Sozialismus von unten
Magazin für antikapitalistische
Debatte & Kritik

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SOZIALISMUS VON UNTEN

[Startseite]    [Nr. 8, 1997 (erste Serie)]    [Stichwortregister]



Werner Halbauer

Vor 80 Jahren:
Die Februarrevolution 1917 in Rußland





Inhalt

Teil 1 - Die Februarrevolution 1917 in Rußland (SVU 8/97)
· Der erste Weltkrieg
· Die fünf Tage des Aufstandes
· Der Sowjet und die Doppelherrschaft


Teil 2 - Der Kampf zwischen den Machtzentren (SVU 9/97)
· Lenins Kampf um die Partei
· Die Kräfteverhältnisse in den Sowjets
· Der Juli-Aufstand





Teil I


Wenn über die russische Revolution von 1917 geschrieben wird, ist meistens von der Oktoberrevolution die Rede. Aber die russische Revolution von 1917 bestand aus zwei Revolutionen, der Revolution gegen den Zarismus und seinen Krieg im Februar/März 1917 und der sozialistischen Revolution im Oktober/November 1917. Es wird auch immer wieder behauptet, daß die russische Revolution ein Putsch der Bolschewik! (revolutionärer Flügel der russischen Sozialdemokratie) gewesen sei und daß Lenins Konzept (und diejenigen anderer Sozialisten) mehr oder weniger direkt zur stalinistischen Diktatur geführt habe, mit dem unsäglichen Leid für Millionen Menschen und zur Diskreditierung des Sozialismus überhaupt.
Doch wenn man die Ereignisse, die zur Oktoberrevolution führen sollten, genauer betrachtet, erweist sich, daß die Revolution eine Massenerhebung der Arbeiter und Bauern gegen den Zarismus und die mit diesem verbündete Bourgeoisie war.

Das Rußland der revolutionären Epoche wies mehrere Eigentümliebkeiten auf. Die russische Bevölkerung bestand vorwiegend aus Bauern (l50 Millionen) und eine im Vergleich dazu geringen Anzahl von Arbeitern (etwa 10 Millionen). Auf dem Lande herrschten die feudalen Großgrundbesitzer, die Industrie zu jener Zeit war in wenigen Großstädten konzentriert, zu einem großen Teil in (40%) ausländischer Hand und gleichzeitig hochmodern. Das russische Bürgertum war ökonomisch und politisch sehr schwach. Die gesamte Entwicklung Rußlands war im Vergleich zu den anderen großen Nationen zurückgeblieben.

Das politische System Rußlands war von feudalen Strukturen geprägt mit dem absolutistisch herrschenden Zaren an der Spitze. Die Leibeigenschaft wurde erst 1861 abgeschafft. "Das Handwerk hatte, in Rußland keine Zeit gehabt, sich vom Ackerbau zu trennen, he.wahre vielmehr den Charakter der Heimarbeit." [1] Ohne die Entwicklung des Handwerkertums in den Städten blichen die zahlreichen Aufstände auf dem Lande erfolglos, ganz im Gegenteil wurde durch diese Niederlagen die feudale Struktur nur befestigt, da der Adel seinen Schutz beim Militarismus des Zaren suchte. Natürlich konnte Rußland nicht seine Augen vor der Entwicklung der Industrie verschließen, aber dabei spielte das Bürgertum als eigenständige Kraft nur eine untergeordnete Rolle. Die fortschrittlichen Teile des Adels wurden auch Kapitalisten, aber sie blieben auch Feudalherren, die aus Angst vor dem Verlust ihres Grundbesitzes politische Reformen scheuten. So auch 1905, als die Revolution der Arbeiter und Bauern dem Zarismus die Macht streitig machte, aber blutig unterdrückt wurde. 1905 lag die Führung der Revolution bei der Arbeiterklasse, die sich in demokratisch gewählten Arbeiterräten (Sowjets) organisiert hatte.

Zwischen der Revolution 1905 und dem Beginn des 1. Weltkrieges nahm die russische Industrie eine rasante Entwicklung, die Industrieproduktion verdoppelte steh. Dabei entstanden hochmoderne und riesige Fabriken:

"Kleine Betriebe mit einer Arbeiterzahl bis 100 Mann umfaßten im Jahre 1914 in den Vereinigten Staaten 35% der gesamten Industriearbeiter, in Rußland nur 17,8%. Bei einem ungefähr gleichen spezifischen Gewicht der mittleren und größeren Unternehmen mit WO bis 1000 Arbeitern betrugen in den Vereinigten Staaten Riesenunternehmen mit über 1000 Arbeitern 17,8% der gesamten Arbeiterzahl, in Rußland 41,4%."[2]

Dies zeigt, daß es in Rußland zu Beginn des Ersten Weltkrieges nur äußerst schwach entwickelte Mittelschichten gab, die eine politische Basis für bürgerliche Reformen hätte sein können, wobei noch hinzukommt, daß die wichtigsten Industrie- , Bank- und Transportunternehmen in der Hand ausländischer Besitzer waren, die keinerlei Interesse hatten, bürgerliche Reformen voranzutreiben, weil man die Arbeiter unter der Knute des Zarismus doch; hervorragend ausbeuten konnte. Doch insgesamt war die Wirtschaftskraft Rußlands viel schwächer als die des Gegners im 1.Weltkrieg, Deutschland. Dem russischen Bürgertum saß noch der Schrecken der Revolution von 1905 in den Knochen. Daher scharte es noch enger um den Zarismus.

Die schnelle Entwicklung der Industrie in dieser Periode führte dazu, daß die Arbeiter trotz des seit 1906 anhaltenden Terrors des Zarismus langsam wieder Selbstvertrauen gewannen und ah 1912 wieder vermehrt für wirtschaftliche und politische Forderungen in den Streik traten: [3]

Jahr Teilnehmer an polit. Streiks (in 1000)

1903
1904
1905
1906
1907
1908
1909
1910
1911
1912
1913
1914(1. Hj.)    
1915
1916
1917 {Jan.-Feb.)     

87*
25*
1843
651
540
93
8
4
8
550
502
1059
156
310
575

* einschließlich ökonomischer Streiks, wobei diese überwogen.

