skepsis genährt, die viele Jugendliche dem politischen System gegenüberbringen. Die Offenheit für eine wirkliche linke Alternative ist groß.

Fazit

  1. Die rot-grüne Regierung ist ihren Umfragewerten zum Trotz in einer schwierigen Situation. Sie ist eingeklemmt zwischen dem Druck von oben und von unten. Den Druck von oben stellen die Bosse dar, die im Rahmen ihrer Aufholjagd zur US-Wirtschaft ihre Forderungen intensivieren.
    Der Druck von unten ist die latent vorhandene antikapitalistische Stimmung in der Bevölkerung, die sich in pro-Umverteilungs und pro soziale Gerechtigkeit-Forderungen äußert und sporadisch in Aktivität und Kämpfen. Arbeiter in Deutschland haben die geballte Faust in der Tasche – manchmal kommt sie hervor, oft genug wird sie ideologisch und organisatorisch von der eigenen Führung zurückgehalten.
  2. Das neugestartete ideologische Projekt der "Neuen Mitte", letztes Jahr von der Regierung nach heftigen Widerstand auf Eis gelegt, wird diese unbequeme Situation noch verschärfen. Die "Neue Mitte", wie sie in der Programmdiskussion der SPD auftaucht, ist die ideologische Begleitmusik für heftige Angriffe auf Arbeitnehmerrechte und Sozialstaat. Da diese Angriffe direkt gegen die Unterstützer dieser Regierung gerichtet sind, werden in Gesellschaft, Parteien und Gewerkschaften Widersprüche auf ideologischer und politischer Ebene aufbrechen. Der Versuch, diese Bruchlinien durch eine Ideologie der "Aktiengesellschaft" zu kitten, ist höchst brüchig, da die Lebensrealität der meisten Menschen nicht dazu passt.
  3. Die rot-grüne Politik für die Bosse hat einen Ablösungsprozeß zwischen Führung und Basis des linken Lagers ausgelöst. Betroffen davon sind am heftigsten die Grünen, der die Jugend davonläuft. Das ist keine verallgemeinerte Politikverdrossenheit, sondern die Quittung für die grünen Verrat an den Hoffnungen ihrer Basis. Teile dieser Jugendlichen sind angezogen von der Perspektive eines aktiven antikapitalistischen Widerstands. Sie haben, um beim obigen Bild zu bleiben, die geballte Faust in der Luft.
    Derselbe Prozeß läuft, allerdings langsamer, in den Gewerkschaften und der SPD. Konflikte in der SPD sind vorprogrammiert. In den Gewerkschaften führt die Anpassung der Gewerkschaftsführung an die "Neue Mitte" zu einem Rumoren an der Gewerkschaftsbasis, welches zu einem vernehmbaren Grollen werden kann. Die Ehe der Gewerkschaften mit der SPD ist brüchiger als es scheint.
    Ein Nebenprodukt des SPD-Rechtskurs ist die Krise der PDS. Da die einzige politische Perspektive der PDS die Koalitionsfähigkeit mit der SPD ist, wird die PDS durch den Versuch der Anpassung immer weiter nach rechts gezogen, sehr zum mißfallen der Basis. Der PDS-Parteitag zeigte am deutlichsten die Brüche zwischen Führung und Basis.

Seattle: Pol für den Ablösungsprozeß

Die momentane Situation bietet große Chancen für den Aufbau einer Alternative zu Rot-Grün. Wie so eine Alternative aussehen kann, haben wir bei den Protesten gegen die WTO-Konferenz in Seattle gesehen.

Seattle bedeutete die Fusion der Radikalität der Jugendlichen mit der Klassenwut der Arbeiter. Umwelt- und Dritte Welt-Aktivisten gingen gemeinsam auf die Straße mit Arbeitern, die die Unterseite des US-Booms gesehen hatten. Es kam zu einer gegenseitigen Befruchtung von Jugendradikalisierung und Klassenpolarisierung.

Seattle ist das Modell und der Pol, an dem sich erfolgreicher antikapitalistischer Widerstand orientieren muß.

Seattle kann dem Ablösungsprozeß von der rot-grünen Regierung eine Richtung geben. Sowohl im Linksreformismus als auch im linksradikalem spektrum führt Seattle zu Verwerfungen.