Kurz vor Kriegsbeginn im August 1914 befanden sich fast alle Betriebe Petersburgs im Streik oder waren ausgesperrt. Die Arbeiter lieferten sich erbitterte Straßenschlacblen und Barrikadenkämpfe mit den Kosaken und der Polizei. Überall waren rote Fahnen zu sehen. Diese Zunahme von Streiks und politischer Unrast wurde jedoch durch den Eintritt Rußlands in den 1. Weltkrieg an der Seile Englands und Frankreichs gegen Deutschland unterbrochen.

Der Erste Weltkrieg

Der 1. Wellkrieg war im wesentlichen ein Krieg um die Weltherrschaft. Rußland war wirtschaftlich als zurückgebliebenes Land natürlich in keiner Weise den Konkurrenten gewachsen. Aber der Zarismus versprach sich vom Krieg an der Seite Englands und Frankreichs, daß diese grünes Licht für die Knebelung und Plünderung von Ländern in der Region gaben, die noch schwächer waren (Türkei, Persien). Die Bolschewiki waren die einzige Krafl, die sich in Rußland dem nationalistischen Kriegstaumel entgegenstellten. Die Menschewiki (rechte Sozialdemokraten), die Sozialrevolutionäre (kleinbürgerliche Bauernpartei) und das Bürgertum scharten sich um die Kriegsziele des Zarismus; die Forderungen nach Demokratie, Agrarreform und die Forderungen der Arbeiterbewegung hatten hinter den Kriegszielen zurückzutreten.

Für den Ausgang des Krieges im Kapitalismus ist vor allem die Wirtschaftskraft der kriegführenden Länder entscheidend. Es ist vor allem eine Materialschlacht.

"Der Mangel an Kampfvorräten, das Fehlen von Fabriken für deren Hersteilung, das dünne Eisenbahnnetz für deren Zufuhr, übersetzen die Rückständigkeit Kußlands in die allgemein verständliche Sprache der Niederlagen, die die russischen Nationalliberalen daran erinnern, daß ihre Ahnen die bürgerliche Revolution nicht vollendet hatten..." [4]

So sollte es auch nicht lange dauern, bis nach einer Reihe von Niederlagen 1915 der allgemeine Rückzug der russischen Armee begann, verbunden mit der Suche nach den Schuldigen im Inneren (Juden, Bolschewiki und Leute mit deutschem Namen). Auf einer Ministersitzung am 4. August 1915 beurteilte der Kriegsminister, General Poliwanow, die Lage folgen dermaßen: "Ich vertraue auf die unwegsamen Flächen, auf die uferlosen Sumpfe und auf die Gnade des heiligen Nikolaus Mirlikjinski, des Schutzpatrons des heiligen Rußland."[5] Und eine Woche später äußerte der General Russki vor dem gleichen Gremium: "Die modernen Forderungen der Kriegstechnik gehen über unsere Kraft."[6] Bis dahin waren über 15 Millionen Menschen, vor allem Bauern, zum Kriegsdienst ausgehoben, 5,5 Millionen waren tot, verwundet oder gefangen. Die mangelnde Wirtschaftskraft versuchte man durch Menschenmaterial zu kompensieren, was aber nur dazu führte, daß die Produktion von Nahrungsmitteln und Kriegstechnik im Hinterland geschwächt wurde (40% der Arbeiter Petersburgs waren zur Armee eingezogen, womit man sich auch eine Schwächung der linken Kräfte in den Betrieben erhoffte; aber gleichzeitig wurde damit erreicht, daß die Parolen der fortschrittlichen Arbeiter die Front erreichten).

Sozialismus oder Kapitalismus:
Die zwei Konzeptionen der russischen Revolution


Die Menschewiki folgten dem mechanistischen Dogma, daß der Sturz des Feudalismus nur im Bündnis zwischen Bourgeoisie und Arbeitern stattfinden könne, wogegen die Bolschewiki sahen, daß die russische Bourgeoisie zu eng mit dem Feudaladel verbunden war und von daher unfähig sein mußte, den Feudalismus zu stürzen und eine bürgerliche Revolution durchzuführen. Nur ein Bündnis zwischen Arbeitern und Bauern könne den reaktionären Feudalismus stürzen.

Des weiteren gingen die Menschewiki und wie auch viele Bolschewiki davon aus, daß eine sozialistische Gesellschaft erst dann errichtet werden könne, wenn eine lange Phase der kapitalistischen Entwicklung durchlaufen sei. Lenin und Trotzki, die anerkannten Führer der Arbeiterklasse Rußlands, die sich zu jener Zeit noch im Exil befanden, hielten dies für vermeidbar, "wenn die Arbeiterklasse in einer Anzahl von fortgeschrittenen Ländern die Macht errang, wenn sie den rückständigeren mit allen verfügbaren Mitteln zu Hilfe eilte." [19] Und dies war keine unrealistische Hoffnung, wenn man die revolutionäre Flut berücksichtigt, die Europa am Ausgang des Ersten Weltkriegs erschütterte.

Die Lage war aussichtslos und nur ein sofortiger Austritt aus dem Weltkrieg hätte den Zarismus vorläufig retten können. Doch die Gier nach Eroberungen war stärker, und die Kapitalisten verdienten auch nicht schlecht am Krieg, einmal abgesehen davon, daß die Unruhen der Massen nach einer Kapitulation Rußlands verstärkt wieder aufflammen würden. So griff statt dessen Fatalismus und Intrige unter den Herrschenden um sich. Minister und Generäle wurden des Verrats beschuldigt und ausgewechselt. Der Generalstab und die Duma (ein Parlament ohne Befugnisse) bezichtigten den Zarenhof des Deutschtums (die Zarin war eine deutsche Fürstin), waren aber, wie schon früher, zu feige, den Zaren zu stürzen. In den zweieinhalb Jahren des Krieges hatte Rußland vier Premierminister, fünf Innenminister, vier Agrarminister und drei Kriegsminister verschlissen, was die tiefe Verunsicherung und politische Spaltung der Herrschenden deutlich macht.

Und auch das Bündnis mit Frankreich und England war ein Bündnis zwischen Herrn und Sklaven: "England hat geschworen, standhaft durchzuhatten bis zum fetzten Blutstropfen ... des russischen Soldaten" [7], ging die Rede in den Offizierskasinos. Die Soldaten an der Front fingen an, dies für sich zu übersetzen: "Alle sind bereit bis zum letzten Tropfen ... meines Blutes zu kämpfen." [8] Die zaristische Geheimpolizei Ochrana meldete Oktober 1916:

"Die Armee im Hinterland und ganz besonders an der Front ist voll von Elementen, die zum Teil fähig sind, eine aktive Kraft des Aufstandes zu werden, während die anderen nur imstande wären, die Unterdrückungsarbeit zu verweigern." [9]

An der Front kam es zu Unruhen, und es kam vor, daß ganze Truppenteile geschlossen desertierten. Offiziere, die sich den Soldaten entgegenstellten, mußten um ihr Leben fürchten. In der Flotte waren Meutereien keine Seltenheit.
Je länger der Krieg dauerte, um so schlechter wurde die Versorgungslage auch in den Städten, und die Inflation stieg immer weiter. Das Streikverbot wurde kaum noch befolgt. Die Polizeitruppen gingen mit äußerster Brutalität gegen die Streikenden vor, viele Arbeiter wurden erschossen, mit dem Resultat, daß die Empörung wuchs. Es kam zu Solidaritätsstreiks, und die Streiks wurden zunehmend politischer. Die Arbeiter und Soldaten forderten sofortigen Frieden, Brot, Land und das allgemeine Wahlrecht. Soldaten, die zur Unterstützung der Polizei herangezogen wurden, fingen vereinzelt an, nicht die Arbeiter zu beschießen, sondern die Polizei.
"Die oppositionellen Stimmungen haben einen enormen Umfang angenommen, wie sie. ihn in der erwähnten Wirrnisperiode (gemeint ist die Revolution von 1905) in den breiten Massen bei weitem nicht erreicht hatten" [10] so der Polizeidireklor von Petersburg im November 1916.

Bei all diesen Widerstandsaktionen war die Organisation der Bolschewiki von entscheidender Bedeutung, denn sie gab der Bewegung die politische Orientierung. Die Ochrana versuchte zwar immer wieder, der führenden Mitglieder der Bolschewiki habhaft zu werden und ihre Organisation zu zerschlagen, aber unter großen Opfern gelang es immer wieder, die Organisation am Leben zu erhalten und Flugblätter herauszubringen. Die Bolschewiki hatten zu jener Zeit nur einige Tausend Mitglieder, aber sie hatten einen großen Einfluß in den Großbetrieben und in den Arbeitervierteln.

Angesichts der verzweifelten Lage wurde es Anfang 1917 immer klarer, daß einzelne Streiks und Demonstrationen nicht mehr ausreichen. Immer mehr reifte der Gedanke, daß nur gemeinsame Aktionen des Proletariats eine Änderung bringen könnte.

Am 23. Februar 1917 war der internationale Frauentag, zu dem die üblichen sozialdemokratischen Demonstrationen stattfinden sollten. In den Arbeiterkomitees wurde mit Unterstützung der Bolschewiki beschlossen, auf Streiks zu verzichten, da dies angesichts der Verzweiflung der Bevölkerung zum offenen Zusammenstoß und zum Aufstand führen könnte. Die Einschätzung war, daß die Petersburg stationierten Soldaten noch nicht voll auf der Seile der Arbeiter standen. Keiner sollte ahnen, daß dieser Tag dennoch zum ersten Tag der Revolution werden sollte.

Entgegen dem Beschluß des Arbeiterkomitees traten am nächsten Morgen die Textilarbeiterinnen einiger Fabriken in den Ausstand und schickten Delegationen zu den Metallbetrieben von Petersburg. Sie forderten, ihren Streik zu unterstützen. Daraufhin revidierte das Arbeiterkomitee seinen Beschluß: wenn schon Massenstreik, dann alle. Den letzten Anstoß für diese Aktion der Textilarbeiterinnen gab wohl, daß am 9. Februar Brotkarten eingeführt wurden und die Schlangen der Frauen vor den Läden immer länger wurden, während die Reichen weiter in Luxus schwelgten. Ungefähr 90.000 waren in den Streik getreten. Die Wut entlud sich in Demonstrationen, Straßenversammlungen und Zusammenstößen mit der Polizei. Die Frauen forderten von der Stadtduma Brot, viele forderten das Ende des Krieges und den Rücktritt des Zaren.

Die fünf Tage des Aufstands

Am nächsten Tag, den 24 Februar nahm die Bewegung noch zu, und mehr als die Hälfte aller Arbeiter von Petersburg trat in den Streik. Es kam wieder zu Massenversammlungen, Demonstrationen und Zusammenstößen mit der Polizei. Diesmal wurden auch berittene Soldaten eingesetzt, die versuchten, die Demonstrationen aufzuhalten. Während die Demonstranten sich mit der Polizei erbitterte Gefechte lieferten, versuchten sie die Soldaten durch Gespräche auf ihre Seite zu ziehen. Die Parole und Hoffnung der Demonstranten war; "Die Soldaten werden nicht schießen".

Am 25. Februar weiteten sich die Demonstrationen und Streiks noch einmal aus.

Und wieder kam es zu Angriffen der Polizei. Als die berittene Polizei einen Redner niederschoß, wird aus der Demonstration zurückgeschossen. Einige Soldaten eröffneten das Feuer auf die Polizei und vertrieben diese, die meisten Soldaten verhielten sich neutral und abwartend. Immer wieder umzingelten die Demonstranten, vor allem die Frauen, viele von ihnen mit Soldaten verheiratet, die Soldaten und forderten diese auf. sich den Arbeitern anzuschließen. Für den nächsten Tag, einem Sonntag, erläßt der Zar den Befehl, den Aufstand mit Militär niederzuschlagen. Die Polizei zeigt sich nicht mehr offen, sondern schießt aus dem Hinterhalt auf die Demonstranten. Auch eine Ausbildungseinheit für Unteroffiziere eröffnet das Feuer mit Maschinengewehren. Über 40 Demonstranten werden erschossen. Aber die Demonstranten sind entschlossen und lassen sich nicht von den Straßen vertreiben. "Im Volke hat sich der Glaube festgesetzt die Revolution habe begonnen, der Erfolg sei den Massen sicher, die Regierung ohnmächtig, die Bewegung zu unterdrücken, da die Truppen auf Seiten des Volkes ständen, der entscheidende Sieg sei nahe, weil die Truppen heute oder morgen offen auf die Seite der revolutionären Streitkräfte übergehen würden..." [11], beschrieb ein Polizeispitzel die Stimmung. Und am Abend dieses Tages meuterten die Soldaten des Lehrregiments, deren Offiziersschüler auf die Arbeiter geschossen hatten.