Die Linksreformisten sind ermutigt, dem vergeblichen Warten auf die Regierung, begründet mit dem Argument "Es gibt keine Alternative", eigene Aktivität und Projekte gegenüberzustellen. Die Organisation "ATTAC - für die Besteuerung der internationalen Finanzströme" ist ein Beispiel dafür, genau wie die Aktivität von Umwelt- und 3.Welt-Gruppen wie WEED und peoples global action.

Im linksradikalen bzw. autonomen Lager hat Seattle erhebliche Sprengkraft, weil das Ereignis selbst überhaupt nicht zum tiefverwurzelten Pessimismus paßt, der sich im Niedergang der Autonomen aufgebaut hat.

Die Sprengkraft macht die politische Einschätzung der EXPO-NO!-Aktivisten deutlich , nachzulesen in der EXPO-NO!-Mobilisierungszeitung."Am 30. November konnten viele Blockaden, dezentrale Störaktionen und gezielte Sabotage die Eröffnung der mächtigen Welthandelsorganisation WTO in Seattle verhindern. Das war keine Revolution, die normale Ausbeutungs- und Unterdrückungspolitik lief weiter.

Aber dennoch änderte sich eines. Das Ohnmachtsgefühl, zu dem auch große Teile politischer Bewegungen mit dem Gejammer des "Das wird sowieso nichts" oder der Anbiederungsstrategie des Mitmachens statt Angreifens beigetragen hatten, war weg".

Diese Einschätzung zeigt vor allem eines: Seattle hat Schockwellen in die deutsche Linke gesandt.

Eine Spaltung tut sich auf zwischen optimistischen, von Seattle inspirierten Aktivisten und der "alten" vor-seattle Linken, die sich in Frust und Dauertrauer zurückzieht.

Diese Spaltung ist gesund, weil sie bedeutet, daß ein Kern von Aktivisten aus der selbstgeschaffenen Isolation ausbricht und Kontakt aufnimmt zu den Hunderttausenden, die zutiefst enttäuscht sind von Rot-Grün.

Zweite Halbzeit

Wie läßt sich die Situation für den Aufbau einer neuen Linken nutzen? Der Ablösungsprozeß von Rot-Grün kombiniert mit der Perspektive des Widerstands von Seattle bietet ungeheures Potential. Ein sich ständig neuauffüllendes Reservoir von Menschen, die aktiv nach einer Alternative zur kapitalistischen Politik von Rot-Grün suchen, steht eine "alte" Linke gegenüber, die aufgrund von Sektierertum und Pessimismus (Autonome) oder Opportunismus (parlamentarische Linke) völlig unfähig ist, dieses Potential auszunützen.

Die Kluft zwischen objektiver Lage und subjektiver Schwäche der Linken muß überbrückt werden. Das Mittel dafür ist die Einheitsfront.

Einheitsfront heißt, daß die aus der Jugendradikalisierung entstehenden antikapitalistischen Milieus Kontakt aufnehmen müssen zu den Arbeitern, die im Begriff sind, sich von Rot-Grün abzulösen. Konkret hieß das zum Beispiel, in der EXPO-NO-Kampagne die Argumente vorzubringen, warum Arbeiter sich nicht über die EXPO freuen sollten. Unser Geld wird für den Schaukasten der Konzerne ausgegeben – dieselben Konzerne, die seit Jahren versuchen, den Lebensstandard der Arbeiter zu drücken.

Genauso sollten sich Antikapitalisten in die Gewerkschaftsjugendkampagne "Her mit dem schönen Leben" werfen – um zu mobilisieren, aber auch um gegen Illusionen in Rot-Grün und für eine sozialistische Alternative zum Markt zu argumentieren.

Wir brauchen soviel gemeinsame Aktion für Reformen wie möglich, aber dabei ebenfalls soviel harte Debatte über revolutionäre Strategie wie möglich. Das eine schließt das andere nicht aus, im Gegenteil – beides ist nötig für den Erfolg im Aufbau einer neuen Linken.

Die erste Halbzeit von Rot-Grün hat große Chancen eröffnet, in der zweiten Halbzeit müssen wir sie nutzen!


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