Am Montagmorgen entschieden sich die Arbeiterversammlungen mit Mehrheit, den Kampf fortzuführen. Noch während sie berieten, erreichte sie die Nachricht, daß mehrere Kasernen zur Revolution übergelaufen waren. Nun waren die Arbeiter bewaffnet, und im Laufe dieses und des nächsten Tages überzeugten sie die restlichen Kasernen, stürmten die verhassten Polizeireviere und besetzten alle wichtigen öffentlichen Einrichtungen, befreiten die Gefangenen aus den Gefängnissen und verhafteten die Feinde. Der Aufstand, von dem niemand gesprochen hatte, und den niemand geplant hatte, hatte gesiegt. Das restliche Rußland folgte auf dem Fuß.

Schon während des Aufstandes gab es in den Betrieben Wahlen zu Arbeiterräten, die Form der Selbstorganisation, die die Arbeiter schon 1905 herausgebildet hatten. Nach der siegreichen Revolution bildeten sich überall im Lande Arbeiter- und Soldatenräte, die den Petersburger Sowjet als ihre Regierung betrachteten.

Der Sowjet und die Doppelherrschaft

Die politische Führung des Sowjets lag bei den Menschewiki und den Sozialrevolutionären und nicht bei denen, die die Revolution geführt hatten.

"Es ist natürlich, daß in den Februarkämpfen die bolschewistischen Arbeiter an erster Stelle standen. Aber mit dem Sieg verändert sich die Lage... Zu den Wahlen für die Organe und Institutionen der siegreichen Revolution werden aufgerufen und strömen herbei unermeßlich breitere Massen, als jene, die mit der Waffe in der Hand gekämpft haben... Die überwältigende Mehrzahl der Arbeiter, Menschewiki, Sozialrevolutionäre und Parteilose unterstützte die Bolschewiki im Augenblick des unmittelbaren Zusammenpralls mit dem Zarismus. Jedoch begriff nur eine kleine Minderheit der Arbeiter, worin sich die Bolschewiki von den anderen sozialistischen Parteien unterschieden... Die Arbeiter wählten Sozialisten, das heißt solche, die nicht nur gegen die Monarchie, sondern auch gegen die Bourgeoisie waren. Sie machten fast keinen Unterschied zwischen den drei sozialistischen Parteien. Da aber die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre über unvergleichlich größere Intellektuellen-Kader verfügten, ... ergaben die Wahlen, sogar in Fabriken und Betrieben, ein großes Übergewicht der Menschewiki und Sozialrevolutionäre." [12]

Darüber hinaus begünstigte der Delegiertenschlüssel für die Sowjets die rückständigeren Elemente, die Soldaten, die Bauern in Uniform: Auf jede Kompanie kam ein Delegierter (oft Offiziere, die sich noch rechtzeitig den Mantel der Revolution umgehangen hatten), während die Arbeiter einen Delegierten pro tausend Arbeiter stellten. Und die Kleinbetriebe waren besser repräsentiert als die Großbetriebe.

Der linke Menschewik Suchanow schrieb am 28. Februar: "Die wirkliche Macht war in seinen [des Sowjets] Händen, soweit es überhaupt eine Autorität gab... Format gehörte die Macht dem Dumakomitee... Aber dies nur auf dem Papier... in diesen entscheidenden Stunden der Erschütterung war es absolut unfähig zu regieren."[13]

Aber der Sowjet gab sofort und aus freien Stücken seine Macht an die Bourgeoisie ab, ja diese mußte von den Führern des Sowjets bedrängt werden, die Machl zu übernehmen. "Die gemäßigten Parteien haben die Revolution nicht nur nicht gewollt, sie haben sich vor ihr einfach gefürchtet" [14], schrieb der Präsident der Duma, Rodsjanko. Sie wollten nicht die Macht von Gnaden der Arbeiter und Soldaten, weil sie nicht die Zuversicht hatten, die gewaltige Macht der Arbeiter und Bauern in einer Konterrevolution zu zerschlagen. Zur Machtübergabe des Sowjets, deren Führung in den Händen der Menschewiki und Sozialrevolutionäre lag, an die Bourgeoisie schrieb Suchanow:

"Das Volk neigte keinesfalls zur Duma; es interessierte sich nicht für sie und dachte nicht daran, sie - politisch oder technisch - zum Zentrum der Bewegung zu machen ... Miljukow [der Führer der Bürgerlichen] begriff vortrefflich, daß es vollkommen in der Macht des Exekutivkomitees [des Sowjets] stand, der Regierung der Großbourgeoisie die Gewalt zu übertragen oder sie ihr nicht zu übertragen." [l5]

Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die die demokratische Revolution die Jahre zuvor, wenn auch halbherzig, gepredigt hatten, lehnten die Machtübernahme ab. Suchanow: "Eine Macht, die den Zarismus ablöst, kann nur eine bürgerliche Macht sein... Anderenfalls wird der Umsturz mißlingen und die Revolution zugrunde gehen." [16]

Die Menschewiki wollten die Revolution retten, indem sie die Macht an die Gegner der Revolution aushändigten. (!) Sie stellten nur eine Bedingung: Propagandafreiheit für die linken Parteien. Die Beendigung des Krieges, Agrarreform oder Achtstundentag usw. waren für sie kein Thema. Statt dessen versprachen sie der Bourgeoisie, die Massen zu zähmen. Dieser Verrat an den Massen fand natürlich in Geheimverhandlungen statt.

So entstand eine Doppelherrschaft: auf der einen Seite die Provisorische Regierung unter der Führung der Bourgeoisie und der Großgrundbesitzer ohne jede wirkliche Autorität, an der Spitze Leute, die den Massen verhaßt waren, und auf der anderen Seite der Sowjet, der das Vertrauen der Massen genoß, dessen Führung aber die Massen hinterging.

"Es gab weitverbreitete Forderungen nach Frieden, Land und Brot unter den Massen. Die Regierung konnte und wollte diese nicht erfüllen. Und in diesem Klassenkampf war der Sowjet auf der Seite der Regierung, Er verkaufte die Sabotage der Regierung als die Verwirklichung des Programms, während er die Massen zur Ruhe und Loyalität aufforderte. Das heißt, der Sowjet kämpfte gegen das Volk und die Revolution und für die Politik der bürgerlichen Regierung." [17]

Dabei wußten die Kapitalisten, wie ohnmächtig sie waren: Der neue Kriegsminister Gutschow schrieb am 9. März, über die Regierung:

"...ihre Erlasse werden nur in soweit befolgt, als sie die Zustimmung des Sowjets haben... Der Sowjet kontrolliert die wichtigsten Elemente der wirklichen Macht, wie die Armee, die Eisenbahnen und Post- und Fernmeldewesen. Man kann rundweg sagen, daß die Provisorische Regierung nur so lange existiert, wie dies der Sowjet... zuläßt." [18]

Eine solche Doppelherrschaft ist notwendigerweise instabil und nur von vorübergehender Dauer: Entweder der Bourgeoisie gelingt es, die Macht in einer Konterrevolution vollständig an sich zu reißen oder die Massen ergreifen endgültig seihst die Macht, was dann schließlich im Oktober 1917 geschah.




Anmekrungen

1 Trotzki: "Die Geschichte der Russischen Revolution", Fischer Verlag, Frankfurt/Main, 1982, 1. Band, S. 16
2 ebenda, S. 19
3 ebenda, S. 38
4 Cliff: "Lenin". Pluto-Press, London 1976, Band 2, S. 25f s
5 Trotzki, a.a.O., S.26
6 ebenda, S. 26
7 ebenda. S. 27
8 ebenda, S. 27
9 ebenda, S. 29
10 ebenda, S. 46
11 ebenda. S. 106f.
12 Trotzki.a.a.O.,S. 149f
13 Cliff: "Lenin", a. a. 0., S. 86
14 ebenda., S. 146
15 ebenda. S. 148
16 ebenda, S. 148
17 Cliff: "Lenin".a,a.O.,S.94
18 ebenda, S. 94
19 D. Hallas: "Die Komintern", Frankfurt/Main. 1987. S. 39; vgl. auch: Lenin, Gesammelte Werke, Dietz-Verlag Ostberlin, 1974, Band 31, S. 232





 
SVU Nr.9 1997

Teil II

80 Jahre Russische Revolution

[
SVU 9/97 ]


Der Kampf zwischen den Machtzentren


Die Februarrevolution von 1917 brachte zwei Machtzentren hervor: den Sowjet der Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte mit den Menschewiki (Rechter Flügel der Sozialdemokratie) und den Sozialrevolutionären (Bauernpartei) auf der einen Seite und die provisorische Regierung der Bourgeoisie auf der anderen Seite (s.Teil 1, SVU Nr. 8). Die provisorische Regierung hatte bei den Arbeitern und Soldaten nur insoweit Autorität, als ihre Maßnahmen durch den Sowjet gebilligt wurden.
Die zwei Machtzentren waren Ausdruck der Klassenspaltung in Rußland: auf der einen Seite die Arbeiter, Soldaten (Bauern in Uniform) und die landlosen Bauern und auf der anderen Seite der Unternehmer und die Großgrundbesitzer. Doch diese Doppelherrschaft zwischen den Klassen ist notwendig instabil; entweder können die Reichen ihre Herrschaft wieder stabilisieren und die Sowjets entmachten oder umgekehrt. Und natürlich hatten die Bourgeoisie und die Großgrundbesitzer kein Interesse, den Erwartungen und Forderungen nach Frieden, Land und Brot nachzugeben.

Diese Forderungen aber standen im Zentrum der Februarrevolution. Es war klar, daß die Arbeiter vom Sowjet und der Regierung die Erfüllung ihrer sozialen Forderungen (Achtstundentag, bessere Versorgung), die Soldaten die Beendigung des Krieges und die landlosen Bauern eine Landreform mit der Verteilung des Großgrundbesitzes erwarteten. Angesichts der Kräfteverhältnisse im Lande hatte die Regierung keine Chance, ihre Absichten offen durchzusetzen; sie konnte nur darauf hoffen, die Arbeiter und Soldaten durch Täuschungsmanöver hinzuhalten und schließlich zu demoralisieren.
So weigerte sie sich, den Achtstundentag einzuführen mit dem Argument, daß alle Opfer bringen müßten, um die Revolution im Krieg gegen das reaktionäre deutsche Kaiserreich zu verteidigen. Natürlich ging es ihr nicht um die Verteidigung der Revolution, nichts haßte sie mehr, sondern um ihren Beuteanteil im Ersten Weltkrieg, waren doch die Chancen auf einen Sieg durch den Kriegseintritt Amerikas gestiegen. Darüber hinaus sei es die Sache des Sowjets, die Arbeiter zu beruhigen.
Noch bedrohlicher für die Regierung war die Frage des Grundeigentums. Um das Land zu beruhigen, verfügte der Acker-biiuminister Schingarcw die Bildung von lokalen Landkomitees, vorsieh tigerweise ohne deren Funktion und Aufgaben zu bestimmen. Die Bauern bildeten sich ein, diese müßten ihnen Land geben und die Gutsbesitzer, daß diese ihr Eigentum schützen müßten. Überhaupt versuchte die Regierung alle zentralen Fragen, die die Revolution aufgeworfen hatte, bis zu einer einzuberufenden Konstituierenden Versammlung und allgemeinen Wahlen zu vertagen, wobei sie tunlichst alles vermied, diese vorzubereiten. Sie hoffte auf für sie bessere Zeiten.

"Was am 27. Februar im Taurischen Palais unter dem Namen Exekutivkomitee den Sowjets der Arbeiterdeputierten entstanden war, hatte im wesentlichen wenig mit diesem Namen gemein. Der Sowjet der Arbeiterdeputierten von 1905, der Stammvater des Systems, war aus dem Generalstreik hervorgegangen. Er repräsentierte unmittelbar die Massen im Kampf. Die Auswahl der Personen vollzog sich im Kampf... Die Februarrevolution siegte, dank dem Aufstand der Regimenter, bevor noch die Arbeiter Sowjets geschaffen hatten. Das Exekutivkomitee bildete sich eigenmächtig vor dem Sowjet, unabhängig von den Betrieben und Regimentern, nach dem Siege der Revolution. Wir sehen hier die klassische Initiative der Radikalen, die beim revolutionären Kampfe abseits stehen, aber bereit sind, seine Früchte zu ernten." [l]

Während die Arbeiter und Soldaten noch auf der Straße kämpften und den Sieg der Revolution sicherten, eigneten sich die Führer der rechten Sozialdemokratie und der Sozialrevolutionäre und Offiziere in den Sowjets die Macht an, und indem sie dies unter den Symbolen der Revolution von 1905 taten, auch deren riesige Autorität.

"Wenn sich die Sache in Petrograd so verhielt, kann man sich leicht vorstellen, wie es in der Provinz aussah, wo der Sieg ganz ohne Kampf gekommen war." [2]

"Nichtsdestoweniger begannen die Meetings der Soldaten und Arbeiter (in Petersburg) schon seit dem 3. März vom Sowjet zu fordern, unverzüglich die Provisorische Regierung der liberalen Bourgeoisie zu beseitigen und die Macht selbst in die Hand zu nehmen... Aber diese Agitation brach bald ab: nicht nur deshalb, weil die Vaterlandsverteidiger (rechte Sozialdemokraten) sie scharf zurückwiesen; schlimmer war, daß die bolschewistische Führung in der ersten Märzhälfte sich faktisch vor dem Regime der Doppelherrschaft beugte." [3]

Die aus dem Exil in Sibirien zurückgekehrten Führer der Bolschewiki, Kamenew und Stalin, übernahmen im März die Führung der Bolschewiki und ihrer Zeitung, der Prawda. Als erstes stoppten sie die Agitation gegen die Fortsetzung des Krieges und schwenkten ebenfalls auf die Linie der Menschewiki ein, das Vaterland und die Regierung entschieden zu verteidigen,
"insofern sie gegen Reaktion und Kanterrevolution kämpft... Nicht das inhaltlose 'Nieder mit dem Krieg' ist unsere Losung. Unsere Losung ist - der Druck auf die Provisorische Regierung mit dem Ziele, sie zu zwingen ... mit einem Versuch hervorzutreten, alle kämpfenden Länder zur sofortigen Aufnahme von Friedensverhandlungen zu bewegen ... Bis dahin bleibt jeder auf seinem Kampfposten." [4]

Lenins Kampf um die Partei

Diese Formulierung unterschied sich in nichts von den Losungen der Führung der II. Sozialdemokratischen Internationale, die ihre Herrschenden in deren Kriegsanstrengungen unterstützt hatten. Demgegenüber halten Sozialisten wie Rosa Luxemburg und Lenin und die bolschewistische Partei immer betont: "Der Feind steht im eigenen Land" und der imperialistische Beuteteldzug der Herrschenden kann nur über deren Sturz beendet werden.

Dieser Kurswechsel stieß zwar auf den scharfen Protest von Parteimitgliedern, der Wyborger Bezirk von Petersburg forderte den Parteiausschluß von Stalin und Kamenew, aber die Parteiführung ging ihren Kurs der Annäherung an die Menschewiki und an die bürgerliche Regierung weiter. Auf der Parteikonferenz der Bolschewiki Ende März hielt Stalin ein Grundsatzreferat über die Haltung der Bolschewiki zur bürgerlichen Regierung, die von den meisten Delegierten geteilt wurde:

"Die Macht ist auf zwei Organe aufgeteilt, von denen aber keines die volle Macht innehat. Reibungen und Kampf zwischen ihnen bestehen und müssen bestehen. Die Rollen sind verteilt. Der Sowjet hat faktisch die Initiative revolutionärer Umgestaltung ergriffen. Der Sowjet ist der revolutionäre Führer des aufständischen Volkes, ein die Provisorische Regierung kontrollierendes Organ. Die Provisorische Regierung dagegen hat faktisch die Rolle des Befestigers jener Errungenschaften des revolutionären Volkes übernommen." [5]]

Und: "Sofern die Provisorische Regierung die Schritte der Revolution festigt, ist sie zu unterstützen; sofern sie konterrevolutionär ist, ist eine Unterstützung der Provisorischen Regierung unzulässig." [6]

Damit wird unterstellt, daß die Bourgeoisie nach der Durchsetzung des Kapitalismus revolutionär sein könnte. Diese Politik der bolschewistischen Führung bedeutete nichts anderes als die totale politische Auslieferung der Arbeiter und Bauern an die Interessen der Bourgeoisie, Damit noch nicht genug, befürwortete Stalin einen Vorschlag Zeretellis, des Führers der Menschewiki, die Partei der Menschewiki und der Bolschewiki zu vereinen. Es hätte bedeutet, die einzige Partei, die für ein Kriegsende und für radikale Bodenreform eintrat, zu liquidieren und die Initiative den konterrevolutionären Plänen der Bourgeoisie zu überlassen - in einer Situation, in der die Macht praktisch schon in den Händen der Räte lag. Diese Linie der Partei wurde praktisch in ganz Rußland von den lokalen Führern geteilt.

Dies war die Situation, als Lenin aus dem Exil in der Schweiz am 3. April nach Rußland zurückkehrte. Schon von Genf aus hatte Lenin in Briefen an die Partei gewarnt, daß er bereit sei, mit jedem zu brechen, der in den Fragen des Krieges, des Chauvinismus und des Versöhnlertums der Bourgeoisie Konzessionen machen sollte.[7] Am 6. März telegraphierte er nach Petersburg:
"Unsere Taktik: restloses Mißtrauen, keinerlei Unterstützung der neuen Regierung; Kerenski mißtrauen wir besonders (Kerenskis war der einzige 'Sozialist' in der Regierung); Bewaffnung des Proletariats die einzige Garantie; keine Annäherung an andere Parteien." [8] Und im Abschiedsbrief an die Schweizer Arbeiter erinnerte Lenin an die Position der Bolschewiki von 1915:

"Sollte die Revolution in Rußland eine republikanische Regierung an die Macht bringen, die den imperialistischen Krieg fortsetzen will, werden die Bolschewiki gegen die Verteidigung des republikanischen Vaterlandes sein." [9]

Und schon bei der Begrüßungsansprache auf dem Bahnhot' von Petrograd nahm er die Auseinandersetzung mit der Parteiführung auf, wie der Menschewik Suchanow beklagte:

"Die Agrarreform auf gesetzgehenden Wege schleuderte er ebenso weg wie die übrige feste Politik des Sowjets. Er verkündigte die organisierte Aneignung des Landes durch die Bauern, ahne auf irgendwelche Staatsmacht ...zu warten... Wir brauchen keine parlamentarische Republik, wir brauchen keine bürgerliche Demokratie, wir brauchen keinerlei Regierung außer den Sowjets der Arbeiter, Soldaten und Landarbeiterdeputierten!" [10]

Am 4. April unterstrich Lenin auf der gemeinsamen Konferenz der Bolschewiki und Menschewiki noch einmal seine Position in einem Thesenpapier, den sogenannten April-Thesen:

  • Nein zur "revolutionären Verteidigung", denn die bürgerliche Regierung betreibt einen imperialistischen Krieg
  • Übergang der Revolution von der ersten, bürgerlichen Phase zur zweiten, sozialistischen, welche die Macht in die Hände der Arbeiter und der ärmsten Sektionen der Bauern legen muß
  • Alle Macht den Räten, solange in Minderheil in den Sowjets, als Propaganda-Losung
  • Keinerlei Unterstützung der provisorischen Regierung; Forderung auf Verzicht von Annexionen
  • Konfiszierung allen Landes zur Verfügung der lokalen Landarbeiter- und Bauernsowjets
  • Kontrolle der Banken durch die Sowjets
  • Unbedingtes Recht der Völker Rußlands auf Lostrennung
  • Gründung einer neuen kommunistischen Internationale
  • Sofortige Hinberufung eines Parteitags der Bolschewiki zur Neubestimmung der Politik der Partei
  • Die Prawda griff Lenins Thesen an: "Lenins allgemeines Schema schein! uns insoweit inakzeptabel, als es von der Annahme ausgeht, daß die bürgerliche demokratische Revolution beendet ist und auf die unmittelbare Umwandlung dieser Revolution in eine sozialistische Revolution baut."

    In der Tat war auch Lenin bis 1917 davon ausgegangen, daß es in Rußland eine bürgerlich-demokratische Revolution unter der Führung der Arbeiter und Bauern geben wird, um den mittelalterlichen Zarismus zu stürzen und das Zeitalter des modernen Kapitalismus in Rußland einzuläuten. Aber Lenin war kein Dogmatiker; er sah, daß eine bürgerliche Demokratie unter Kontrolle der Arbeiter ein unlösbarer Widerspruch war: entweder die Arbeiter ergreifen die Macht oder sie werden entmachtet.
    Lenin konnte diese Auseinandersetzung in der Partei in außerordentlich kurzer Zeit für sich entscheiden. Bereits auf der Petrograder Parteikonferenz Mitte April gewann er, wenn auch knapp, die Mehrheit der Partei. Der Schlüssel dafür war die Kriegsfrage. Den Mitgliedern wurde klar, daß nur der Sturz der Provisorisehen Regierung und die Machtergreifung der Räte den Krieg beenden konnte. Damit hatte die Partei ihre Orientierungslosigkeit überwunden.

    Die Kräfteverhältnisse in den Sowjets

    Je langer die Provisorische Regierung den Krieg fortführte, desto mehr ging bei den Massen der Glaube daran verloren, daß die Regierung ernsthaft einen Friedensabschluß betreibt. Ihre Parole des revolutionären Verteidigungskrieges, die Stellung zu halten, bis es zum Friedensverlag kommt, wurde immer unglaubwürdiger. Die Soldaten an der Front verweigerten den Befehl, wenn die Kommandeure den Befehl zum Angriff gaben ("Wir halten die Stellung bis zum Frieden, aber nicht mehr"). Die Soldaten wurden immer mißtrauischer gegen ihre Kommandeure und Offiziere und Stück für Stück änderte sich die Zusammensetzung in den Soldatensowjets. Jeder erfolglose Versuch, die Disziplin wiederherzustellen, aber auch jedes abgerungene Zugeständnis stärkte das politische Bewußtsein und das Selbstvertrauen.

    Das gleiche Bild bot sich in der Frage der Agrarreform. Da die Regierung nichts unternahm, begannen die lokalen Sowjets die praktischen Dinge des Lebens selbst in die Hand zu nehmen, Land in Besitz zu nehmen und die öffentliche Verwaltung zu übernehmen, nahmen Verhaftungen von reaktionären Administratoren vor. Sie mischten sich in Wirtschaftskonflikte, Ernährungs- und Transportfragen ein und unter dem Druck der Arbeiter wurde der Achtstundentag eingeführt.

    Unter dem Einfluß der ständig anwachsenden Ernährungsschwierigkeiten und des Warenhungers griffen die Provinzsowjets zu Preisregulierungen, Ausfuhrverboten für bestimmte Gouvernements und zur Requisition von Vorräten. Dabei standen überall an der Spitze der Sowjets Sozialrevolutionäre und Menschewiki, die mit Entrüstung die bolschewistische Parole 'Alle Macht den Sowjets' ablehnten. Regierungssozialisten reisten in die Provinz, versuchten zu überreden, drohten, rechtfertigten sich vor der Bourgeoisie. Doch all das änderte das Kräfteverhältnis nicht.

    So übernahmen die Massen nach und nach die Parolen der Bolschewiki, traten des Lavierens der menschewistischen und Sozialrevolutionären Parteien überdrüssig, in Scharen in die bolschewistische Partei ein und wählten deren Mitglieder in die Sowjets. Diese Entwicklung wurde insbesondere dadurch beschleunigt, daß sich nur die bolschewistische Partei gegen die neue Juni-Offensive der Regierung an der Front stellte. So verzehnfachte sich von März bis Juni 1917 die Mitgliederzahl der Bolschewiki, z.B. im Wyborger Arbeiterbezirk von Petersburg von 500 auf 6.600 Mitglieder.

    Der Juli-Aufstand

    Die wirtschaftliche und soziale Lage war in Rußland im Juni unerträglich geworden. Die Kriegsausgaben im ersten Halbjahr 1917 waren auf über zehn Milliarden Rubel gestiegen, 1/7 des Nationalvermögens. Die Eisenindustrie hatte sich um 40 % und die Textilindustrie um 20 % verringert. Mehr und mehr Betriebe wurden geschlossen, weil die Regierung ihren Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkam, obwohl die Notenpresse der Regierung auf Hochtouren lief, was aber nur die Inflation ins Unermeßliche steigerte.
    Das Transportsystern war zusammengebrochen, es fehlte an Brennstoff und in Petersburg gab es Ende Juni nur noch Lebensrnittel Vorräte für 10 bis 15 Tage.
    Ein Memorandum des Gewerkschaftsverbandes der Lokomotivbrigaden an den Verkehrsminister lautete: "Wir erklären zum letztenmal: die Geduld hat eine Grenze. Weiter in solcher Lage zu leben, fehlt uns die Kraft" Das war eine Beschwerde nicht nur über Not und Hunger, sondern auch über Zweideutigkeit. Charakterlosigkeit, Betrug. Die Eingabe protestierte besonders zornig gegen "die an uns gerichteten endlosen Ermahnungen zur Bürgerpflicht und Enthaltsamkeit bei hungrigem Magen."

    So brodelte es im ganzen Lande, ganze Divisionen mußten an der Front wegen Meutereien aufgelöst werden, die Soldaten wollten nach Hause, um gegen den Hunger das Land zu bestellen; aber besonders explosiv war die Lage in den Betrieben und Kasernen von Petersburg, Kronstadt und in der baltischen Flotte. Die Forderung nach einem Sturz der provisorischen Regierung und der Machtergreifung des Sowjets wurde in Petersburg zur Kampflosung, um die aktuellen Probleme endlich zu lösen. Und die Kräfteverhältnisse in Petersburg beschrieb der Journalist Claude Anet gegenüber dem französischen Gesandten Anfang Juli so:

    "Das ist der Bezirk der großen Fabriken, der restlos den Bolschewiki gehört. Lenin und Trotzki walten dort wie die Herren."
    Im gleichen Bezirk befänden sich die Kasernen des Maschinengewehrregiments, das etwa zehntausend Mann und über tausend Maschinengewehre zähle: weder Sozialrevolutionäre noch Menschewiki hätten Zutritt zu den Kasernen des Regiments. Die übrigen Regimenter seien entweder bolschewistisch oder neutral. "Wollten Lenin und Trotzki Petrograd besetzen, wer wurde sie daran hindern?"

    Die Bolschewiki und die Leitung des Petersburger Sowjets aber versuchten alles, die Bewegung zurückzuhalten, da sie davon ausgingen, daß ein Aufstand in Petersburg weitgehend isoliert bleiben, und niedergeschlagen würde und daß selbst in Petersburg die verräterische Politik der Menschewiki und Sozialrevolutionäre noch nicht voll von den Massen durchschaut worden sei. Die Bolschewiki sandten pausenlos Aufrufe und Agitatoren in die Betriebe und Kasernen, um den drohenden Aufstand zurückzuhalten Aber nichts half. Schließlich brach am 3. Juli die bewaffnete Demonstration los. Die Regierungszeitung Iswestja schrieb:

    "Um 5 Uhr nachmittags traten bewaffnet hervor: das 1. Maschinengewehrregiment, Teile des Moskauer- des Grenadier- und des Pawlowski-Regiments. Ihnen schlössen sich Arbeiterhaufen an ... mit roten Bannern und Plakaten, die den Übergang der Macht an die Sowjets forderten. ... Die Truppenteile wählten eine Deputation, die dem Allrussischen Zentral-Exekutivkomitee (des Sowjets) ... folgende Forderungen überbrachte: Nieder mit den zehn bürgerlichen Ministern, alle Macht dem Sowjet, Einstellung der Offensive, Beschlagnahme der bürgerlichen Zeitungsdruckereien, Verstaatlichung von Grund und Boden, Produktionskontrolle."

    Die Teile von Regimentern und die Arbeiterhaufen waren in Wirklichkeit Regimenter und Betriebe vollzählig.

    Die Bolschewiki waren in einer schwierigen Lage. Die Demonstration war eine Tatsache, weitere Aufrufe, nicht hervorzutreten, waren nutzlos. So setzten sich die Bolschewiki an die Spitze der Demonstrationen, die über drei Tage dauerten, und versuchten erfolgreich, den vorzeitigen Aufstand zu verhindern, Das Ziel der Demonstrationen war das Taurische Palais, wo das Exekutivkomitee des Sowjets seinen Sitz hatte.

    Hunderttausende Demonstranten forderten die Übergabe der Macht an die Sowjets. Tscheidse, der das Sowjetsystem repräsentierte, und schon allein damit Kandidat für den Premierposten, suchte Militärkräfte gegen die Demonstranten. Die grandiose Bewegung für die Macht der Demokratie wurde von deren Führern als Überfall bewaffneter Banden auf die Demokratie erklärt.

    Schließlich traten die Petersburger Betriebe und Kasernen nach drei Tagen bewaffneter Demonstration gegen die Regierung erschöpft den Rückzug an. Die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre nutzten diesen Rückzug sofort, um eine massive Verfolgung der Bolschewiki und der Linken in den Sowjets zu beginnen, die mehrere Wochen anhält. Tausende werden verhaftet und Dutzende von reaktionären Offizieren ermordet. Doch landesweite Verfolgung der Bolschewiki macht deren Parolen erst landesweit bekannt und die einsetzende Reaktion und das sich erhebende Gesicht der Konterrevolution öffnen den Massen in der Provinz erst richtig die Augen über den Charakter der Provisorischen Regierung und deren Handlanger im Exekutivkomitee des Sowjets.




    Anmekrungen

    1 Leo Trotzki: Geschichte der russischen Revolution, Februarrevolution, Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 1982, S. 188
    2 ebenda, S. 189
    3 ebenda, S. 190
    4 ebenda, S. 248
    5 ebenda, S. 258
    6 ebenda, S. 259
    7 Tony Cliff; Lenin, Band 2, Pluto Press Limited, 1975, S. 112
    8 Leo Trotzki, a.a.O., S. 250
    9 ebenda, S. 252
    10 ebenda, S. 255



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